Cordula Koepcke: Lou Andreas-Salomé

Wolfgang Krisai: Der Winterpalast (heute: Ermitage) in St. Petersburg. Tuschestift. 2016

Anlässlich des im Herbst 2016 herausgekommenen biographischen Spielfilms „Lou Andreas-Salomé“, dessen Premiere ich im Wiener Filmcasino miterlebte, las ich eine bei mir schon länger im Regal wartende Biographie über diese „Muse“ der Zeit um 1900.

Cordula Koepcke beschreibt Lous Leben und Werk in angemessener, manchmal schon übertriebener Ausführlichkeit, sodass man ein lebendiges und facettenreiches Bild dieser außergewöhnlichen Frau erhält. Außergewöhnlich ist sie vor allem durch ihren Intellekt, mit dem sie Größen wie Nietzsche oder Freud anregende Gesprächspartnerin und – im Falle Freuds – Kollegin sein konnte, und durch ihr ungewöhnliches Verhältnis zur Sexualität und zu Männern.

„Kein Sex!“

Lou hielt sich nämlich jahrzehntelang an die Devise: „Kein Sex!“ Das galt sogar für ihre Ehe mit dem namhaften Orientalisten Friedrich Carl Andreas, die sie nur unter dieser Bedingung eingegangen war. Sehr zum Missvergnügen des Ehemannes, der gehofft hatte, es handle sich dabei um eine Mädchenschrulle, die sich mit der Zeit legen werde. Als Lou eisern blieb, kam es einmal zu einer versuchten Gewaltanwendung des Ehemanns gegenüber der schlafenden Frau, die dann ihrerseits, halb erwacht, den Eindringling kräftig würgte. Keine erfreuliche Sache. Andreas zeugte später mit der Haushälterin eine Tochter, die Lou im Alter betreute und von dieser ganz in die Familie aufgenommen wurde. (Im Film wird sie als Adoptivtochter bezeichnet, im Buch ist davon nicht die Rede.)

Der von Lou erhoffte und entgegen aller damals herrschenden Konvention auch realisierte Vorteil der asexuellen Männerbeziehung war, dass sie mit mehreren Männern platonische Freundschaften mit höchstem geistigem Anspruch pflegen konnte.

Heiratsantrag eines Pastors

Das begann schon in ihrer Jugend, wo sie den faszinierenden evangelischen Pastor Hendrik Gillot kennenlernt und bei ihm eine Art privaten Religionsunterricht bekommt, da ihr der offizielle Konfirmandenunterricht nicht zusagt. Während Lou in Gillot gleichsam einen Gott sieht, ist es umgekehrt nicht ganz so. Der – verheiratete! – Pastor macht dem fünfzehnjährigen Mädchen einen Heiratsantrag, angesichts dessen Lou aus allen Wolken fällt und vor Gillot die Flucht ergreift. Dennoch bleibt eine lange, lose Beziehung, und Gillot traut Lou – allerdings zähneknirschend – schließlich sogar höchstpersönlich mit Andreas.

Geboren 1861 in St. Petersburg

Die Geschichte mit Gillot spielte sich in Lous Geburtsort St. Petersburg ab, wo sie 1861 als Tochter eines deutschstämmigen Generals im Gebäude der Generalität gegenüber dem Winterpalast, der heutigen Ermitage, zur Welt kommt. Sie hat mehrere Brüder, mit denen sie zeitlebens ein inniges Verhältnis verbindet.

Wohngemeinschaftsprojekt „Dreieinigkeit“

Da Lou unbedingt studieren will, muss sie nach Zürich gehen, der einzigen Universität Europas, wo damals auch Frauen studieren durften. Sie lernt dort Paul Rée kennen, einen jungen Philosophen, der mit Friedrich Nietzsche befreundet ist und diesen mit Lou bekannt macht. Lou träumt davon, mit den beiden Männern in einer platonischen WG, genannt „Dreieinigkeit“ zu leben. Große Aufregung in der Familie! Doch Lou gibt nicht nach und will ihren Traum partout realisieren. Und das, obwohl ihr sowohl Rée als auch Nietzsche nacheinander Heiratsanträge gemacht haben. Die sie selbstverständlich zurückgewiesen hat. Nietzsche ist dadurch allerdings verstimmt, zudem arbeitet seine intrigante Schwester Elisabeth im Hintergrund eifrigst gegen die von ihre gehasste Lou, sodass aus der „Dreieinigkeit“ nichts wird.

