Und hier ist er, der erste virtuelle Spaziergang durch die zauberhafte Landschaft West Yorkshires. Ich widme ihn besonders denen unter euch, die in dieser schwierigen Zeit nicht in der Natur sein können. Ich hoffe, dass ich euch auf diese Weise an die wohltuenden Seiten des Lebens erinnern und ein wenig Frühling in eure Herzen zaubern kann, in der Hoffnung, euch die Wartezeit etwas angenehmer zu gestalten, bis ihr ganz bald wieder selbst auf Wanderschaft gehen könnt. Viel Spaß beim Zuschauen und Lauschen!
Und hier noch mal alles zum Nachlesen:
Als das Gartentor hinter mir ins Schloss fällt, zucke ich kurz zusammen. Das metallische Ineinanderklicken der Messingverriegelung hallt länger nach als sonst. Die Luft ist mild und der Himmel wolkenlos. Ich stopfe meine Daunenjacke in meinen Rucksack zurück. Es ist eindeutig zu warm für Winterkleidung.
Die Straße, die aus unserem Dorf hinausführt ist leer, die Fußwege sind verwaist. In den Vorgärten recken die ersten Frühlingsblüher ihre zarten Köpfchen empor. Doch niemand ist da, um ihnen beim Wachsen zuzusehen. Die Haustüren bleiben verschlossen, die Gardinen sind zugezogen. Eine schwarze Katze räkelt sich auf einer Steinmauer. Als ich an ihr vorbeilaufe, blinzelt sie mir keck von der Seite zu. Ich wünschte, ich könnte die Welt für einen Augenblick mit ihren Augen sehen, mich unbeschwert durch die Tage treiben lassen. Aber ich kann nicht einmal mehr erahnen, wie sich Sorglosigkeit anfühlt.
Auf der kleinen Brücke am Ufer des Sees stehen drei Menschen, in eine rege Unterhaltung vertieft. Bruchstücke von Sätzen hallen zu mir herüber: „…müssen härter durchgreifen.“ „…wird noch viel schlimmer kommen.“ Der große Abstand zwischen ihnen wirkt befremdlich. Ich will sie nicht stören und ihre sicherlich gut durchdachte Konstellation durcheinanderbringen. Also schlage ich eine andere Route ein und nehme einen sandigen Pfad, der am Ufer des Sees entlangführt. An sonnigen Nachmittagen wie diesem werfen hier die Angler ihre Köder aus. Jetzt sind die winzigen, von der Böschung verborgenen Buchten unbesetzt. Die Angst vor dem Virus hat überall ein Stückchen Freizeit abgeschafft. Ich stelle mir vor wie Plötze, Brasse, Barsche, Karpfen und Hechte aufatmen und angesichts der ausbleibenden Gefahr, munter in ihrem Revier umhertollen. Ich bleibe stehen und blicke auf das Wasser, doch bis auf einen leichten Windhauch, der die spiegelglatte Oberfläche zu kleinen Wellen zusammenstaucht, rührt sich nichts.
Auf der anderen Seite stehen adrette Reihenhäuser mit kurzgeschnittenen Rasenflächen und weißgerahmten Wintergärten. Was ihre Bewohner wohl gerade umtreibt? Es ist jetzt fast eine Woche her, seit die Regierung den sogannten Lock-Down verkündet hat, der die Menschen in ihren Häusern und Wohnungen halten soll. Eine vernünftige Entscheidung, die jedoch auch ihre Schattenseiten mit sich bringt. Plötzlich sind unsere Leben zweigeteilt, alles, was wir tun klassifiziert sich in Notwendiges und weniger Notwendiges. Doch wer kann darüber entscheiden? Was für den einen wichtig ist, kann für einen anderen vollkommen unwichtig sein. Ein frischer Blumenstrauß auf dem Wohnzimmertisch, ein gutes Buch, ein neues Spielzeug für das Geburtstagskind, ein Spaziergang bei Sonnenuntergang. Ich habe den Eindruck, dass uns der Lock-Down nicht nur vor Gefahren schützt, sondern auch selbst Gefahren birgt. Er bewahrt uns vor einer unsichtbaren Bedrohung, verstärkt aber auch Ängste und Depressionen, denn seine Maßnahmen richten sich hauptsächlich auf unsere körperliche Gesundheit. Außerdem befördern der Mangel an Konkretisierung und der damit verbundene Interpretationsspielraum gesellschaftliche Spaltungen. Denunziation, Überwachung, Ausgrenzung und soziale Ächtung schlagen bereits Wurzeln.
Als würde der Himmel meine düsteren Vorahnungen spiegeln, braut sich über den Dächern eine Wolkenfront zusammen. Ich laufe weiter und beschließe, dass noch nichts verloren ist. Noch können wir dagegen angehen. Neben mir gluckert ein Bach und ich spüre, wie sich mein Pulsschlag augenblicklich beruhigt. Leuchtend gelbe Narzissen zieren den Wegrand. Sie wachsen überall in kräftigen Büscheln, so als hätte sie jemand absichtlich über die Landschaft verstreut, um hier und da einen Farbtupfer zu setzen. Für mich gehörten sie bisher ganz selbstverständlich zum Frühling, ihre Anwesenheit war aber kein Grund, in Freudentränen auszubrechen. Doch jetzt war alles anders und ich begriff, dass sie von enormer Bedeutung waren. Sie erinnerten an eine Zeit, in der unser Blick von größeren Dingen verstellt war. Jetzt waren sie Vorboten einer Zeit, in der wir lernten, dass es die kleinen Dinge sind, die uns am Leben erhalten.
