Corona stellt die ganze Welt vor eine Reihe von Herausforderungen, ob medizinisch oder logistisch. Das Haushalten von Krankenhausbetten, das Beschaffen von Atemmasken und Schutzkleidung, die Sicherstellung der Belieferung von Supermärkten und vieles mehr zeigt sowohl die eklatanten Schwächen in der Vorbereitung auf eine Pandemie als auch die Notwendigkeit, solche knappen und elementaren Güter zu rationieren. Gleichzeitig ist nichts so wirkungsvoll zur Eindämmung der Krise wie soziale Distanzierung. Nicht essenzielle Teile von Wirtschaft und Institutionen werden heruntergefahren ( mit all den Verwerfungen bei denen, die plötzlich erkennen dass sie nicht essenziell sind). So viel Arbeit wie möglich wird ins Home-Office geschoben, das Vorgesetzten weltweit vor Kurzem noch als Schrecknis galt, da man die Mitarbeitenden nicht kontrollieren zu können glaubte. Doch kaum etwas wird durch die Pandemie so sehr einem Stresstest unterzogen wie die Demokratie. Lange, deliberative Prozesse mit vielen Vetopunkten sind normalerweise genau der Sand im Getriebe, der autokratische Alleingänge wenn nicht unmöglich macht, so doch zumindest erschwert. Aber in einem krisenhaften Ausnahmezustand, in dem schnelle und durchgreifende Maßnahmen gefragt sind, können sie buchstäblich tödlich wirken. Wie also macht sich unsere Demokratie?
Die Vorgeschichte
Um diese Frage beantworten zu können, sollten wir mit der Vorgeschichte anfangen. Die entscheidende Frage hier ist: Hat die Regierung rechtzeitig gehandelt? Diese Frage ist deutlich schwieriger zu beantworten als es zunächst den Anschein hat, denn natürlich hat die Regierung objektiv nicht rechtzeitig gehandelt, sonst hätten wir keine Pandemie. Case closed. Aber das ist in etwa wie die Feststellung, dass es zur Verhinderung eines Feuers schon echt praktisch gewesen wäre, wäre die Feuerwehr direkt vor Ort gewesen, am besten mit ausgerollten Schläuchen. Die Frage ist daher nicht, ob die Regierung in der Lage war, den Ausbruch der Pandemie zu verhindern, sondern ob sie in der Lage gewesen WÄRE und es hätte müssen KÖNNEN. Wir befinden uns im Land der Konjunktive. Und das ist naturgemäß schwieriges Terrain. Zumindest ist das meine Erfahrung aus dem Grammatikunterricht siebte Klasse, wo der Konjunktiv üblicherweise abschließend behandelt wird.
Was ich damit sagen will ist, dass alles nun Folgende zwangsläufig spekulativ ist. Das nur als Wort der Warnung.
Meine generelle Grundthese ist: Wir haben recht spät reagiert, aber es ist schwierig vorstellbar, dass das hätte signifikant besser laufen können. Ich will gleich erklären warum, aber um kurz zu zeigen wie schwierig eine endgültige Feststellung hier ist, sei kurz auf dieses Interview mit Christian Drosten verwiesen:
ZEIT ONLINE: Wie beurteilen Sie, wie Deutschland den Beginn dieses Ausbruchs bewältigt hat?
Drosten: Ich glaube, dass Deutschland seinen Ausbruch sehr früch erkannt hat. Wir sind zwei oder drei Wochen früher dran als ein paar Nachbarländer. Das haben wir geschafft, weil wir so viel Diagnostik machen, so viel testen. Sicher haben wir in dieser ersten Phase auch Fälle verpasst, das ist immer so. Aber ich glaube nicht, dass wir ein größeres Ausbruchsgeschehen übersehen haben. [...]
