Couch Surfing in Indien

Von Morindian

Zwei Tage habe ich bei Wilson aus der Distrikthauptstadt Udupi gewohnt. Er hat mir seine Region gezeigt und mich mit auf ein wildes Abenteuer genommen.
Wahrscheinlich ist der Begriff „Couch Surfing” nicht allen geläufig. Es handelt sich dabei um eine Art „Sofabörse“ im Internet. Auf der Website kann man Kontakt zu Personen aufnehmen, die in ihren eigenen vier Wänden freiwillig und gerne wildfremden Menschen die Möglichkeit zur Übernachtung bieten.

Nachdem ich die letzten Wochen fast durchgehend im Projekt gearbeitet und die Zeit mit den Kindern verbracht habe, wollte ich mir einmal zwei frei Tage genehmigen und entschloss mich nach Udupi zu fahren, einer mittelgroßen Stadt, etwa eineinhalb Stunden von meinem Dorf Ranganpalke entfernt. Eigentlich handelt es sich bei Udupi nicht um eine Stadt, in der man seinen Urlaub verbringen möchte, doch da ich mit Couch Surfing sowieso schon auf dem Alternativ-Urlaub-Trip war, dachte ich mir, passt Udupi als Ort doch perfekt.
Wilson, ein 28-jähriger moderner Inder, mit dem ich über die Couch-Surfing-Seite bisher nur flüchtig per Mail Kontakt hatte, rief mich vor einigen Wochen auf dem Handy an. Er lebte zuvor in Chennai und davor in Bangalore, zwei Millionenmetropole, in denen er im IT-Bereich sein Geld verdiente. Jetzt ist er zurück in seine eher verschlafene Heimatstadt Udupi gezogen, um sich dort selbstständig zu machen. Da er gerne auch wieder Menschen in seiner alten neuen Umgebung kennen lernen möchte, wandte er sich über Couch-Surfing an mich. Von dieser „Sofabörse“ erfuhr Wilson in Bangalore, einer, wenn man so will, Stadt mit Streben nach westlichem Lebensstil. Fern ab von solchen boomenden Megastädten weiß wohl kein Inder von Couch-Surfing. Am Telefon habe ich Wilson versprochen ihn zu besuchen und das tat ich nun. Er hatte sich zwei komplette Tage Zeit für mich genommen und diese mit einem sensationellen Programm gefüllt.
Am Samstagabend holte mich Wilson mit seinem Bike aus dem Zentrum von Udupi ab und nahm mich mit in sein kurz vor der Eröffnung stehendes Büro, in der angrenzenden Studentenstadt Manipal. Dort hatte er noch eine kleine Erledigung zu tätigen. Es war bereits dunkel und die Sterne und Stadtlichter fingen an zu leuchten. Wilson zeigte mir eine Stelle, von der aus man auf das bergige Manipal mit seinen wachsenden Hochhauswohnungen einen beeindruckenden Blick hatte. Wir verweilte einige Minuten und lernten einander kennen. Wilson ist weltoffen und interessiert an fremden Kulturen. Das macht ihn zu einem Inder mit einem unheimlichen Wissensstand. Bisher war er zwar selbst noch nicht im Ausland, doch über seine ehemalige Arbeit hatte er immer wieder Kontakt zu europäischen Geschäftspartnern. Man kann sich mit ihm über alles unterhalten – Über Weltpolitik, Geschichte und auch über gesellschaftliche Tabuthemen, wie Drogen, Alkohol und Sex. Er selbst hatte in seiner Zeit in Bangalore mehrere Freundinnen, was sehr außergewöhnlich für einen Inder ist, zumindest wie ich sie bisher kennen gelernt habe. Normalerweise gibt es keine Beziehungen vor einer Hochzeit. Eltern verheiraten ihre Kinder. Mit dem gesellschaftlichen Fortschritt sind diese in immer mehr Ecken des Landes soweit die Tochter oder den Sohn die Entscheidung treffen zu lassen oder zumindest diese zu dulden. In ländlichen Gegenden wie Ranganpalke ist das aber noch immer nicht vorstellbar. Während eines Pasta-Abendessens im Restaurant, was bei mir schon lange nicht mehr vorkam, hatten wir mehr Zeit unsere Gespräche zu vertiefen.




