Nach den ersten drei Tagen hat sich in meinem Kopf unter anderem ein Grundthema festgesetzt, dass sich, grob gesagt, in zwei Richtungen weiterführen lässt. Generell geht es um den Einfluss von Orten auf Geschichten und Erzählungen. Einerseits darum, wie Orte diese erst bedingen und hervorbringen, andererseits wie sie diese behindern. Von Zweitem berichten die zwei Dokumentarfilme: „L’escale / Stop-Over“ (CH/ FR 2013) von Kaveh Bakhtiari und „Second Class“ (SE/ LT 2012) von Marta Dauliūtė und Elisabeth Marjanović Cronvall.
L´Escale/Stop.Over ist beim Filmfestival Crossing Europe zu sehen. (Foto: Crossing Europe)
In „L’escale/Stop-Over“ dokumentiert Bakhtiari das Leben seine Cousins Amir in einer Wohngemeinschaft illegaler Einwanderer in Athen. Sieben Männer aus dem Iran und eine Frau aus Armenien leben dort. Für alle ist Griechenland nur eine Zwischenstation. Ihre Sehnsuchtsorte heißen unter anderen Norwegen und Deutschland, sie wollen weiter nach Westen. Ihr alltägliches Leben besteht aus Warten und der Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Das hat Amir bereits einmal hinter sich, genauso wie eine daraus resultierende viermonatige Haftstrafe. Als Sinnbild dieses Versteckspiels blickt Bakhtiaris Kamera immer wieder auf den wehenden Vorhang der Souterrainwohnung, in der sich der Großteil des Films abspielt. Der Vorhang soll die Blicke von außen fernhalten. Gewartet wird auf eine Möglichkeit, aus dem lähmenden Status quo zu entfliehen. Diesen Ort hinter sich zu lassen, an dem die Geschichte vom neuen Leben in Europa ins Stocken geraten ist. An dem aber auch die Vergangenheit ihren Erzählwert verloren hat. Denn alle Bewohner dieser Wohngemeinschaft haben für sich entschieden, dass ihr bisheriges Leben in ihrem Hier und Jetzt keine Rolle mehr spielt. Vielmehr noch, dass es niemanden etwas angeht. Sobald sich eine Möglichkeit ergibt, sei es durch gefälschte Dokumente oder mit Hilfe von Schleppern, ergreift jeder seine Chance. Nach und nach löst sich die Gemeinschaft auf. Zwei begraben ihren Traum vom Leben im Westen und kehren in den Iran zurück, unter ihnen auch Amir.
Bakhtiari nimmt in seinem ersten Langdokumentarfilm eine Mittlerrolle ein. Aufgrund der gemeinsamen Sprache ist er ein Teil dieser Gruppe und doch immer auf der anderen Seite. Ein europäischer Staatsbürger mit Schweizer Pass. Ein Umstand, den der Film auch strukturell verdeutlicht. Bakthiari beansprucht in keiner Weise die Position des objektiven Beobachters. Er tritt zwar nie vor die Kamera, genau so wenig wie seine Stimme zu hören ist. Dennoch merkt man bei jedem Bild, bei jeder Aufnahme die Person, die hinter den Bildern ist. Für ein Jahr hat er mit den Männern gewohnt und hat sich in ihr aktuelles Leben eingefühlt. Aus unzähligen Stunden Material hat er einen Film gemacht, der Einblick gewährt, ohne seine Protagonisten zur Schau zu stellen. Diese Sensibilität mit der Bakhtiari beobachtet und die unglaubliche Nähe, die er zu erzeugen vermag, machen diesen Film so eindringlich.
Der Film “Second Class” des Litauisch-Schwedischen Regisseurinnengespann Dauliūtė und Cronvall ist bei Crossing Europe zu sehen. (Foto: Crossing Europe)
Das Verhältnis von BeobachterIn und Beobachteten rückt in „Second Class“ vom Litauisch-Schwedischen Regisseurinnengespann noch stärker in den Vordergrund. Der Film läuft im Rahmen der Programmschiene „Arbeitswelten“. Diese beschäftigt sich im Speziellen mit ökonomischen Lebenssituationen, wobei dieses Thema quer durch alle Programmsektionen eine starke Präsenz zeigt.
Marta Dauliūtė und Elisabeth Marjanović Cronvall haben für ihre Dokumentation unzählige litauische Arbeitsmigranten gefilmt, die ihr Geld als Saisonarbeiter in Schweden verdienen. Beim Publikumsgespräch erzählen die beiden, dass sie ursprünglich nur auf den Fähren zwischen Litauen und Schweden filmen wollten, wo sie ihr Projekt starteten und die „Protagonisten“ ihres Films kennenlernten.