Daneben steht diese Meinung seines Kollegen Alexander Kekulé:
In seinem neuen MDR-Podcast „Kerkulés Corona-Kompass" widerspricht der Professor Alexander Kekulé teilweise der Bundesregierung. Er wählt deutliche Worte in der ersten Folge des Podcasts: „Wir sind in einer ganz schwierigen Situation, stehen mit dem Rücken zur Wand!" Danach vergleicht er die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus mit einer Not-OP.
Und der Lungenarzt Wolfgang Wodarg hält alles für völlig übertrieben:
Nach Ansicht Wolfgang Wodargs - Politiker und Lungenfacharzt - ist das neuartige Coronavirus weniger gefährlich als weithin berichtet wird. In Interviews und vor allem einem Youtube-Video, das derzeit vielfach in sozialen Medien geteilt wird, bezeichnet Wodarg die jetzige Reaktion auf das Virus als Panikmache. Seiner Ansicht nach hat es Coronaviren schon immer gegeben.
Offensichtlich gibt es selbst (oder gerade) unter ExpertInnen eine gewisse Uneinigkeit. Wenn aber hier bereits das gesamte Meinungsspektrum von "geht von alleine vorüber" über "wir müssen Maßnahmen ergreifen aber sind auf einem guten Weg" zu "eigentlich ist es quasi schon zu spät" reicht - auf wen verlasse ich mich als Entscheidungstragender? Das ist keine müßige Frage. Denn gerade Drosten weist zurecht ständig darauf hin, dass er als Viruloge einen sehr eingeschränkten Kompetenzkreis hat und der Politik keine Handlungsanweisungen geben kann. Schuster, bleib bei deinen Leisten. Es wäre manchmal wünschenswert, wenn andere Drostens Zurückhaltung an den Tag legen würden.
Worauf will ich hinaus? Wer auch immer in diesen Zeiten Entscheidungsgewalt trägt, sieht sich einer Bandbreite an wissenschaftlichen Meinungen konfrontiert. Aus all diesen Meinungen fließen unterschiedliche Handlungsanweisungen. Hat Kekulé Recht, müssen wir drastisch durchgreifen. Hat Drosten Recht, müssen wir langsam eskalieren. Hat Wodarg Recht, müssen wir überhaupt keine großartigen Einschränkungen vornehmen. Und das sind ja nur die drei prominentesten Stimmen; die Beraterstäbe der Entscheidungstragenden sind mit Sicherheit noch viel diverser.
Und damit kommt man zu Drostens Fazit zurück: Die Entscheidung, was zu tun ist, ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische. Man kann das gar nicht genug betonen. Es gibt keine eindeutige, richtige Handlungsanweisung, die sich aus der wissenschaftlichen Datenlage ergeben würde. Die Entscheidung ist einzig und allein politisch und kann und muss nur aus politischen Abwägungen im politischen Raum gefällt werden. Es ist die Stunde der Exekutive. Dafür ist sie da. Das ist der Kerngrund ihrer Existenz.
Wir werden im Folgenden die verschiedenen Konsequenzen dieser Erkenntnis beleuchten, aber zuerst die Frage: Warum die politisch so zaghafte Reaktion der deutschen Regierungen, obwohl die Wissenschaft überwiegend bereits seit Längerem vor der Pandemie warnte?
Prioritäten
Der erste Punkt betrifft das Vorhalten von Krisenkapazitäten. Es ist sicherlich korrekt, dass in einer Pandemie wie der von Covid-19 mehr Krankenhausbetten, größere Intensivstationen, mehr Beatmungsgeräte, Atemmasken und Schutzkleidung gut wären. Nur, das Zeug kostet alles auch Unsummen, und das Gesundheitssystem ist bereits so wahnsinnig teuer. Da alle diese Kapazitäten gleichzeitig hoch geschultes Personal benötigen, würde ein Vorhalten von Kapazitäten für den Krisenmaßstab jegliches Budget völlig sprengen. Und dann hätten wir nur eine Pandemie abgeblockt. Wir halten ja auch keine Krisenkapazitäten für den Fall eines Dritten Weltkriegs, eines Nuklearunfalls oder drastischer Wetterereignisse durch die globale Erwärmung vor. Es gibt zu viele dieser Risiken, als dass das überhaupt möglich wäre. Auf diesem Maßstab zu meckern ist schlichtweg fantastisch. Das kann kein Staat leisten.
