Clicks gehen vor Liebe
Von Michaela Preiner
„Vereinte Nationen (Prinzip Gonzo)“; Anton Widauer, Philipp Auer, Nélida Martinez, Clara Schulze-Wegener, Emilia Rupperti (Fotorechte: Robert Polster / Volkstheater)
14.
Oktober 2017
Es ist eine perfide Idee, die vielleicht schon irgendwo auf der Welt umgesetzt wird.
Ein Elternpaar beschließt, die Erziehungsmaßnamen für ihre Tochter zu filmen und ins Netz zu stellen. Wer sich die Videos anschaut, muss dafür bezahlen.
Zwei Frauen mit diametralen Charakteren
Neben den Hauptpersonen – der „kleinen Maus“ Martina und ihren Eltern Anton und Karin, zieht im Hintergrund ein Paar die Fäden – Oskar und Jessica. Oskar kümmert sich um die Vermarktungsstrategie der privaten Filme und um die Marktbeobachtung im Netz. Seine Freundin hält ihm dabei den Rücken frei. Gleichwohl leidet sie unter der Brutalität ihres Freundes und versagt sich wegen ihm auch ihren Kinderwunsch.
Das Publikum wird von Beginn an Zeuge von brutalen Erziehungsmethoden. Sowohl psychisch als auch physisch – Martina macht mehrfach Bekanntschaft mit Ohrfeigen – drangsaliert sowohl der Vater auch als die Mutter ihr Kind. Und das alles unter der Prämisse von Einschaltquoten. Clicks gehen eben vor Liebe. Am wichtigsten sind ihnen dabei „natural scenes“, also solche, die nicht erst durch ihre eigene Regie in Gang gesetzt werden, sondern sich aus einer natürlichen Situation ergeben.
Holle Münster (Prinzip Gonzo), die im Volx Margarten mit „Hose Fahrrad Frau“ in der vergangenen Spielzeit eine fulminante Arbeit zeigte, führt auch dieses Mal Regie und gleicht aus, was der Text offenlässt. So visualisiert sie, unter anderem, die seelischen Verletzungen von Martina. Mit dunkelroten Himbeeren verschmiert Nélida Martinez in der Rolle der 7-Jährigen nicht nur den Boden, sondern ganz am Schluss, im Outfit einer Erwachsenen, auch sich selbst. Den psychischen Dreck, den ihr ihre Eltern auf den Lebensweg mitgegeben haben, wird sie offenkundig nicht mehr los.
„Vereinte Nationen“ (Fotorechte: © Robert Polster / Volkstheater)
Zwei Frauen mit diametralen Charakteren
Martinez brilliert mit Philipp Auer (ihr Vater) gleich in der ersten, wichtigen Szene. Dabei wird sie von ihm so gedemütigt, bis sie und auch er selbst vor Ekel erbrechen müssen. Selten funktioniert eine Szene am Theater derart eindringlich wie diese. Die verbalen Grobheiten und Erniedrigungen, die sich das Mädchen über sich ergehen lassen muss, werden ihr von Auer derart glaubwürdig entgegengeschleudert, dass man am liebsten aufstehen und ihm links und rechts eine ins Gesicht schlagen möchte. Auch das von seelischem Schmerz und Angst verzerrte Gesicht von Martinez tut ein Übriges, diesen Akt, der bis an die Grenze des Unerträglichen geht, hoch emotional ins Publikum zu transportieren. Wäre der Rest des Abends gleich intensiv geblieben, hätte man wahrscheinlich Beruhigungspillen ausgeben müssen, um die Aggressionen nicht derart hochkochen zu lassen, dass Handgreiflichkeiten die Folge gewesen wären.
Dies war aber nicht der Fall. Vielmehr bemühte sich das junge Ensemble redlich, der Textvorlage gerecht zu werden, was insofern schwer war, als die einzelnen Figuren darin psychologisch nur marginal ausgearbeitet wurden. Setz überließ es zum Großteil dem Publikum, sich Gedanken über die inneren Antriebe der Charaktere zu machen. Der platten Motivation von Oscar und seiner Freundin – eine Unmenge Geld mit diesem inszenierten, jungen Leben zu verdienen, setzte er noch eine zweite hinzu. Die sexuellen Begehrlichkeiten, die Oscar dem Mädchen gegenüber zu empfinden begann, fielen jedoch nur aufmerksamen Zuseherinnen und Zusehern auf. Zum Glück ließ Holle Münster ihn einmal ganz nah an das Mädchen herantreten und seine Hand beinahe über ihren Kopf streicheln. Etwas später wischte er mit seinen Fingern die rote Kreide an jener Stelle weg, mit welcher Martina den Rock eines Mädchens an eine der Wände kritzelte. Es waren, bis auf einen Nebensatz, die einzigen Hinweise auf einen zu erwartenden Missbrauch. Ob das bewusst hervorgerufene Zerplatzen eines Luftballons in den Händen des Kindes auf einen tatsächlich stattgefundenen Gewaltakt verwies, ist Interpretationssache.
