Bundespräsident Gauck würdigte bei seinem Israelbesuch die Opfer nationalsozialistischen Terrors in einer Weise, die dem, was damals geschah, der Form nach gewiss angemessen war. Aber ist er dabei ganz ehrlich gewesen, unterschlug er nicht einen wesentlichen Teil der Wahrheit? Gerade er, der zugleich Repräsentant einer Religion ist, die von ihrem Beginn an Antijudaismus bzw. Antisemitismus praktizierte, hätte mehr zu erklären.
Ein Kommentar von Uwe Lehnert
In den wenigen Geschichtsstunden in meiner Schulzeit zu diesem Thema, hauptsächlich jedoch bei der Zeitungslektüre über Prozesse gegen KZ-Kommandanten, fragte ich mich immer wieder, wie es möglich war, in der relativen Kürze der nationalsozialistischen Herrschaft ein solches Vernichtungsprogramm umzusetzen. Es muss – so meine damals unterschwellige Vermutung – schon eine breite antisemitische, mindestens jedoch gleichgültige Haltung in der Bevölkerung vorhanden gewesen sein. Denn ohne diese wäre die rassisch-ideologische Begründung dieser Vernichtungsmaßnahmen nicht von so vielen Mithelfern und Mitwissern so einfach hingenommen worden.
Der Hinweis auf die – tatsächlich ja begründete – Angst der Menschen vor eigener Verfolgung, wenn Widerspruch offen geäußert oder gar Widerstand geleistet worden wäre, erklärt dieses Phänomen in keiner Weise. Selbst hohe Kirchenvertreter, denen Amt und gesellschaftliche Stellung genügend Schutz vor unmittelbarer Bedrohung geboten hätten, verurteilten diese Verfolgungen nicht, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen. Ich kann mir das nur mit einer latent schon vorhandenen, und zwar europaweit verbreiteten, antijüdischen Grundhaltung weiter Bevölkerungskreise und -schichten erklären. Und blickt man zurück in die Geschichte, dann stellt man schnell fest, dass es tatsächlich schon seit Jahrhunderten furchtbare Pogrome und Vernichtungsaktionen gegen die Juden gegeben hat. Der Antisemitismus ist also keine Erfindung der Nationalsozialisten, wie uns durch Schule und Nachkriegsaufklärung suggeriert werden sollte, sondern hat viel tiefer und viel weiter zurück liegende Ursachen. Die Wurzeln dieses Antisemitismus gründen – und diese Erkenntnis war auch für mich zunächst unglaublich – praktisch ausschließlich in der christlichen Lehre und der sich auf sie berufenden Kirche!
Diese für viele gutgläubige Christen sicherlich schwer zu ertragende Behauptung wird inzwischen von vielen Religionswissenschaftlern, ja selbst von evangelischen Theologen, zum Beispiel von GERD LÜDEMANN, und katholischen, zum Beispiel UTA RANKE-HEINEMANN, ausführlich begründet und vertreten. RANKE-HEINEMANN formuliert: »Die 2000-jährige Geschichte des Christentums ist eine Geschichte 2000-jähriger Judenverfolgung.« Der aus der Kirche ausgetretene Theologe JOACHIM KAHL führt in seinem Bestseller »Das Elend des Christentums« unter anderem aus:
»[Die Evangelien bemühen sich,] die Schuld am Tode Jesu von den römischen Behörden (Pilatus) ganz auf die Juden abzuwälzen. Schon bei Markus, dem ältesten Evangelium, sträubt Pilatus sich, Jesus zu verurteilen (15, 10: ›Denn er erkannte, daß ihn die Hohenpriester aus Neid überliefert hatten‹). Noch eindringlicher läßt Lukas den Pilatus die Unschuld Jesu beteuern (23, 4: ›Pilatus aber sagte zu den Hohenpriestern und der Volksmenge: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen‹, vgl. 23, Verse 14, 20, 22, 25). Matthäus vollends fügte die bekannte Szene ein, wo Pilatus sich die Hände wäscht und beteuert: ›Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten; sehet ihr zu‹ (27, 24). Dann folgt jener berüchtigte Vers, der sich in den folgenden Jahrhunderten schauerlich erfüllen sollte: ›Und alles Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹ Diese Selbstverfluchung, die Matthäus infam erfand – wie die historisch-kritische Forschung längst nachgewiesen hat –, halst dem jüdischen Volk als Ganzem die Schuld am Tode des Gottessohnes auf.« (1)
