Glücklicherweise wusste ich vor dem Lesen dieses Romans nichts über seinen Inhalt, habe einfach angefangen. „Lies mal die Piñeiro. Die wird dir gefallen.“ Diese zwei Sätze einer guten Freundin noch im Ohr, verzichte ich sogar auf den Klappentext (ein Tipp, den ich unbedingt weitergeben möchte, da dort alles, was den Roman so besonders macht, vorweggenommen wird). Ich starte also völlig ahnungslos mit den ersten Sätzen …
Ich hätte Nein sagen sollen, dass es nicht geht, dass ich nicht wegkann. Irgendwas sagen, egal was. Aber das habe ich nicht getan. Immer wieder habe ich mir die Gründe aufgezählt, warum ich mich, statt Nein zu sagen, am Ende doch bereit erklärt habe. Der Abgrund zieht uns an. Manchmal ohne dass wir es merken. Wie ein Magnet. Dann treten wir an den Rand, blicken in die Tiefe – und könnten springen. Ich bin so jemand. Ich könnte vortreten, mich in die Tiefe stürzen, in die Leere, ins Nichts fallen lassen, nur um – endlich – frei zu sein (S. 10).
Sofort sitze ich kerzengerade, mit dem Buch in der Hand. Meine Sinne sind geschärft. Was für ein Romanbeginn! Wer ist diese Frau, die nach so langer Zeit zurückgeht nach Argentinien und dafür ihren gesamten Mut zu brauchen scheint? Warum will sie eigentlich viel lieber in den „Abgrund“ springen? Was war überhaupt der Grund, dass sie vor fast 20 Jahren Buenos Aires verlassen hat? Weshalb ist sie nach Boston gegangen, und hat dort ein neues Leben begonnen? Ihr Weggehen sei auch eher eine Flucht gewesen, sagt sie. Vor was? Die Autorin hat mich jetzt hundertprozentig. Und die Spannung, welche sie aufbaut, ist genau das, was ich will!
Erste wichtige Details erfahre ich auf den nächsten Seiten. Fakten, präzise geschossen wie aus einem Maschinengewehr. Dass ich Robert begegnet bin, war meine Rettung. Ich weiß nicht, wo ich ohne ihn gelandet wäre. Als ich mich schon aufgeben wollte, war er auf einmal da und nahm mich mit nach Boston (S. 13). Weitere Puzzleteile: Mary Lohan ist Spanischlehrerin und heißt eigentlich María Elena – welch schöner ausdrucksstarker Name. Was sie mir dann schließlich restlos sympathisch macht, das ist, wie sie bei der Ankunft des Flugzeuges gelassen in ihrem Sitz bleibt, den hektischen Aufbruch der anderen Reisenden ignorierend. Denn seit sie damals vor fast 20 Jahren geflohen ist, kann nichts und niemand sie mehr drängen: Eile, das habe ich mir seit Langem abgewöhnt … Slow down (S. 25). Dafür nun diese große Gelassenheit im Alltag. Ich sehe sie durch das Flughafengelände schreiten wie eine Diva. Die Sonnenbrille. Der kleine Rollkoffer. Was aber niemand sieht und nur der Leser spürt, das ist ihre tiefe Unsicherheit. Dann eine erste Begegnung mit einem jungen Studenten an der Uni und schließlich ein Text, der zu schreiben ist. María Elena entscheidet sich, diesen Text nicht Tagebuch sondern Logbuch zu nennen. Um Tagebuch zu schreiben, muss man überzeugt sein, dass das eigene Leben es wert ist, erzählt zu werden, und das bin ich nicht (S. 15).
Schicht um Schicht dringe ich tiefer ein in diese außergewöhnliche Geschichte, die manchmal von kleinen Textpassagen unterbrochen wird, welche von einem Ereignis berichten, das wahrscheinlich in einer vergangenen Zeit passiert ist. Ein Bahndamm. Eine Schranke, die sich nicht öffnet –
Es wäre schade, an dieser Stelle mehr zu verraten, weil genau darin die ungeheure Spannung besteht, die Claudia Piñeiro aufbaut! 1960 in Buenos Aires geboren, kann sie auf eine Vielzahl großartiger Romane schauen und ist aus der argentinischen Literatur nicht mehr wegzudenken. Ins Deutsche übersetzt erscheinen ihre Bücher regelmäßig im Unionsverlag. So auch der gerade erschienene Roman Ein wenig Glück. Tief dringt Piñeiro in die Psyche ihrer Figuren ein. Zeigt Verständnis für alle Seiten der Geschichte, weil es nie nur eine Wahrheit gibt. Meisterhaft, wie sie das Drama einer zerfallenden Familie und die nie versiegende Sehnsucht einer Mutter zu ihrem Kind beschreibt. Und genial, wie sie diese Geschichte enden lässt! Ein Sonntag auf meinem Sofa, der sich absolut gelohnt hat.
Claudi Piñeiro. Ein wenig Glück. Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold. Unionsverlag. Zürich 2016. 219 Seiten. 22,- €