Christlicher Antisemitismus

Bundespräsident Gauck wür­digte bei sei­nem Israelbesuch die Opfer natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Terrors in einer Weise, die dem, was damals geschah, der Form nach gewiss ange­mes­sen war. Aber ist er dabei ganz ehr­lich gewe­sen, unter­schlug er nicht einen wesent­li­chen Teil der Wahrheit? Gerade er, der zugleich Repräsentant einer Religion ist, die von ihrem Beginn an Antijudaismus bzw. Antisemitismus prak­ti­zierte, hätte mehr zu erklä­ren.

Ein Kommentar von Uwe Lehnert

kreuz davidstern 125x125 Christlicher AntisemitismusEin beson­de­res Kapitel, gerade für uns Deutsche, stellt in der Tat die blu­tige Verfolgung der Juden dar. Die Opfer in den zwei Jahrtausenden von Beginn des Christentums addie­ren sich zu einer zwei­stel­li­gen Millionenzahl. Sie wur­den erschla­gen, ertränkt, ver­brannt, erschos­sen, ver­gast oder sonst wie zu Tode gebracht, fast immer aus christlich-religiösen Motiven; die Nationalsozialisten gaben ras­si­sche Gründe an. Besonders über die Massenvernichtung unter Hitler ist in tau­sen­den Büchern und zehn­tau­sen­den Aufsätzen aus­führ­lich und kom­pe­tent berich­tet und über Ursachen nach­ge­dacht wor­den. Es erscheint daher ent­behr­lich, dass man sich noch­mals dazu äußert. Aber ich möchte einen wesent­li­chen Aspekt beleuch­ten, der so in Schule und poli­ti­scher Aufklärung nie zur Sprache kam und bis heute in der öffent­li­chen Diskussion tabui­siert wird.

In den weni­gen Geschichtsstunden in mei­ner Schulzeit zu die­sem Thema, haupt­säch­lich jedoch bei der Zeitungslektüre über Prozesse gegen KZ-Kommandanten, fragte ich mich immer wie­der, wie es mög­lich war, in der rela­ti­ven Kürze der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herrschaft ein sol­ches Vernichtungsprogramm umzu­set­zen. Es muss – so meine damals unter­schwel­lige Vermutung – schon eine breite anti­se­mi­ti­sche, min­des­tens jedoch gleich­gül­tige Haltung in der Bevölkerung vor­han­den gewe­sen sein. Denn ohne diese wäre die rassisch-ideologische Begründung die­ser Vernichtungsmaßnahmen nicht von so vie­len Mithelfern und Mitwissern so ein­fach hin­ge­nom­men wor­den.

Der Hinweis auf die – tat­säch­lich ja begrün­dete – Angst der Menschen vor eige­ner Verfolgung, wenn Widerspruch offen geäu­ßert oder gar Widerstand geleis­tet wor­den wäre, erklärt die­ses Phänomen in kei­ner Weise. Selbst hohe Kirchenvertreter, denen Amt und gesell­schaft­li­che Stellung genü­gend Schutz vor unmit­tel­ba­rer Bedrohung gebo­ten hät­ten, ver­ur­teil­ten diese Verfolgungen nicht, von rühm­li­chen Ausnahmen abge­se­hen. Ich kann mir das nur mit einer latent schon vor­han­de­nen, und zwar euro­pa­weit ver­brei­te­ten, anti­jü­di­schen Grundhaltung wei­ter Bevölkerungskreise und -schich­ten erklä­ren. Und blickt man zurück in die Geschichte, dann stellt man schnell fest, dass es tat­säch­lich schon seit Jahrhunderten furcht­bare Pogrome und Vernichtungsaktionen gegen die Juden gege­ben hat. Der Antisemitismus ist also keine Erfindung der Nationalsozialisten, wie uns durch Schule und Nachkriegsaufklärung sug­ge­riert wer­den sollte, son­dern hat viel tie­fer und viel wei­ter zurück lie­gende Ursachen. Die Wurzeln die­ses Antisemitismus grün­den – und diese Erkenntnis war auch für mich zunächst unglaub­lich – prak­tisch aus­schließ­lich in der christ­li­chen Lehre und der sich auf sie beru­fen­den Kirche!