Was wäre aus der christlichen Lehre geworden, wenn den Juden nicht diese Rolle zugedacht worden wäre, wenn Judas Jesus nicht verraten hätte? Wäre Jesus verhaftet und gekreuzigt worden, wäre er wie beschrieben auferstanden? Wäre Jesus dann für uns zu jenem göttlichen Erlöser erklärt worden? So wie geschehen, lief es ja eigentlich entsprechend Gottes Willen ab: Verrat, Verurteilung, Hinrichtung. KAHL fährt auf derselben Seite fort:
»Der antisemitisch zugespitzte Vorwurf des Christusmordes findet sich auch bei Paulus, der im ersten Thessalonicherbrief schreibt: ›Sie haben den Herrn Jesus und die Propheten getötet und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind gegen alle Menschen feindselig. Sie hindern uns, den Heiden zu ihrem Heil zu predigen, damit sie das Maß ihrer Sünden jederzeit voll machen. Doch das Zornesgericht ist endgültig über sie gekommen‹ (2, 15f).« … »Den unüberbietbaren Gipfel neutestamentlichen Antisemitismus stellt das Johannesevangelium dar, an dem sich besonders deutlich ablesen läßt, daß jede christliche Theologie notwendig ihren Juden, die mythische Projektion des absoluten Außenfeindes, braucht. Klarer als alle anderen Schriften durchzieht das vierte Evangelium ein strenger Dualismus, der mit den Begriffen: Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, oben und unten, himmlisch und irdisch, Gott und Teufel, Freiheit und Knechtschaft, Leben und Tod operiert. Dem Licht gehört an, wer dem Offenbarer glaubt, der da sagt: ›Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich‹ (Joh 14, 6) Der Finsternis und der Lüge ist verfallen, wer den himmlischen Gesandten abweist, ja, wer nur nach seiner Legitimation fragt. Der entscheidende Begriff, der den Ungläubigen beigelegt wird, ist der der ›Welt‹ – oder der der ›Juden‹. Beides wird durchgängig austauschbar gebraucht. Die Juden stammen weder von Gott noch von Abraham ab, sondern vom Teufel (Joh 8, 44). Als Kinder des Teufels, des Vaters der Lüge und des Menschenmörders von Anfang an, trachten sie Jesus notwendigerweise nach dem Leben.«
Des weiteren führt KAHL aus, dass Kirchenlehrer und Kirchenväter auf der Basis dieser und weiterer Bibelstellen bereits in den ersten Jahrhunderten in ihren Schriften die Juden als Mörder von Christus, als Fälscher der Heiligen Schrift, als geldgierig und verbrecherisch, ihre Synagogen als Satansburgen (Offenbarung des Johannes, Kap. 3, Vers 9!) brandmarkten. Unter Kaiser Konstantin (4. Jahrhundert) und seinen Söhnen wurde der Übertritt zum Judentum mit schweren Strafen belegt und Mischehen zwischen Juden und Christen mit dem Tode bestraft. Unter Kaiser THEODOSIUS II. (5. Jahrhundert) wurden die Juden von allen öffentlichen Ämtern und Würden ausgeschlossen. Das IV. Laterankonzil (1215) legte eine besondere Judentracht fest: Ein gelber Fleck im Obergewand und eine gehörnte Kappe. KAHL verweist darauf, dass unzählige Mysterien-, Passions- und Fastnachtsspiele, Traktate und Heiligenlegenden die Juden verhöhnen und verleumden. Viele mittelalterliche Bilder stellen den Teufel mit einer gebogenen Nase (Judennase) dar. In vielen alten, gelegentlich noch heute zu hörenden Sprichwörtern und Redewendungen steht das biblisch bezogene »Jüdische« als Synonym für das Böse und Negative schlechthin.