Am Sonntagmorgen standen Wilson und ich früh auf, um keine Zeit zu vergeuden und um pünktlich zur Sonntagsmesse von Wilson's Gemeinde „Miracle“ zu gehen. Es handelte sich um einen „Gottesdienst in einer der ältesten Kirchengemeinden Karnatakas“, wie mir mein Gastgeber stolz erzählte. Seine Familie ist römisch katholisch. Wie in Indien oft üblich gehört zu den Kirchengemeinden auch oft eine Bildungseinheit dazu. Wilson besuchte die der „Miracle“ vom Kindergarten bis hin zur zwölften Klasse. Nach der Messe zeigte er mir das gesamte Grundstück seiner alten Schule und schwelte in den Erinnerungen an die Zeit als Schüler.Nach einem unglaublichen Frühstück, was uns von Wilsons Mutter mit Liebe zubereitet wurde, ging es wieder aufs Zweirad, diesmal Richtung Hafen. Am Wasser angekommen, warfen wir einen flüchtigen Blick auf den Fischmarkt, die unzähligen Fischkutter im Hafenbecken und die Männer, die im Schatten einer blauen Plane die kaputten Netze flickten. Wir fuhren zum Anleger der Fähre, die uns nach St. Mary's Island bringen sollte, eine kleine unbewohnte Insel etwa sieben Kilometer vor der Küste Udupis. Angekommen waren Wilson und ich von der Schönheit der Natur, die dort herrschte, überwältigt – Tropische Palme und bizarre Felskonstellationen dazu kleine weiße Buchten mit klarem Wasser.






Wir verbrachten einige Zeit auf der Insel und erholten uns beide vom Alltagsstress. Wilson erzählte mir, wie sehr er die Natur mag und wie gerne er doch einmal ins Himalaya möchte, um eine Survival-Tour mit Zelt und Rucksack zu erleben. „Solche Hobbys sind für Inder nicht typisch“, sagt er. Wenn er so etwas machen möchte, muss er sich beeilen, meint er von sich selbst, denn er ist bereits 28 Jahre alt. Ab 30 sind eigentlich die meisten Inder verheiratet. Wenn er erstmal ein Familie hat, wären es höchstwahrscheinlich nur noch Träume für ihn. Eines seiner Lieblingsfilme ist „Into the wild“, ein Abendteuer eines Mannes, der sein Glück in der Einsamkeit der Natur sucht – übrigens auch eines meiner Favoriten. Englische Filme, wie solche sind in Indien auch nicht sehr verbreitet. Genauso wenig, wie die Musik, die Wilson hört. Fast ausschließlich amerikanische und europäische Bands sind auf seinem Handy gespeichert. Mit aktuellsten Discohits bis hin zu den Kultsongs von Bands, wie U2 oder Nirvana könnte sein Handy auch einem Deutschen gehören.Nach ein paar Stunden auf der Insel fuhren wir mit der Fähre zurück. Auf dem Weg sahen wir Delfine am Boot vorbei springen. Unglaublich.Als Nächstes stand ein wahnsinnig geschmackvolles Essen von Wilson Mutter und der Besuch eines Leuchtturms auf dem Programm. Am Leuchtturm in Kaup Beach wollten wir uns den Sonnenuntergang anschauen. Der Plan war eigentlich hinauf zu steigen, doch als wir ankamen, hatte der Turm bereits geschlossen. Auch aus der normal Perspektive war der Anblick des Sonnenuntergangs in Kaup Beach bezaubernd.





Auf dem Rückweg von Kaup nach Udupi hielten wir noch auf dem Schützenfest in Udupi an. Mit Wilson schlenderte ich über das Gelände. Wir probierten die Schiffsschaukel, den Breakdancer, das Riesenrad und danach noch eine sich immer überschlagende und drehende Kugel, die man sich setzte, aus. In den Fahrgeschäften war der Bär oder besser gesagt, der Inder los. Es war ein Gekreische sondergleichen, was auf Wilson und mich abfärbte.Um den Abend abzurunden fuhren wir von der Kirmes aus noch mal nach Manipal ins Restaurant „Big Boss“.