„Vereinte Nationen“ (Fotorechte: © Robert Polster / Volkstheater)
Zwei Frauen mit diametralen Charakteren
Auch die hündische Treue seiner Freundin lässt sich nur durch Angst vor ihm erklären, welche die Regisseurin in einer Szene aufzeigt. Im Text wird sie aber nicht weiter thematisiert. Martinas Mutter, die ihren Mann, der ab einem gewissen Zeitpunkt von Gewissensbissen geplagt wird, noch überflügelt, was die brutalen Erziehungsmethoden betrifft, erhält von Setz eine aufgesetzte, emanzipatorische Geste. Sie hat es satt, im Hintergrund zu stehen und verbalisiert dies lautstark. Die Forderung, doch auch im Film vorkommen zu dürfen, ist unglaubwürdig, besonders in jenem Moment, in dem ihrem Mann klar wird, dass mit der Veröffentlichung von dem privaten Filmmaterial jeglichen Spannern Tür und Tor geöffnet wurde.
Clara Schulze-Wegener als Mutter und Emilia Rupperti als Jessica füllen ihre Frauen-Figuren mit größtmöglichem Leben. Schulze-Wegener steckt dabei das Publikum an einer Stelle sogar mit einem Lachkrampf an, während Rupperti als Erfüllungsgehilfin ihres Mannes mit einem Luftballon die kleine Martina von zuhause wegzulocken versucht. Anton Widauer hat in seiner Rolle als Oscar die größte Herausforderung zu meistern. Muss er doch zwischen smartem Businessman und grauslichem Grobling changieren. Robert Hartmann schuf für die spannenden Szenen einen ebensolchen, sehr subtilen Soundlayer. Thea Hoffmann-Axthelm verpasste allen Beteiligten zeitgeistige, bunte Adidas-Outfits und ließ die Bühne in verschiebbaren, grünem Gummibaum-Wänden und einem hellen Wolkenhimmel poppig glänzen.
Die Loops und Rewinds, die von Martina immer wieder von den anderen eingefordert werden, fallen überraschenderweise nicht immer ident aus. Ein Zeichen, dass die Regisseurin auf multiple Bestrafungen des Kindes verweist, welche diese auch im Erwachsenenalter immer wieder vor ihrem geistigen Auge ablaufen lassen kann.
„Vereinte Nationen“ (Fotorechte: © Robert Polster / Volkstheater)
Setz wartet zwar auch mit einigen sehr gelungenen Sätzen und Gedanken auf, wie jenen, in welchen der Vater seiner Tochter erklärt, dass Widerrede nur bei den Vereinten Nationen ausgesprochen werden dürfe. Auch die Metapher des Sternenhimmels, auf den jemand etwas „wirklich Verbotenes, eine richtige Sauerei“ projizierte, die man sich aber allnächtlich ansehen müsse und die sich ins Gehirn einpräge, macht klar, dass der Autor das Zeug dazu hat, mit einem brillanten Spracheinsatz aufzuwarten. Schade, dass davon nicht viel mehr im Stück zu hören ist. Vielleicht ist es auch der abrupte Schluss, der dazu beiträgt, das Drama nicht als rund zu empfinden. Sicherlich ist dieser intendiert – aber das geht eleganter.
Es bleibt dennoch die Frage offen, warum man es dem Schauspielnachwuchs in diesem Fall so schwergemacht hat. Zynische, oder vom Leben gezeichnete und verbogene Menschen zu spielen, deren Charakterprofile nicht wirklich scharf herausgearbeitet angelegt sind, ist mehr als herausfordernd. Ein durchwachsener Abend, an dem Regie und Ensemble dennoch ihre Qualitäten zeigen dürfen.
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