Crowning Glory oder die andere Seite des Spiegels

Von European-Cultural-News

Anlässlich der „Giboulées de la Marionnette“ im TJP in Straßburg präsentierte Colette Carrigan ihr Stück „Crowning Glory“. Als Friseurin Alice beginnt sie, alleine in ihrem Friseurladen, über das Leben in ihrem Salon zu philosophieren. Was Alice präsentiert, ist aber nicht großes, kopfzerbrechendes Worttheater, sondern ein Spiel mit Schattenfiguren und illusionistischen Bühneneffekten. Ein Spiel, das durch die Belebung von so einfachen Objekten wie Seifenspendern, Haarshampooflaschen und Perückenteilen eine Poesie entwickelt, der man sicher gerne hingibt.

Crowning glory (photo TJP)


Alice, die sich, währenddessen sie eine Perücke behandelt, immer tiefer in ihre eigene Geschichte fallen lässt, überschreitet schließlich die Grenze ihres Spiegels und taucht auf der anderen Seite ein, in ihre eigene Vergangenheit, die – obwohl lange zurück – sich in jeder Sekunde ihres Daseins manifestiert. Das kleine, ungeliebte Mädchen, das von seiner Mutter in einem Waisenhaus nach der Geburt abgegeben wurde und erst Jahre später zu seiner Familie zurückfindet, verwandelt sich im Laufe des Lebens zu einer selbstbestimmten Königin. Einer Königin, die in ihrem eigenen Reich regiert und all die Boshaftigkeiten ihrer Kindertage weit hinter sich lassen konnte. Colette Carrigan agiert als Alice, teilweise in Englisch und Französisch so gekonnt zwischen ihren Lebensabschnitten, dass sie in jeder Sekunde glaubwürdig erscheint. Ob als kleines Mädchen, das sich vor ihren falschen Freundinnen im Kasten versteckt oder als weise und erfahrene Friseurin, die ihren Kundinnen Psychiaterersatz anbieten kann, immer bleibt sie sympathisch und glaubhaft. Ihre eigene Emanzipation ist nicht „an den Haaren herbeigezogen“, sondern vielmehr durch glückhafte Lebensbegegnungen und den eigenen Willen es zu schaffen, völlig erklärlich. Wie sie aus einer grauen Haarsträhne ihre einstige, ehemalige alte Nachbarin auferstehen lässt, bei der sie erste Erfahrungen im Frisieren sammelte, oder ihre Schönheitswässerchen, Farbtuben und Glanzspülungen so strategisch wie in einem Schachspiel anordnet, zeugt von einer feinen und empfindsamen Kreativität, deren Funken sofort auf das Publikum überspringen. Ihr mit einigen Nussholzmöbeln ausgestatteter Frisiersalon weckt Erinnerungen an längst vergangene Tage und den Wunsch, das nächste Mal nicht umgeben von Glas und blitzendem Edelstahl seine Haare waschen zu lassen. Allein – der Wunsch wird ein solcher bleiben, denn so schön es auch wäre, bis heute habe ich noch keine Alice in einem Frisiersalon gefunden.
Datum der Veröffentlichung: 04 April 2010
Verfasser: Michaela Preiner
In folgenden Kategorien veröffentlicht: Theater | Tanz
vorheriger Artikel: 2,5 Stunden Dostojewksi waren zu kurz! Nächster Artikel: Die Geschichte der Krabben – oder Äsop im 21. Jahrhundert