Eine hölzerne Brücke führt hinauf zu einem Grundstück, auf dem ein Mann das Heu für seine Pferde zusammenharkt. Unsere Blicke treffen sich einen Augenaufschlag lang. Dann wendet er mir seinen Rücken zu. Himmel, was gäbe ich für ein einziges Lächeln!
Die Bäume sind noch kahl, hier und da beginnen sich die ersten Knospen zaghaft zu öffnen. Alles beginnt von vorn, und beginnt doch ganz neu. Hohe Birken lehnen sich wie traurige Riesen über den Pfad, so als würden sie mir etwas zuflüstern wollen. Doch ich habe ihnen bisher zu wenig zugehört, als dass ich ihre Sprache verstehe. Für die Natur muss dieser Virus trotz allem ein wahrer Segen sein. Und sie ist es für uns.
Ich passiere einen älteren Herren in regenfester Kleidung. Er sieht nachdenklich aus. Dann hebt er seinen Blick, lächelt mir zu und grüßt mich herzlich. Mein Herz hüpft. Genau das hat mir gefehlt. Mir wird klar, dass es eine gute Entscheidung war, rauszugehen und sich zu vergewissern, dass es noch immer Freundlichkeit und Wärme gibt.
Auf einer hölzernen Bank liegt ein verschlissener Pullover. In diesen Tagen scheint alles von einer eigenartigen Symbolkraft zu sein. Ein vergessenes Kleidungsstück wird zur Metapher einer entschlüpfenden Zeit. Im letzten Sommer habe ich genau auf dieser Bank gesessen und darüber nachgedacht, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll. Heute stehe ich hier und weiß, dass es nur eine Antwort darauf gibt: „Leben!“
An den See schließt sich ein Waldstück an, eine kleine Oase der Wildnis. Die Äste der Bäume haben sich hier zu einem dichten Geflecht verzwirbelt. Ihre Stämme sind mit Moos überzogen, das neongrün leuchtet und sich wie ein flauschiger Schutzmantel auf die Rinde gelegt hat. Vertrocknete Zweige, Grasstumpen und Sprösslinge bedecken den sumpfigen Boden.
Auf Händen und Füßen lasse ich mich einen kleinen Abhang hinuntergleiten und lande an einem rauschenden Fluss, der mit Gesteinsbrocken in allen Varianten und Größen reich befüllt ist. Er erinnert mich an die wilden Flüsse Amerikas, die sich ungezähmt durch Canyons und Täler schlängeln. Dieser hier ist zwar recht flach und nicht wirklich aufbrausend, aber dafür nicht weniger malerisch. Ich lehne mich gegen einen morschen Stamm, der quer über dem Waldboden liegt und sauge die frische Luft von Blättern und Erde tief in mich hinein. Das natürliche Durcheinander von hölzernen Gewächsen und Büschen wirkt entlastend auf meine Sinne ein. Über mir zwitschert es emsig im Geäst.
Ich befinde mich unterhalb des Weges, der sich inzwischen mit Joggern und Spaziergängern gefüllt hat. In schwierigen Zeiten wird die Natur zum perfekten Refugium. Als der Ansturm vorbei ist, schnappe ich mir einen stabilen Ast, den ich als Wanderstock nutzen will, klettere wieder hinauf auf den Weg und setze meinen Spaziergang fort. Bald darauf gelange ich an ein hölzernes Tor, das mit einer Kette gesichert ist. Dahinter erstreckt sich eine mit Narzissen bedeckte Anhöhe. Wieder kommt es mir vor wie ein Zeichen. Wir haben die Natur aus unserem Leben ausgesperrt, eingepfercht hinter Zäunen und Grundstücksgrenzen. Jetzt ist die Zeit, die Kette aufzubrechen und unsere Leben mit heilsamer Wildnis zu fluten.
Dann bin ich am Höhepunkt meines Ausfluges angekommen. Eine hügelige Wiese, auf der zwei Alpakas grasen. Die beiden sind alte Bekannte, aber heute halten auch sie sich an die neuen Abstandsregeln. Ich versuche sie mit flehenden Schnalzlauten anzulocken, aber sie ignorieren mich hartnäckig. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Virus fürchten oder keine Lust haben auf Besucher, die nie eine Mohrrübe dabeihaben.
Enttäuscht lasse ich die unkooperativen Gesellen hinter mir und mache mich auf den Rückweg. Der Pfad oberhalb des Sees ist so schmal, dass es selbst für eine Person eng werden kann. Wenn man nicht gerade den Abhang herunterrollen will, wird es schwierig, einen 2-Meter-Abstand zu einer entgegenkommenden Person einzuhalten. Doch in fünf Jahren bin ich auf diesem Weg noch nie einer Menschenseele begegnet, also gehe ich das Risiko ein und alles geht gut. Als ich nach Hause komme, blicke ich wenig später mit glühenden Wangen aus dem Fenster. Der See glitzert und funkelt in der Abendsonne. Ich lehne mein erhitztes Gesicht gegen die kühlende Scheibe. Mich hat ein Fieber gepackt, aber keines, das mir schadet, eines, das mich in die Wildnis zieht und mich immun macht gegen alles, was da kommen mag.
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