Diese wenigen, hier nur angedeuteten Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren. Sie lassen unzweideutig erkennen, dass durch die gesamte Kirchengeschichte, und zwar von Anfang an, die Juden als teuflische Elemente angesehen und für alle Übel dieser Welt verantwortlich gemacht wurden, beispielsweise auch für die verheerende, Millionen Menschen dahinraffende Pestepidemie von 1347-1349. Muss man sich da noch wundern, dass sich auf diese Weise eine tiefsitzende Abneigung, ja geradezu Hass – so bar jeder rationalen Begründung auch immer – in allen Bevölkerungsschichten breit gemacht und tief verankert hat? Wenn dann noch eine so sprachgewaltige Autorität wie Martin Luther mit seinem weitreichenden, bis in unsere Zeit wirksamen Einfluss seine wohlüberlegten Hetztiraden gegen die Juden loslässt (siehe sein Buch „Von den Juden und ihren Lügen“, das bis in Einzelheiten das nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungsprogramm vorwegnahm), dann kann ich nicht anders, als von einer systemimmanenten, das heißt, dieser christlichen Lehre als Wesensbestandteil innewohnenden Ungeheuerlichkeit zu sprechen. Nur in seltenen Fällen widersprachen Päpste und Bischöfe diesen Verleumdungen und Verfolgungen.
Wer an den Begriffen »Wesensbestandteil« und »Ungeheuerlichkeit« Anstoß nimmt, überlege sich, was alles aus dem Neuen Testament gestrichen werden müsste, welche Konsequenzen das für die Leidensgeschichte von Jesus und die darin tragende Rolle der Juden hätte und welchen Verlauf die moralische und zivilisatorische Entwicklung in Europa genommen hätte, wenn den Juden nicht diese infame Rolle zugewiesen worden wäre. »Judas der Verräter« und »die Juden als Gottesmörder« sind begriffliche Etiketten, die ihre diffamierende Wirkung bis heute entfalten.
Wer diese Zeilen nur mit abwehrendem Kopfschütteln lesen und nicht akzeptieren mag, nehme wenigstens die Seiten 42-52 in JOACHIM KAHL: »Das Elend des Christentums« zur Kenntnis oder in KARLHEINZ DESCHNER »Abermals krähte der Hahn« die Seiten 442-464. Wer sich umfassender informieren möchte, lese – wie oben schon erwähnt – »Das Unheilige in der heiligen Schrift« des evangelischen Theologen GERD LÜDEMANN oder »Nein und Amen – Mein Abschied vom traditionellen Christentum« der katholischen Theologin UTA RANKE-HEINEMANN.(2)
In seinem jüngst erschienenen Buch »Gesichter des Antisemitismus« beschreibt der international als Wissenschaftler und Autor zahlreicher historischer Werke ausgewiesene Antisemitismusforscher WALTER LAQUEUR, welche Formen des Hasses den Juden schon in der Antike entgegenschlugen. Neben der üblichen, in allen Kulturen anzutreffenden Fremdenfeindlichkeit war es hier vor allem die christlich-religiöse Begründung. LAQUEUR stellt fest (S. 14): »Aus historischer Sicht bedeutsam ist die Tatsache, dass sich das von den christlichen … Theologen geschaffene Stereotyp des Juden über Jahrhunderte hinweg hielt und bis heute weiterwirkt«. Er verweist auf einschlägige antijüdische Stellen im Matthäus-, Lukas- und Johannes-Evangelium (S. 60f). Als besonders feindselig gegenüber den Juden erwähnt er die Kirchenmänner Justin der Märtyrer, Origines, Bischof von Alexandria, und Johannes Chrysostomos, Erzbischof von Konstantinopel, sowie den bis heute hoch geschätzten Kirchenvater Aurelius Augustinus (S. 62f).(3)
Ein antichristlicher Polemik gewiss unverdächtiger Autor ist der bekannte und allseits geachtete Theologe HANS KÜNG (*1928). Er schreibt in seinem Buch: »Christ sein«:
»… so verschärfte sich die Lage der Juden insbesondere seit dem Hochmittelalter ungemein: Judenschlächtereien in Westeuropa während der ersten drei Kreuzzüge und Ausrottung der Juden in Palästina. Die Vernichtung von 300 jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich 1348/49 und die Ausweisung der Juden aus England (1290), Frankreich (1394), Spanien (1492) und Portugal (1497). Später dann aber auch die greulichen antijüdischen Hetzreden des alten Luther, Judenverfolgungen nach der Reformation, Pogrome in Osteuropa … Alles unfaßbar für den Verstand eines heutigen Christen. … Nicht die Reformation, sondern der Humanismus (Reuchlin, Scaliger), dann der Pietismus (Zinzendorf) und besonders die Aufklärung (Menschenrechtserklärung in den Vereinigten Staaten und in der Französischen Revolution) haben eine Änderung vorbereitet und teilweise durchgesetzt.«(4)
Die immer wieder aufgestellte Behauptung von der moralischen Bastion des Christentums beruht also auf absoluter Unkenntnis oder dem Nichtwahrhaben-Wollen der in weiten Strecken blutrünstigen Geschichte dieser Religion und der auf ihr errichteten Kirche.