Das heißt nicht, dass nicht im Januar und Februar bereits hätte mehr getan werden können, was die Vorbereitungen auf die beginnende Pandemie angeht. Aber hier gibt es deutliche Grenzen. Intensivstationen, vor allem das Personal zu deren Bedienung, lassen sich nicht in sechs Wochen aufbauen. Gleiches gilt für die Tests auf die Krankheit; Drosten schätzte, dass sich deren Zahl mit Maximalaufwand hätte um 30-40% steigern lassen. Sicherlich hilfreich, aber in einer Pandemie auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Man darf demgegenüber aber nicht vergessen, dass das Ergreifen solcher Maßnahmen im Winter 2020 auch negative Effekte gehabt hätte. Denn der Staat kann ja nicht einfach anfangen, umstandslos in den Krisenmodus zu hüpfen und diese Sachen vom freien Markt aufzukaufen, der sie normalerweise bereitstellt. Erstens sind die Zuständigkeiten im deutschen Föderalismus wild verteilt, das heißt, es braucht für so etwas eine aufwändige Koordinierung, wenn nicht jeder Landkreis anfangen soll, für seine jeweiligen Krankenhäuser anarchisch irgendwelches Zeug zusammenzukaufen. Das braucht Krisenstäbe, Koordination, etc.
All diese Koordination aber frisst politisches Kapital. Das heißt, sie bindet Ressourcen, und zwar erhebliche Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen. Man vergisst das über die Schreckensnachrichten von Corona gerne, aber Covid-19 ist nicht die einzige Krise, die uns dieses Frühjahr ins Haus stand. Noch vor vier Wochen haben wir über eine von der Türkei induzierte Flüchtlingswelle gesprochen, die über uns hereinbrechen könnte. Damit befassten sich viele deutsche Stellen, und hätte Corona nicht alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen und alles zum Erliegen gebracht, würden die gleichen Leute, die sich jetzt über einen Mangel an Atemgeräten beschweren, den Mangel an Flüchtlingsunterkünften und Grenzpolizisten verdammen. Aber erneut, es lassen sich einfach nicht für jeden Fall Krisenkapazitäten haushalten.
Und das alles nimmt noch nicht einmal in Betracht, dass ein massiver Ausbau der Pandemie-Vorsorge im Februar nicht nur auf einhellige Kritik und Opposition gestoßen wäre, sondern vielleicht sogar den umgekehrten Effekt hätte haben und eine Panik auslösen können. Und das zu verhindern war und ist, wie wir gleich sehen werden, eines der vordringlichsten Ziele der Regierung.
Zuletzt muss auch bedacht werden, dass ein solcher Massenaufkauf ja dann von allen Regierungen hätte gemacht werden müssen - denn wenn die Kritik für die deutsche Regierung richtig ist, dann ist sie es auch für alle anderen. Aber auf dem Markt gibt es diese Produkte überhaupt nicht. Die Politik, die in Europa gefahren worden ist - effektiv nichts zu machen - erlaubte wenigstens, dass der jeweils aktuelle Bestand von denen gekauft werden konnte, die ihn gerade am dringendsten brauchten. Und das war im Januar und Februar China und zu Beginn des März Italien.
Die Reaktionen der Staaten sind in ihren nationalen Egoismen ohnehin schon wahnsinnig problematisch; das letzte, was diese volatile Mischung brauchen konnte, war eine der Weltwirtschaftskrise vergleichbare Situation, in der alle Staaten gleichzeitig eine massiv destruktive Reaktion in dem vergeblichen Bemühen ergreifen, sich gegen ihre Wirkung zu isolieren.