Der nächste Tag begann dort, wo der letzte Tag aufgehört hatte. In Manipal trafen Wilson und ich auf Glen, Wilsons Freund und Kollege im neu gegründeten Zweimannbetrieb. Mit Glens Motorrad und dem Roller ging es auf in den Dschungel zu einem Wasserfall. Dazu mussten wir erst einmal eine ganze Strecke von bestimmt 50 km zurücklegen. Für den kleinen Roller von Wilson gar nicht so einfach. Damit er nicht überhitze mussten wir öfter anhalten. Aber das war kein Problem, denn dort wo wir hielten, gab fast es immer Chai-Tee oder eine frische Kokosnuss. Auf dem Weg über Hebri zu unserem Ziel sind uns auf der Straße hinduistische Wanderpriester mit einem bunt bemalten Elefanten begegnet. Auch das war eine super Gelegenheit, den Motor des Roller etwas abkühlen zu lassen und mit den Nomaden ins Gespräch zu kommen. Sie kamen aus Rajasthan, also aus dem Norden von Indien. Wenn man bedenkt, dass so ein Konvoi nur höchstens 40 km am Tag schafft, müssen sie schon lange unterwegs gewesen sein.


Wir kamen mit unseren Zweirädern in immer ländlichere Gegenden mit schmaleren Straßen. Auch die Natur änderte sich. Es wurde immer bergiger. Wir waren in den West Ghats, dem Gebirgszug der Westküste Karnatakas. Ein idyllische Gebiet mit atemberaubender Flora und Fauna. Bei einem Stop an einem Fluss entdecken wir einen Schmetterlingsschwarm vor unseren Füßen. Es waren bestimmt über 50 von ihnen. So etwas habe ich zuvor noch nie gesehen. Es dauerte nicht mehr lange bis wir an eine Stelle kamen, an der es mit den Bikes nicht mehr weiter ging. Wir sattelten ab und machten uns auf in den Dschungel der West Ghats. Ein schmaler Trampelpfad, der nicht immer zu sehen war, führt immer wieder bergauf und bergab. Gemeinsam durchquerten Glen, Wilson und ich die Flußausläufe des Wasserfalls, den wir erreichen wollten oder klettern über umgefallen Bäume, die den Weg versperrten. Wir mussten immer aufpassen, wo wir unsere Füße hinsetzen. Das Terrain war als Siedlungsgebiet der King-Kobra ausgeschrieben, eine der giftigsten Schlangen der Welt. Spinnennetze schimmerten zwischen dem riesigen Farnkraut. Im Schatten des dichten Blätterdaches wimmelte es in manchen Ecken nur so von Moskitos, die gefallen an meinen Füßen gefunden hatten. Nach einer guten Stunde kam, das Rauschen des Wasserfalles immer näher. Wir waren da! Was für ein unglaublicher Anblick. Eine bestimmt 30 Meter hohe Felswand war plötzlich vor uns. Sie hinab stürzte sich das Wasser eines kleines Flusses, welches mit dem Sonnenlicht einen Regenbogen zum Vorschein brachte. Das Wasser war eiskalt, eine willkommen Abkühlung bei den hiesigen Temperaturen. Wilson, Glen und ich genossen die Zeit im kleinen Paradies weit abseits von jeglicher Zivilisation. Man konnte bis zum Wasserfall schwimmen und sich richtig unter ihm duschen. Die Wassertropfen, die von oben auf mich herunter prasselten, waren allerdings doch sehr hart, sodass ich nur kurz direkt unter dieser großen Naturdusche stehen blieb. All zu lange konnten wir nicht im Dschungel bleiben. Die Sonne geht hier in Indien schon früh unter, etwa immer um 6:30 Uhr. Da wir uns nicht den Rückweg durch die Dunkelheit bahnen wollten, achteten wir auf die Zeit. Einmal verloren wir die Orientierung und verliefen uns. Doch wir schafften es noch vor der völligen Dunkelheit zu den Bikes zurück. Schnell fuhren wir noch auf einen nahe gelegenen Berg hinauf, um uns den Sonnenuntergang anzuschauen. Wir verpassten ihn knapp, hatten jedoch trotzdem noch eine interessante Wolken- und Himmelfärbung zu bestaunen. Der Fahrtwind, der uns dann um die Ohren pfiff, war fast schon zu kalt. Ich hatte das erste mal in Indien das Gefühl zu frieren.













Was für ein Erlebnis, in das ich da durch den zufälligen Kontakt zu Wilson gestolpert war. Ich komme immer noch nicht aus dem Staunen heraus. Die Geschehnisse der letzten zwei Tage waren einfach so intensiv. Sie haben mir – mal wieder - gezeigt, wie gastfreundlich die Inder sein können und wie schön die Region ist, die mich hier mitten im dörflichen Nirgendwo tagtäglich umgibt.