Um aber auch das ganz deutlich zu sagen: Die für mich zur Tatsache gewordene These von den christlichen und kirchlichen Wurzeln des Antisemitismus relativiert die exorbitanten Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden nicht um einen Hauch. Sie macht mir aber den vergleichsweise geringen Grad an Widerstand auch führender gesellschaftlicher und politischer Kräfte im In- und Ausland gegen diese staatlichen Massenmorde verständlicher. Die ob ihres selbstlosen Mutes und ihrer menschlichen Solidarität moralisch nicht hoch genug einzuschätzenden Aktivitäten einzelner Helfer der Verfolgten und in kleinen, auch christlichen beziehungsweise kirchlichen Gruppen organisierten Widerstandskämpfer, die sich gegen diese Mordmaschinerie auflehnten, konnten leider am Ergebnis nicht viel ändern, auch wenn jedes einzelne gerettete Menschenleben unendlich schwer wiegt.
Bekannt ist das offenbar gleichgültige, manche Historiker sprechen sogar von einem stillschweigend zustimmenden Schweigen von Papst PIUS XII. (1876-1958) während der nationalsozialistischen Herrschaft zu den Verbrechen, für die Auschwitz als Symbol steht. Welche Rolle spielte der 1933 zwischen dem Vatikan und der Hitlerregierung geschlossene, noch heute (!) gültige Vertrag, das so genannte Reichskonkordat? Ob die darin der katholischen Kirche großzügig eingeräumten Zugeständnisse den Vatikan veranlassten, in quasi neutraler Haltung über die Geschehnisse im Zusammenhang mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung hinwegzusehen?
Fest steht, dass die katholische Kirche in erheblichem Maße das Hitler-Regime gestützt hat. Dies hier im Einzelnen zu begründen, würde den Rahmen meiner Ausführungen sprengen. Aber eine Stimme sei hier erwähnt, die sehr deutlich zumindest das Versagen der führenden Köpfe auch der katholischen Kirche, nämlich der Bischöfe, beklagt. Kein Geringerer als KONRAD ADENAUER (1876-1967) schrieb am 23. Februar 1946 an Pastor BERNHARD CUSTODIS:
»Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder in Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das kein Schade, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen und darum schweigt man am besten.«(5)
Kaum bekannt ist, dass die evangelischen Landesbischöfe und Landeskirchenpräsidenten von Sachsen, Hessen-Nassau, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt, Thüringen und Lübeck am 17.12.1941 sich mit folgender Erklärung eindeutig hinter das nationalsozialistische Programm der Judenverfolgung stellten:
»Die nationalsozialistische deutsche Führung hat mit zahlreichen Dokumenten unwiderleglich bewiesen, daß dieser Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt ist. Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen Evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der unter anderem die Reichspolizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat. Schon Dr. Martin Luther erhob nach bitteren Erfahrungen die Forderung, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen. Von der Kreuzigung Christi bis zum heutigen Tage haben die Juden das Christentum bekämpft oder zur Erreichung ihrer eigennützigen Ziele missbraucht oder verfälscht. Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart des Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischen Sein nichts geändert. Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht. Die unterzeichneten deutschen Evangelischen Kirchen und Kirchenleiter haben deshalb jegliche Gemeinschaft mit Judenchristen aufgehoben. Sie sind entschlos¬sen, keinerlei Einflüsse jüdischen Geis¬tes auf das deutsche religiöse und kirchliche Leben zu dulden.«(6)
Die Verbeugung dieser Kirchenoberen vor den damaligen Machthabern folgt einer klaren Weisung der Bibel. Im Brief des Paulus an die Römer, Kapitel 13, Vers 1 und 2 fordert der erste Theologe der Christenheit:
»Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen.«