Malwida von Meysenbug

Lou erkrankt an einer Lungenkrankheit (die sich nach einigen Jahren wieder verliert) und muss auf Anraten der Ärzte einige Zeit im Süden verbringen. Sie geht mit ihrer Mutter nach Rom, wo sie die einflussreiche Malwida von Meysenbug kennenlernt, die sie unter ihre Fittiche nimmt und mit vielen wichtigen Persönlichkeiten bekannt macht. Auch Malwida versucht Lou von der Wohngemeinschaftsidee abzubringen – vergeblich.

Paul Rée und Friedrich Carl Andreas

Kaum wieder zurück im Norden, zieht Lou mit Rée in Berlin zusammen. Rée ist so ein dezenter und höflicher Herr, dass das Experiment sogar einige Zeit gut geht. Rée leidet allerdings still vor sich hin, und das umso mehr, als Friedrich Carl Andreas auf den Plan tritt, der Lou augenblicklich fasziniert und für sich gewinnt. Unter der schon genannten Bedingung.

Es dauert allerdings nicht lang, bis Lou wieder einen anderen Mann behext, diesmal den Politiker Georg Ledebour, der sich einige Monate energisch um sie bemüht. Lou ist hin und her gerissen zwischen Andreas und Ledebour, entscheidet sich schließlich aber für ihren Ehemann.

Rainer Maria Rilke

Einige Jahre später tritt jener Mann in Lous Leben, durch dessen Biographie ich sie kennenlernte: Rainer Maria Rilke. Er ist wesentlich jünger als sie, schreibt ihr künstlerisch unausgegorene Liebesgedichte und bringt in ihr Saiten zum Schwingen, die sie bisher standhaft unterdrückt hatte. Gemeinsam reisen sie zweimal nach Russland, beim zweiten Mal überraschen sie den wenig begeisterten alten Tolstoi auf seinem Landgut. Sie begeistern sich beide für das russische Landleben und sehen in Russland jenes Land und jene Kultur, die zwischen West und Ost vermitteln und damit dem Westen wichtige Anregungen aus dem Osten bringen könne.

Rilke und Lou verleben auch einige Wochen auf einem Landhaus, genannt „Loufried“, in Bayern, wo es dem erotisch erfahreneren Rilke schließlich gelingt, Lou zum Bruch ihres Grundsatzes zu bringen. Für Lou erschließt sich damit erst die Welt der Liebe. Rauschhafte Wochen, die eigentlich nach Ewigkeit schreien – aber dafür ist Lou nicht geschaffen. Schon bald beginnt Rilke sie zu langweilen, und die beiden trennen sich wieder.

Erst einige Jahre später nimmt Rilke den Kontakt brieflich wieder auf, und bis zu seinem Tod ist Lou dann eine einfühlsame Beraterin in Krisenzeiten. Der Kontakt wird großteils brieflich gepflegt, auch wenn es immer wieder zu – nun wieder platonischen – gemeinsamen Reisen kommt.

Haus „Loufried“ in Göttingen

In Erinnerung an jene schöne Zeit mit Rilke nennt Lou das Haus, in das sie mit Andreas nach dessen Berufung an die Universität Göttingen zieht, ebenfalls „Loufried“. In diesem Haus am Rande Göttingens führt Lou, sofern sie nicht gerade auf einer ihrer ausgedehnte Reise ist, ein zurückgezogenes Leben. Sie pflegt einen dem ihres Mannes diametral entgegengesetzten Rhythmus: Während Andreas abends und die halbe Nacht über Vorlesungen hält – im Erdgeschoß – und danach bis zum Morgengrauen arbeitet, dafür aber den Tag verschläft, bemüht sich Lou um einen gesunden Lebensstil nach den Vorstellungen der damaligen „Naturmenschen“ und den ihr von ihrem Arzt wegen ihrer Herzbeschwerden vorgeschriebenen Regeln: gesund essen, Bewegung machen, früh ins Bett gehen.