Das sind erst einmal die Probleme mit einer früheren Reaktion, die sich aus logistischen und infrastrukturellen Faktoren ergeben. Aber wir müssen auch behaviorelle Gründe einbeziehen. Denn Menschen sind nun mal Menschen, und wir verhalten uns nicht wie Roboter. Diktaturen mögen in der Lage sein, ihren Bevölkerungen drastische Maßnahmen aufzuzwingen, Demokratien müssen sachter vorgehen, sonst sind sie keine Demokratien.
Eine reale Gefahr, der sich sämtliche europäischen Staaten gegenüber sahen (weil sie eben Demokratien sind), ist, dass die drastischeren Maßnahmen zu früh eingeführt werden. Die Reaktionen der Bevölkerung auf Corona sind im Endeffekt dieselben wie auf den Klimawandel, nur im Zeitraffer. Es wird als ein Problem der Zukunft gesehen (wenn überhaupt) und als eines, für das man als Einzelner nicht verantwortlich ist. Beginnt der Staat also, grundsätzlich sinnvolle Maßnahmen (Hände waschen!) auch nur vorzuschlagen, gibt es mit Sicherheit eine Abwehrreaktion all der Idioten, die das immer machen - und je nachdem, wie die Stimmung in der Gesamtbevölkerung ist, reißt das auch andere mit, die sich von der "alles nur dumme Panikmache"-Stimmung anstecken lassen. Von den Glühbirnen-Vorratskäufern von 2009 ist es nur ein kurzer Weg zu den Klopapierhamsterkäufern von 2020.
Die Regierungen müssen daher darauf achten, dass sie ihr Pulver nicht zu früh verschießen, denn sie haben nur einen einzigen Schuss. Das ist ein elementares Merkmal unserer Demokratie und ein schmutziges Geheimnis all der Notfallmaßnahmen, die aktuell eingeführt werden: Wir haben keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Wenn eine signifikante Mehrheit der Bevölkerung sich entscheidet, eine Ausgangssperre zu ignorieren, ist der Staat machtlos. Es ist wie das Tempolimit. Die Leute nehmen in Kauf, erwischt zu werden, und einige Leute werden erwischt. Aber es hält sich trotzdem kaum einer dran. Und das wäre ein Volldesaster.
Die Politik eines demokratischen Staates ist deswegen gezwungen abzuwarten, bis der Leidensdruck groß genug ist. Es ist pervers, aber wir brauchten die Schreckensbilder aus Italien, um überhaupt erste Maßnahmen durchsetzen zu können, wir brauchten das Volldesaster von Ischgl, um die Grenzen zu schließen und wir brauchten die exponentiellen Steigerungsraten der Infektionen in Deutschland selbst, um Ausgehverbote durchzusetzen. Vorher gab es für all diese Maßnahmen den notwendigen Buy-In der Bevölkerung nicht. Die Corona-Parties einiger hirnverbrannter Idioten zeigen deutlich genug, was die Konsequenzen sein könnten, wenn niemand an die Bedeutung der Maßnahmen glaubt. Und die Polizei wäre niemals in der Lage, das gewaltsam durchzusetzen.
Man muss aber auch sagen: Die Institutionen mögen insgesamt schwerfällig wirken, aber wenn sie einmal loslegen und ihre Ressourcen hinter ein Problem werfen, erreichen sie eine ungeheure Schlagkraft. Diese Konzentration ist im normalen demokratischen Prozess gar nicht möglich, aber man sollte nie unterschätzen, wie schnell so ein fettes, normalerweise majestätisch im Wasser liegendes Nilpferd von einer Institution rennen kann: Ich hoffe, das alles erklärt hinreichend, warum staatliche Stellen nicht schon früher reagiert haben. Aber es handelt sich bei allem um praktische Erwägungen. Wir müssen im Folgenden einige theoretische Aspekte untersuchen, die eine Diktatur wie China geflissentlich ignorieren kann, eine rechtsstaatliche Demokratie aber nicht. Ich setze für die folgenden Punkte die Lektüre der Serie über das politische System Deutschlands geflissentlich voraus und werde mich daher hier nicht wiederholen.