Von einem offiziellen Bedauern oder gar einer Rücknahme dieses unseligen Papiers der Bischöfe habe ich nie gehört oder gelesen. Wo blieb der Aufschrei und der Protest der Kirchen, als in der Reichspogrom-Nacht von 1938 die Synagogen brannten? Einzelne mutige Pfarrer protestierten, die Kirchenleitungen schwiegen! Der evangelische Landesbischof von Thüringen MARTIN SASSE schrieb 1938 im Vorwort zu seiner Schrift »Martin Luther über die Juden – Weg mit ihnen!« sogar zustimmend:
»Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. … In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.« ..(7)
Gewiss wäre es falsch und ungerecht, zu verallgemeinern und evangelische Christen insgesamt zu verurteilen. Aber immerhin handelte es sich bei den Autoren der beiden Dokumente um führende Repräsentanten einer Institution, die von sich behauptet, Interpretin und Hüterin göttlich gestifteter Moral zu sein. Mit welchem Recht wirft man dem einfachen Bürger vor, seinerzeit nicht Widerstand geleistet zu haben, wenn gut informierte, maßgebliche und meinungsbildende Köpfe die Verfolgung der Juden ideologisch rechtfertigten!
Es gab in der Tat Protest und Widerstand. MARTIN NIEMÖLLER (1892-1984) u. a. gründeten den Pfarrernotbund, der sich dagegen wehrte, »nichtarische« Christen aus der evangelischen Kirche auszuschließen. Ihm gehörten tausende evangelische Pfarrer an, sie halfen vielen verfolgten Juden in verschiedenster Weise. Aus dem Pfarrernotbund ging die »Bekennende Kirche« hervor. Sie stellte zwar nur eine Minderheit der deutschen Protestanten dar, wandte sich aber entschieden gegen die regimetreue Haltung großer Teile der offiziellen evangelischen Kirche. Ihre Wirkung zu Gunsten der Juden blieb aber begrenzt. Zum einen, weil viele ihrer Mitglieder verhaftet wurden, zum andern, weil erhebliche Teile dieser Bewegung zum Völkermord an den Juden – aus verständlicher Angst – schwiegen.
Wer sich anhand von Originalzitaten in überschaubarer Zeit über die tatsächliche Haltung wesentlicher Repräsentanten der beiden deutschen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus informieren möchte, sei auf eine Zusammenstellung verwiesen, die WOLFGANG KLOSTERHALFEN (*1945), der geniale Autor der »Reimbibel«, zusammengestellt und über das Internet zugänglich gemacht hat. Wer danach immer noch der Meinung ist, dass die Kirchen ein Bollwerk des Widerstands gegen die Barbarei des Nationalsozialismus gewesen seien, dem ist nicht zu helfen, der will es offenbar auch nicht wahrhaben, dass hochrangige Vertreter der Kirchen das Regime Adolf Hitlers unterstützt haben. (8)
Papst JOHANNES XXIII. (1881-1963) zeigt sich in einem zwar sehr allgemein gehaltenen Gebet, das er 1963 kurz vor seinem Tod verfasste, offenbar aber einsichtig und reumütig, wenn auch für die Opfer zu spät:
»Wir erkennen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so daß wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, daß ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen. Denn wir wußten nicht, was wir taten.«(9)
Wie sehr sich die Kirche im Zusammenhang mit der Verfolgung der Juden im Dritten Reich sich ihrer »heiligen« Schrift zu schämen scheint, insbesondere was bestimmte Formen der Vernichtung von Menschen betrifft, geht aus einer Fälschung des folgenden Bibeltextes hervor. Dieser Text in Samuel 2, Kapitel 12, Vers 31 lautet in seiner ursprünglichen, von LUTHER übersetzten Form wie folgt:
»Aber das Volk drinnen führte er heraus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammon.«
In der von allen deutschsprachigen Kirchen gemeinsam herausgegebenen Einheitsübersetzung von 1980 lautet diese Stelle jetzt so:
»Auch ihre Einwohner führte er fort und stellte sie an die Steinsägen, an die eisernen Spitzhacken und an die eisernen Äxte und ließ sie in den Ziegeleien arbeiten. So machte er es mit allen Städten der Ammoniter.«
Man sieht, das Fälschen der Bibel hat bis heute kein Ende gefunden. (10) Übrigens auch Jesus spricht in Matthäus Kapitel 13, in den Versen 41 und 50 von einem »Ofen«, in den die Ungläubigen geworfen werden. Das viele Jahrhunderte praktizierte Verbrennen von Anders- und Nichtgläubigen durch die Kirche hat also eine Rechtfertigung aus höchstem Munde.