Im Laufe der ersten Recherche und Dreharbeiten beschlossen sie sich auf das Porträt vier junger Männer zu beschränken. Diese begleiten sie dann ebenso bei ihrer Forstarbeit und beim feierabendlichen Totschlagen der Zeit. Die Männer sind sich des Blicks, der auf ihnen ruht, jederzeit bewusst und suchen in den meisten Gesprächen einen Umgang damit. Meistens beantworten sie die Fragen mit einer Gegenfrage. Sie wollen wissen, welche Antwort denn von ihnen erwartet wird. Oft dringen Machtrelationen hervor, welche die Männer beschäftigen. Zwischen sich selbst und den Filmemacherinnen. Zwei gut ausgebildete Frauen und Männer, die „nur“ einen Pflichtschulabschluss haben. Jenseits dieses sehr bewussten Agierens vor der Kamera kommt jedoch immer wieder ein Blick hinter die Fassade zustande. Wie die Saisonarbeiter über Lohngefälle und die ihnen zugeschriebene Rolle der billigen, „zweitklassigen“ Arbeitskraft denken. Aber auch, was ihre Pläne und Absichten betrifft, die sich auf die Zukunft richten – ihr eigentliches Leben in Litauen. Denn gerade die Aufnahmen der vier Männer in ihrer schwedischen Unterkunft zeigt sie an einem Ort, der nur ein Übergangszustand ist, hauptsächlich ausgefüllt durch Arbeiten und Biertrinken.
Dokumentarfilme, die sich zusätzlich zu ihrem eigentlichen Thema selbstreflexiv mit der eigenen Arbeitsweise beschäftigen, drohen sich oft in dieser ambitionierten Aufgabe zu verlieren und total zu verflachen. Umso angenehmer ist die Lockerheit, mit der die beiden Regisseurinnen in diesem Fall so geschickt die unterschiedlichen Ebenen ineinander verweben.
Hungry Man beim Filmfestival Crossing Europe (Foto: Crossing Europe)
In „Hungry Man“ (FR/ RO 2013) bestimmt ein Ort im rumänischen Donaudelta den Film. Der französische Regisseur Philip Martin hielt sich dort im Zuge einer Recherchereise für einen Dokumentarfilm auf. Er beschloss, etwas später, jedoch noch im selben Sommer, zurückzukehren und aus diesem Ort heraus einen Spielfilm zu entwickeln. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Grenzen zum Dokumentarischen manchmal verschwimmen. Die Geschichte ist kurz erzählt. Die Kamera beobachtet eine Gruppe Kinder beim Spielen und Zeitvertreib während eines heißen Sommers. Irgendwann entdeckt eines der Kinder einen bewusstlosen, verletzten Mann und versteckt ihn. Zwischen ihm und den Kindern baut sich langsam eine sehr stille, gleichzeitig einfache aber kraftvolle Beziehung auf. Gesprochen wird in diesem Film kaum. Die wenigen Dialoge sind nicht untertitelt und wären für das Verständnis des Films wahrscheinlich eher störend. Die Instruktionen des Regisseurs an seine Darsteller waren sehr gering. Das Spiel der Kinder, dem die Kamera folgt, ist das ihres täglichen Lebens.
„Hungry Man“ ist ausgesprochen kontemplativ. Jede Einstellung ist eine Momentaufnahme und jede dieser Momentaufnahmen ist gleichwertig. Kamerabewegungen finden so gut wie nicht statt. Die Montage von Claire Atherton wechselt nicht in der Geschwindigkeit, wodurch sich ein entschleunigter Rhythmus ergibt, der ein ganz spezielles Zeitgefühl hervorruft. Jenes, bei dem man nicht mehr entscheiden kann, ob man alle Zeit der Welt hat, oder die Zeit komplett abwesend ist. Immer wieder schweben die Gedanken über den ausgesprochen gut fotografierten Bildern assoziativ hinweg. Bei einem weiteren Schnitt trauert man kurz dem Moment hinterher, den man vielleicht gerade verpasst hat, um gleich zu verstehen, dass man ihn doch – und sei es nur unbewusst – in sich aufgesogen hat. So zählt der Film zu den wunderbaren Beispielen, deren Bilder und dessen Geschichte nach und nach wieder an die Oberfläche der Erinnerung kommen und aus dem Nichts unglaublich präsent sind. Ein Film, in dem man sich auf wunderschöne Weise selbst verlieren kann.
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