Die Armut in unserem reichen Land beschäftigte Christoph Butterwegge schon, als sie in der Bundesrepublik noch tabu war. Jetzt hat der Kölner Politikprofessor sein Standardwerk Armut in einem reichen Land in einer Neuauflage aktualisiert: Was hat die Neuregelung zu Hartz IV gebracht? Wie lässt sich die Schere zwischen Arm und Reich schließen? Wir erwischen ihn auf dem Rückweg aus Hamburg, wo er bei Beckmann eine Sendung zum Thema Obdachlosigkeit aufgezeichnet hat. Im Vorgespräch erzählt er, dass im vergangenen Herbst in St. Pauli ein Zaun aufgestellt wurde, um die Obdachlosen daran zu hindern, in die Touristengegend vorzustoßen.
Herr Butterwegge, wird Armut in Deutschland verleugnet?
Butterwegge: Natürlich ist Armut lange Zeit ein Tabu gewesen, aber man kann beobachten, dass sie nach Einführung von Hartz IV, aber auch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Gesellschaft sehr viel stärker präsent ist als vor zehn Jahren. Gleichwohl besteht die Tendenz zur Verharmlosung fort. Symptomatisch hierfür ist das Buch von Thilo Sarrazin. Er bestreitet die Armut in der Bundesrepublik, indem er die Situation der Hartz-IV-Empfänger mit der von Durchschnittsverdienern im «Wirtschaftswunder» oder in Ländern wie der Türkei heute vergleicht und zu dem Schluss gelangt, bei uns jammere man auf hohem Niveau.
Dem widerspreche ich energisch, denn man muss Armut immer auf das Hier und Jetzt beziehen, kann sie also nicht schönreden durch willkürliche Vergleiche. Thilo Sarrazin tut da etwas, das Methode hat: Die Armut wird bagatellisiert, und auf der anderen Seite unterstellt man den Betroffenen, sie seien selbst an ihrer Misere schuld, weil unwillig, durch Bildungsanstrengungen und Arbeitsbereitschaft aus dieser prekären Situation herauszukommen.
Ein Trend, den auch die Langzeitstudie «Deutsche Zustände» kürzlich festgestellt hat: Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose werden immer stärker diskriminiert. Was ist los in unserer Gesellschaft?
Butterwegge: Aufgrund der jüngsten Krise nimmt die Angst vor dem sozialem Abstieg in der Mittelschicht zu. Viele haben Angst davor, spätestens im Alter selber arm zu werden, und die meisten reagieren darauf mit stärkerer Abgrenzung nach unten. Man macht die Armen für ihre missliche Lage verantwortlich und redet sich auf diese Weise ein, dass man selbst nie zu den Betroffenen gehören kann, schützt sich also scheinbar davor, arm zu werden. Es handelt sich um einen psychologischen Verdrängungsmechanismus, der nachvollziehbar ist, aber eigentlich eine falsche Reaktion auf gesellschaftliche Krisenerscheinungen darstellt.
Gerade ist die Neuauflage von Armut in einem reichen Land erschienen. Seit der ersten Auflage ist der Hartz-IV-Satz ist um 15 Euro gestiegen, es gibt ein Bildungspaket – können Sie positive Entwicklungen vermelden?
Butterwegge: Die jüngste Hartz-IV-Neuregelung war für die Betroffenen enttäuschend. Besonders stößt mir auf, dass sie nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht, allen Bürgern ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewähren. Fünf Euro mehr und dann noch mal zehn Euro seit dem 1. Januar 2012 sind aufgrund der Preissteigerungen schon für die Erwachsenen nicht ausreichend, besonders zu bemängeln ist aber, dass der Regelsatz für Schulkinder und Jugendliche überhaupt nicht gestiegen, sondern bei 251 beziehungsweise 287 Euro geblieben ist.
Nun wurde ja für Kinder das Bildungspaket geschnürt…
Butterwegge: Aus meiner Sicht ist das eine sozialpolitische Mogelpackung. Das bürokratische Antragsverfahren hat die meisten Eltern im Hartz-IV-Bezug davon abgehalten, es zu beantragen. Insgesamt hat sich die Lage der Armen seit der ersten Auflage meines Buches also eher verschlechtert, zumal gar nicht der politische Wille vorhanden zu sein scheint, die Armut wirksam zu bekämpfen. Statt den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, wie in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, hat die Regierungskoalition von CDU, CDU und FDP die Spaltung in Arm und Reich vorangetrieben. Einerseits wurden die Besserverdienenden durch die Senkung der Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen oder die Erbschaftssteuerreform begünstigt. Andererseits wurde den Hartz-IV-Betroffenen das Elterngeld gestrichen und bei der beruflichen Weiterbildung drastisch gekürzt.
Sie sagen, dass auch die Mittelschicht den Absturz fürchtet. Warum muss sie das?
Butterwegge: Wir haben nach den USA den wohl breitesten Niedriglohnsektor der hochentwickelten Industrieländer. Er weitet sich in die Mitte hinein aus: Fast 25 Prozent erhalten inzwischen weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns.
Nun hat am Freitag der Bundestag über die Einführung eines Mindestlohns debattiert. Was versprechen Sie sich davon?
Butterwegge: Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn könnte den Niedriglohnsektor eindämmen oder zurückdrängen helfen. Das wäre auch dringend nötig. 20 von 27 EU-Ländern haben schon einen Mindestlohn.
Die SPD fordert 8,50 Euro, die Linke 10 Euro. Was halten sie für sinnvoll?