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet?
Das Diktum, dass souverän derjenige sei, der über den Ausnahmezustand entscheidet, geht auf den Juristen Carl Schmitt zurück, der, wollen wir es höflich sagen, ob seiner Rolle in den frühen 1930er Jahren eher umstritten ist. Seine Theorie vom Ausnahmezustand aber ist ohnehin eine, die zwar sehr illustrativ ist, mit der Realität aber wenig zu tun hat:
In der klassischen Sicht, wie sie exemplarisch von Carl Schmitt vertreten wurde, sind beide strikt voneinander geschieden, als zwei getrennte Reiche oder Ordnungen, die für den äußersten Gegensatz stehen: der Ausnahmezustand als Situation des Chaos, in der rechtliche Bindungen in nichts mehr gelten und die Ordnung durch souveräne Entscheidung erst wieder hergestellt werden muss, der Normalzustand als der Zustand des Rechts, in dem auf alle kleineren und auch größeren Herausforderungen mit den vorhandenen Mitteln und in den Grenzen des Rechts reagiert wird. Seitdem sind diese Mittel aber beständig ausgebaut und auf alle möglichen Situationen erstreckt worden, was man auch so formulieren kann, dass das frühere Ausnahmerecht mehr und mehr in das Recht der Normallage hineingeholt worden und in diese eingewandert ist. Der klassische Ausnahmezustand, notierte derselbe Carl Schmitt deshalb schon wenige Jahre später, ist dadurch nun etwas Altmodisches geworden. (Quelle)
Von einem Ausnahmezustand zu sprechen hat immer etwas martialisches; man sieht sofort irgendwelche uniformierten Soldaten durch menschenleere Straßen patrouillieren. Aber mit der Realität hat das eher wenig zu tun, auch wenn der schiere Gedanke so manchem Alt-68er ein wohlig-nostalgisches Gruseln an die Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung zurückrufen mag.
In rechtsstaatlichen Demokratien mit ihren fein verästelten Bürokratien, in föderalistischen wie der bundesdeutschen sowieso, gibt es keinen einen Ausnahmezustandsparagraphen, der auf Knopfdruck sämtliche Macht auf die Exekutive zurückwirft. Stattdessen sind die entsprechenden Paragraphen wild im Grundgesetz verteilt, können quasi à la carte angeschnitten werden, je nachdem, wie das gerade benötigt wird. Und, vor allem, die Regelungen des Notstands schaffen nicht Parallelinstitutionen à la Carl Schmitt. Stattdessen bemächtigen sie die gleichen Institutionen, die wir ohnehin schon immer nutzen und kennen und geben ihnen ungeahnte Kompetenzen. Ob das besser oder schlechter ist, muss der geneigte Leser entscheiden, es ist aber die Realität des Notstands in unserer Demokratie. Vielleicht beruhigt es den einen oder anderen, dass man vom Einberufen eines Notparlaments erst einmal abgekommen ist.
Wenn mir der kleine Exkurs gestattet ist, so zeigt gerade dieser Faktor einige wesentliche Merkmale des demokratischen Notstands auf. Denn es ist offenkundig, dass das Zusammentreten von 700 Parlamentariern und ihrer jeweiligen Mitarbeiter auf engstem Raum in einer Pandemie eine reichlich beknackte Idee ist. Nur interessiert das das Grundgesetz nicht; bar der Einberufung eines Notparlaments (was theoretisch möglich wäre) werden Gesetzesentscheidungen im Bundestag gefällt. Und das Grundgesetz kennt keine anderthalb Meter soziale Distanzierungsrichtlinie. Die Fraktionen sind deswegen darauf verfallen, mit möglichst wenig Abgeordneten die Mehrheitsverhältnisse zu reproduzieren und ansonsten Home Office zu betreiben. Das aber setzt voraus, dass niemand das Quorum überprüft (die notwendige Zahl der Abgeordneten, um ein Gesetz zu verabschieden). Und das wiederum setzt Vertrauen voraus. Und sieht man sich die (übrigens auch 2020 geschehenen) Abläufe in Thüringen an, so ist dieses Vertrauen gerade dünn gesät.
