Cole, Teju: Open City

Von Lesewucht

„Open City“ steht in der Tradition der großen Flaneur-Romane des 20. Jahrhunderts. Der Großstadtmensch, der sich inmitten hunderttausend anderer einsam und in sich gekehrt treiben lässt. Hat man alles schon einmal gelesen, denkt man da. Das dachte ich auch und wurde von einem Buch überrascht, das in sehr intelligenter Art und Weise um die Themen Multikulturismus und Kosmopolitismus kreist.


Klappentext

Julius, ein junger Psychiater, durchstreift die Straßen Manhattans, allein und ohne Ziel, stundenlang. Die Bewegung ist ein Ausgleich zur Arbeit, sie strukturiert seine Abende, seine Gedanken. Er lässt sich treiben, und während seine Schritte ihn tragen, denkt er an seine kürzlich zerbrochene Liebesbeziehung, seine Kindheit, seine Isolation in dieser Metropole voller Menschen. Fast unmerklich verzaubert sein Blick die Umgebung, die Stadt blättert sich vor ihm auf, offenbart die Spuren der Menschen, die früher hier lebten. Mit jeder Begegnung, jeder neuen Entdeckung gerät Julius tiefer hinein in die verborgene Gegenwart New Yorks – und schließlich in seine eigene, ihm fremd gewordene Vergangenheit.

Der erste Satz

Als ich also im vergangenen Herbst begann, abendliche Streifzüge durch die Stadt zu unternehmen, erwies sich Morningside Heights als guter Ausgangspunkt.


Es gibt Bücher, in denen tritt der Autor weit hinter das Erzählte zurück. Und dann gibt es Bücher, in denen kaum zwischen Schreibendem und Beschriebenem unterschieden werden kann – „Open City“ ist so eines. Zwischen Teju Cole und seiner Romanfigur Julius drängen sich so viele Parallelen auf, dass mir eine Trennung zwischen beiden beim Lesen schwer fiel. Beide wurden in Afrika geboren und emigrierten mit jungen Jahren in die USA. Beide studierten, wurden westlich geprägt und blieben dabei dennoch ihrer afrikanischen Heimat und Kultur tief verbunden. Cole und Julius sind so die personifizierten Ergebnisse einer globalisierten Welt. Wie hoch der tatsächliche autobiografische Anteil von Cole ist, bleibt indes im Dunkeln.

„Open City“ bewahrt sich diese Ambivalenz auch in anderer Hinsicht. Ein ums andere Mal fragt man sich, was man da eigentlich in der Hand hält. Cole jongliert mit gleich mehreren Genres und verwebt sie zu einem Buch, das man nur schwer als Roman bezeichnen kann. Teilweise liest es sich wie ein Reisebericht, teilweise wie ein Tagebuch. Mehr oder minder zufällig stattfindende Bekanntschaften werden genutzt, um sich an unterschiedlichsten Themen essayistisch abzuarbeiten, sei es die Psychotherapie, Terrorismus, Rassismus und immer wieder die Musik. Dass das nicht aufgesetzt wirkt, zählt mit zum größten Verdienst von Cole. Alles ist glaubhaft in der Figur von Julius verankert und betrifft ihn, fordert ihn heraus, zwingt ihn zur Reflektion. Dabei bezieht er nur in den seltensten Fällen einen festen Standpunkt, den er vertritt oder vorgibt zu vertreten. Ansonsten richtet er sich in der neutralen Rolle eines Beobachters ein, der sich einer Wertung verweigert und die Dinge so sehen will, wie sie sich darstellen und ohne Einfluss auf die auszuüben.

Julius ist mit dieser Haltung kaum greifbar. Durch seine Offenheit und Zurückhaltung einer Meinung fällt eine Identifizierung schwer, da seine Identität nicht klar wird. Er ist der Flaneur, der die Stadt in sich aufnimmt aber eben nur selten preis gibt, welche Rolle er in ihr einnimmt und was die Stadt mit ihm anstellt. Alles von ihm Geäußerte ist intellektuell bedacht und emotionslos vorgetragen, so dass der Mensch dahinter bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt. Dennoch unterstellt man ihm als Leser aufgrund der Klarheit und Vernünftigkeit der Gedanken nur das Beste. Umso mehr überrascht es, dass irgendwann dieses bemüht konstruierte Bild von Julius fällt und ein Mensch zu Tage tritt, den man nicht vermutet hätte und der das bislang Gelesene in einem schalen Licht erscheinen lässt.

Jeder Mensch muss sich unter bestimmten Bedingungen als Sollwert der Normalität setzen und davon ausgehen, dass seine Psyche für ihn selbst nicht undurchschaubar ist, nicht undurchschaubar sein kann. Vielleicht verstehen wir das unter geistiger Gesundheit: dass wir uns selbst, so verschroben wir uns auch finden mögen, niemals als die Bösewichte unserer eigenen Geschichte wahrnehmen.

Neben der intensiven Auseinandersetzung mit Julius ist „Open City“ vor allem das Porträt einer Stadtlandschaft. Wenn auch ein großer Teil der Handlung in Brüssel spielt, bleibt New York in dominanter Erinnerung. Cole legt dabei großen Wert auf die Darstellung der zeitlichen Dimension. Kein Heute ist für ihn vorstellbar ohne die allem zugrunde liegende historische Komponente. Ihm gelingt es in wunderbarer Weise, diesen Bogen aus der Vergangenheit zu spannen und eine Ahnung für die gewachsenen Strukturen der Stadt zu schaffen. Immer wieder wird der Geist des Ortes beschworen, um das Heute in ein relativierendes Licht zu setzen, das selbst vor der offenen Wunde von 9/11 nicht halt macht. Dass auch dies so wunderbar authentisch in Julius‘ Spaziergängen durch die Stadt angelegt ist, illustriert das große Können eines Schriftstellers, der vollkommen zu Recht nach diesem Buch gefeiert wurde.


Was bleibt?

Nach „Open City“ bleibt das Gefühl zurück, etwas gelernt zu haben. Über die Unterschiede der alten zur neuen Welt, den Segnungen und Verwirrungen eines gleichmachenden Kosmopolitismus, den Kräften der Selbsttäuschung und noch so vielem mehr. Cole ist ein unglaublich kluger und brillanter Schriftsteller, der all das behandeln kann ohne ein einziges Mal zu belehren oder gar zu langweilen. Ganz im Gegenteil fühlte ich mich in letzter Zeit selten so herausgefordert und zugleich glänzend unterhalten wie bei diesem Buch. Wer unsere heutige Welt ein wenig besser verstehen will, sollte unbedingt zu „Open City“ greifen.

Cole, Teju: Open City. Aus dem Amerikanischen von Christine Richter-Nilsson. Erstmals erschienen 2011.

Taschenbuchausgabe: Suhrkamp. 333 Seiten. ISBN 978-3-518-46486-1. € 10,99.