Dieser Arzt ist übrigens ein weiterer ihrer Liebhaber: der Wiener Friedrich „Zemek“ Pineles. Er begleitet sie als ihr „Leibarzt“ immer wieder auf Reisen.

Sigmund Freud

Diese führen sie für längere Zeit nach Paris, aber auch nach Wien, wo sie schließlich jenen Mann kennenlernt, der ihre zweite Lebenshälfte geistig bestimmt: Sigmund Freud.

Lou wird schnell in den engsten Kreis der Schüler Freuds aufgenommen und steigt bald vom Rang der Schülerin zu jenem der Kollegin auf, mit der Freud in regem Austausch, sei es mündlich, sei es brieflich, steht. Lou beginnt selbst die Psychoanalyse zu praktizieren und hat bald in Göttingen eine Menge Patienten. Sie verfasst psychoanalytische Essays, die sich vor allem mit Fragen der Religion und der Kunst auseinandersetzen und in der Zeitschrift „Imago“ erscheinen.

Die Schriftstellerin

Schriftstellerische Tätigkeit ist von allem Anfang an ein wichtiger Teil ihres Lebens. Sie schreibt Erzählungen, Romane, Essays und Kritiken. Eigentlich sind das immer ganz persönliche, private Werke, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, doch wenn es an Geld mangelt – was vor der Berufung ihres Mannes nach Göttingen durchaus vorkommen konnte – muss sie sich über solche Bedenken hinwegsetzen. Die Essays und Kritiken sind ohnehin für die Veröffentlichung und zum Gelderwerb geschrieben.

Da gibt es zum Beispiel den Roman „Das Haus“, aber auch die Erzählung „Ruth“, die Rilke immerhin so beeindruckte, dass er seine Tochter danach benannte. Auf nichtfiktionalem Gebiet gibt es z. B. Bücher über Nietzsche oder „Die Erotik“.

Einige Werke wurden erst aus dem Nachlass veröffentlicht. Als Nachlassverwalter gewinnt Lou in ihren letzten Lebensjahren einen jungen Mann, der sich zunächst wegen psychologischer Beratung an sie wandte, bald aber zum Freund und intensiven Gesprächspartner wurde: Ernst Pfeiffer.

Lebensrückblick

Mit ihm sah sie auch ihre in den Dreißigerjahren entstandenen Memoiren durch, die allerdings erst 1979 als „Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen“ erschienen.

Von den diktatorischen Maßnahmen der Nazis nahm Lou kaum noch Notiz, sie blieb vor Nachstellungen verschont, obwohl sie die „jüdische“ Psychoanalyse betrieb. Die Patienten wurden allerdings merklich weniger.

Schließlich stirbt Lou 1937 eines sanften Todes.

Ich habe noch kein Werk Lou Andreas-Salomés gelesen. In der Biographie wird ausführlich aus ihren Werken zitiert, sodass man einen Eindruck von Lous reichlich exaltiertem Stil bekommt, der wohl zeittypisch ist. Es wundert mich nicht, dass jemand, der so schreibt, eine Beziehung zu Rilke haben konnte.

Cordula Koepcke: Lou Andreas-Salomé. Leben. Persönlichkeit. Werk. Ein Biographie. Insel Verlag, Frankfurt, 1986. Insel Taschenbuch 905. 463 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Der Winterpalast (heute: Ermitage) in St. Petersburg. Tuschestift. 2016. Gegenüber diesem Gebäude wurde Lou Andreas-Salomé geboren.


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