Überhaupt, Vertrauen. Der demokratische Notstand funktioniert überhaupt nicht ohne Vertrauen. Ich habe weiter oben bereits beschrieben, dass ein gewisser Buy-In der Bevölkerung in die Notwendigkeit der Maßnahmen notwendig ist; gleiches gilt für die Arbeit der Regierung generell. Angesichts der großen Unsicherheit - ich bin kein Viruloge, und offensichtlich sind selbst die Virulogen klug genug, von konkreten politischen Handlungsanweisungen abzusehen - bleibt mir als Bürger praktisch nichts, als ein blindes Vertrauen in meine Regierung zu legen. Genauso, wie die Oppositionsfraktionen darauf angewiesen sind, dass die Regierungsparteien ihr Vertrauen nicht missbrauchen und ihre neu gewonnene Machtfülle für irgendetwas anderes als die Bekämpfung der Krise aufwenden, so sehr bin ich als Bürger darauf angewiesen darauf zu vertrauen, dass die Regierung wenigstens grob weiß was sie tut und die Maßnahmen alle temporär sein werden. Das ist ein Kernmerkmal des Notstands.
Es ist die Stunde der Exekutive, und angesichts der Geschwindigkeit der Krise sind deliberative Prozesse weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so sehr ich Merkels Zaudern auch kritisieren mag, so habe ich Vertrauen darin, dass sie die Machtfülle, die ihr nun zugefallen ist, nicht missbrauchen wird. Ich bin gottfroh, in diesen Zeiten diese Regierung zu haben und nicht mit einem Johnson, Trump oder Bolsonaro gestraft zu sein. Das ist eine Frage von Leben und Tod.
Würde der Staat nicht massiv in die Grundrechte eingreifen und übliche demokratische Prozesse aushebeln oder umgehen, hätten wir keinen Notstand. Die gesamte Entwicklung zeigt, wie notwendig durchgreifende Maßnahmen sind. Gerade die, die das zögerliche Handeln des Staates zu Beginn der Krise im Februar noch kritisierten, schreien nun gleichzeitig Zeter und Mordio über den Weg in Richtung Faschismus und Demokratie, den die Institutionen gehen. Auch so ein Echo von 1968. Aber beides schließt sich aus. Entweder haben wir eine handfeste Krise an der Hand, die voraussetzt, die von mir oben skizzierten politischen Probleme direkt zu ignorieren und mit brachialer institutioneller Gewalt alles anzugehen, oder wir haben sie nicht.
Ich denke, wir haben eine solche Krise. Ich denke, dass die Regierung zwingend durchgreifende Maßnahmen ergreifen muss, die mit normalen demokratischen Prozessen nicht möglich sind. Kurz, ich denke, wir befinden uns in einem Ausnahmezustand. Und ich vertraue darauf, dass die Regierung sich der ungeheuren Verantwortung bewusst ist, die ihr damit zugefallen ist. Aus großer Macht erwächst große Verantwortung. Und es ist gerade die ungeheuer zögerliche Übernahme dieser gewaltigen Macht, das Zurückschrecken davor, sie zu nutzen, die zwar die Reaktion abgestumpft und weniger effektiv gemacht hat, die aber gleichzeitig auch einen gesunden Respekt zeigt - und Hoffnung darauf gibt, dass es alles zeitlich beschränkt sein wird und dass wir danach zum Status Quo Ante zurückkehren. Ich sehe nicht, welche andere Wahl wir haben, als dieses Vertrauen darauf aufzubringen. Das gibt ein mulmiges Gefühl.