Butterwegge: Ich denke schon eher in die Richtung von 10 Euro. Schließlich beträgt der Mindestlohn in Frankreich über 9 Euro, und in anderen Ländern wie Luxemburg und Dänemark sogar deutlich über 10 Euro. Dagegen reicht ein Mindestlohn von 8,50 Euro selbst bei Vollzeittätigkeit und 45 Versicherungsjahren kaum aus, um über die Höhe der Grundsicherung im Alter hinauszukommen. Das Problem der Altersarmut ist eine soziale Zeitbombe und eine Folge der Prekarisierung der Arbeitswelt durch Zwangsteilzeit, Minijobs und Leiharbeit. Um die Tendenz einzudämmen, dass man von seiner Arbeit sich und seine Familie nicht ernähren kann, wäre ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn das wahrscheinlich einzige Mittel.
Kann man denn davon ausgehen, dass dann auch alle diesen Mindestlohn erhalten?
Butterwegge: Alle gesetzlichen Maßregeln bergen die Gefahr, dass die davon Betroffenen sie zu umgehen versuchen. Obwohl der seit dem 1. Januar 2012 in der Leiharbeit geltende Mindestlohn äußerst niedrig ist, suchen manche Firmen ihn bereits durch Werkverträge auszuhebeln. Aber das spricht natürlich keineswegs gegen einen Mindestlohn, sondern dafür, solche Schlupflöcher möglichst bald zu schließen. Zwar würden nicht alle Menschen in vollem Maße von einem gesetzlichen Mindestlohn profitieren, aber er würde den Wettlauf nach unten, der bei Löhnen und Gehältern in Deutschland spätestens seit der Jahrtausendwende stattfindet, stoppen oder verlangsamen. Die Bundesrepublik ist das einzige hochentwickelte Industrieland neben Japan, in dem man seither eine Senkung der Reallöhne, besonders jener von Geringqualifizierten, verzeichnet.
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Ist die deutsche Wirtschaft auch deshalb so blühend aus der Krise gekommen?
Butterwegge: Tatsächlich hat ihre Strategie des Lohndumpings sie auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger gemacht. EU-Länder, mit denen die Bundesrepublik Handel treibt, hatten früher den Vorteil niedrigerer Löhne. Diesen hat sie durch Lohndumping wettgemacht, und ihre gewachsene Exportstärke hat dazu beigetragen, dass die Krise hier nicht so stark zum Ausbruch gekommen ist. Gleichzeitig hat aber die starke Stellung der Bundesrepublik die Lage der anderen EU-Länder verschlechtert und mit dazu geführt, dass sich diese höher verschulden mussten. Denn wenn man mehr Waren aus Deutschland einführt, weil sie vergleichsweise billig produziert worden sind und ihr Preis daher gesunken ist, die eigenen Waren aber schlechter dorthin verkaufen kann, weil die Bundesrepublik sie jetzt genauso günstig herstellt, führt das dazu, dass man die Importe aus Deutschland nicht bezahlen kann. Das trägt zur höheren Verschuldung der Handelspartner bei.
Ein Mindestlohn wäre also nebenbei auch ein Mittel…
Butterwegge: … um die Krisenhaftigkeit in der EU entscheidend zu verringern, ja.
Deutschland ist also Ihrer Ansicht nach auch mitnichten der große Retter der Europäischen Union?
Butterwegge: Deutschland profitiert sogar von der Schuldenkrise anderer Länder, zum Beispiel, weil Investoren jetzt noch lieber deutsche Staatsanleihen kaufen und damit die Zinsen für den Bund sinken.
Wäre eine schwächere deutsche Wirtschaft letztlich sowohl für die hiesigen Armen als auch für die EU besser?
Butterwegge: Ja, das ist so. Aber natürlich wehren sich die Profiteure der bestehenden Verhältnisse dagegen, dass sich an diesen etwas ändert. Sie werfen auch ideologische Nebelkerzen, indem sie so tun, als sei Griechenland selbst schuld an der übermäßigen Verschuldung. Da wird auf die «faulen Südeuropäer» hingewiesen und darauf, dass sie ihren Staatshaushalt nicht in Ordnung halten. Aber das sind natürlich alles ideologische Verklärungen der eigentlichen Zusammenhänge, die mit der sozialen Ungleichheit und Machtungleichgewichten in Europa zu tun haben.
Was schlagen Sie vor, um das Ungleichgewicht gerade zu rücken?
Butterwegge: Für mich beeinhaltet eine europäische Integration, die den Namen verdient, dass man auch miteinander für Schulden des anderen EU-Mitgliedslandes geradesteht. Neben einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte und einer Finanztransaktionssteuer, wie sie Attac seit seiner Gründung fordert, wäre die Ausgabe von Eurobonds nötig. Bisher sind keine praktischen Konsequenzen aus der Weltfinanzkrise gezogen worden, was zeigt, wie stark die Widerstände sind bei denen, die sich von ungebremster Spekulation riesige Gewinne versprechen.
Professor Christoph Butterwegge lehrt an der Universität Köln Politikwissenschaft und ist Deutschlands bekanntester Armutsforscher. Ursprünglich forschte er zu Sozialdemokratie, Friedenspolitik und Rassismus, seit Mitte der 1990er ist Armut sein großes Thema. Als die SPD 2005 eine große Koalition mit der CDU einging, trat er nach 25 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei aus. Soeben sind Neuauflagen seiner Bücher Armut in einem reichen Land und Krise und Zukunft des Sozialstaates erschienen.
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Armut und Europa – Deutschlands rücksichtsloser Boom
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