Quellen:
Der Text ist weitgehend entnommen dem Buch von Uwe Lehnert „Warum ich kein Christ sein will – mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung “, Berlin 2011.
(1) Joachim Kahl, Das Elend des Christentums. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1993, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 223 S.
(2) Gerd Lüdemann: Das Unheilige in der Heiligen Schrift – Die dunkle Seite der Bibel. Zu Klampen Verlag, Springe 2004, 3. Auflage, 136 S. (Taschenbuch); hier Kap. 3, insbes. S. 111-119. Uta Ranke-Heinemann: Nein und Amen – Mein Abschied vom traditionellen Christentum. Heyne Verlag, München 2002, 5., ergänzte Neuauflage, 446 S. (Taschenbuch); hier z. B. Kapitel 8, 9 und 13.
(3) Walter Laqueur: Gesichter des Antisemitismus – von den Anfängen bis heute. Ullstein Buchverlage, Berlin 2008, 247 S.
(4) Hans Küng: Christ sein. Piper Verlag, München und Zürich, 1983, 11. Auflage, 676 S. Hier S. 160
(5) Konrad Adenauer: Briefe 1945-1947 (1983). Siehe z. B. unter „Dokumentation Obersalzberg“, dort Abdruck dieses Briefes. In Google eingeben: Adenauer Dokumentation Obersalzberg.
(6) Dokumentiert z. B. in: Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn – eine kritische Kirchengeschichte von den Anfängen bis zu Pius XII. 3. Auflage, Stuttgart 1968, hier S. 461f. Auch in: Gerhard Czermak: Christen gegen Juden. Hamburg 1997, S. 338/39 oder: Joachim Kahl: Das Elend des Chris¬tentums. Reinbek b. Hamburg 1993, S. 51. Leicht zu finden auch im Internet durch wörtliches Eingeben der ersten Worte in Anführungszeichen.
(7) Martin Sasse (Hsg.): Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! Sturmhut-Verlag Freiburg, 1938. Das Buch ist nicht mehr erhältlich, lediglich in Universitätsbibliotheken einsehbar. Unter folgender Internet-Adresse sind das Original von Titelblatt und Vorwort als Fotokopie einsehbar:
www.sgipt.org/sonstig/metaph/luther/judens.htm#1.
(8) Wolfang Klosterhalfen: Morden mit Gott: Hitlerverehrung und Kriegshetze von deutschen Kirchenführern. Siehe unter: www.reimbibel.de/Kirche-im-Dritten-Reich.htm.
(9) Der Text dieses von Papst Johannes XXIII. den Juden gewidmeten Gebets steht auf einer Schrifttafel in der Werner-Kapelle in Bacharach. Im Internet zu finden z. B. unter den Adressen:
www.alemannia-judaica.de/bacharach_synagoge.htm oder
www.johannesxxiii.net/seite_008.htm. Zur direkten Suche sind in Yahoo oder Google die ersten etwa sechs Gebetsworte in Anführungsstrichen einzugeben.
(10) Auf diese Fälschung macht Heinz-Werner Kubitza in seinem Buch „Der Jesuswahn“, Marburg 2011, 382 S. aufmerksam. Er wiederum verweist auf Karlheinz Deschner, der dies bemerkte. Den ursprünglichen Luther-Text kann man z.B. im Spiegel-Projekt Gutenberg nachlesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/5560/10
[Erstveröffentlichung: Humanistischer Pressedienst]