Diese für viele gut­gläu­bige Christen sicher­lich schwer zu ertra­gende Behauptung wird inzwi­schen von vie­len Religionswissenschaftlern, ja selbst von evan­ge­li­schen Theologen, zum Beispiel von GERD LÜDEMANN, und katho­li­schen, zum Beispiel UTA RANKE-HEINEMANN, aus­führ­lich begrün­det und ver­tre­ten. RANKE-HEINEMANN for­mu­liert: »Die 2000-jährige Geschichte des Christentums ist eine Geschichte 2000-jähriger Judenverfolgung.« Der aus der Kirche aus­ge­tre­tene Theologe JOACHIM KAHL führt in sei­nem Bestseller »Das Elend des Christentums« unter ande­rem aus:

»[Die Evangelien bemü­hen sich,] die Schuld am Tode Jesu von den römi­schen Behörden (Pilatus) ganz auf die Juden abzu­wäl­zen. Schon bei Markus, dem ältes­ten Evangelium, sträubt Pilatus sich, Jesus zu ver­ur­tei­len (15, 10: ›Denn er erkannte, daß ihn die Hohenpriester aus Neid über­lie­fert hat­ten‹). Noch ein­dring­li­cher läßt Lukas den Pilatus die Unschuld Jesu beteu­ern (23, 4: ›Pilatus aber sagte zu den Hohenpriestern und der Volksmenge: Ich finde keine Schuld an die­sem Menschen‹, vgl. 23, Verse 14, 20, 22, 25). Matthäus voll­ends fügte die bekannte Szene ein, wo Pilatus sich die Hände wäscht und beteu­ert: ›Ich bin unschul­dig am Blute die­ses Gerechten; sehet ihr zu‹ (27, 24). Dann folgt jener berüch­tigte Vers, der sich in den fol­gen­den Jahrhunderten schau­er­lich erfül­len sollte: ›Und alles Volk ant­wor­tete und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹ Diese Selbstverfluchung, die Matthäus infam erfand – wie die historisch-kritische Forschung längst nach­ge­wie­sen hat –, halst dem jüdi­schen Volk als Ganzem die Schuld am Tode des Gottessohnes auf.« (1)

Was wäre aus der christ­li­chen Lehre gewor­den, wenn den Juden nicht diese Rolle zuge­dacht wor­den wäre, wenn Judas Jesus nicht ver­ra­ten hätte? Wäre Jesus ver­haf­tet und gekreu­zigt wor­den, wäre er wie beschrie­ben auf­er­stan­den? Wäre Jesus dann für uns zu jenem gött­li­chen Erlöser erklärt wor­den? So wie gesche­hen, lief es ja eigent­lich ent­spre­chend Gottes Willen ab: Verrat, Verurteilung, Hinrichtung. KAHL fährt auf der­sel­ben Seite fort:

»Der anti­se­mi­tisch zuge­spitzte Vorwurf des Christusmordes fin­det sich auch bei Paulus, der im ers­ten Thessalonicherbrief schreibt: ›Sie haben den Herrn Jesus und die Propheten getö­tet und haben uns ver­folgt und gefal­len Gott nicht und sind gegen alle Menschen feind­se­lig. Sie hin­dern uns, den Heiden zu ihrem Heil zu pre­di­gen, damit sie das Maß ihrer Sünden jeder­zeit voll machen. Doch das Zornesgericht ist end­gül­tig über sie gekom­men‹ (2, 15f).« … »Den unüber­biet­ba­ren Gipfel neu­tes­ta­ment­li­chen Antisemitismus stellt das Johannesevangelium dar, an dem sich beson­ders deut­lich able­sen läßt, daß jede christ­li­che Theologie not­wen­dig ihren Juden, die mythi­sche Projektion des abso­lu­ten Außenfeindes, braucht. Klarer als alle ande­ren Schriften durch­zieht das vierte Evangelium ein stren­ger Dualismus, der mit den Begriffen: Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, oben und unten, himm­lisch und irdisch, Gott und Teufel, Freiheit und Knechtschaft, Leben und Tod ope­riert. Dem Licht gehört an, wer dem Offenbarer glaubt, der da sagt: ›Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; nie­mand kommt zum Vater außer durch mich‹ (Joh 14, 6) Der Finsternis und der Lüge ist ver­fal­len, wer den himm­li­schen Gesandten abweist, ja, wer nur nach sei­ner Legitimation fragt. Der ent­schei­dende Begriff, der den Ungläubigen beige­legt wird, ist der der ›Welt‹ – oder der der ›Juden‹. Beides wird durch­gän­gig aus­tausch­bar gebraucht. Die Juden stam­men weder von Gott noch von Abraham ab, son­dern vom Teufel (Joh 8, 44). Als Kinder des Teufels, des Vaters der Lüge und des Menschenmörders von Anfang an, trach­ten sie Jesus not­wen­di­ger­weise nach dem Leben.«

Des wei­te­ren führt KAHL aus, dass Kirchenlehrer und Kirchenväter auf der Basis die­ser und wei­te­rer Bibelstellen bereits in den ers­ten Jahrhunderten in ihren Schriften die Juden als Mörder von Christus, als Fälscher der Heiligen Schrift, als geld­gie­rig und ver­bre­che­risch, ihre Synagogen als Satansburgen (Offenbarung des Johannes, Kap. 3, Vers 9!) brand­mark­ten. Unter Kaiser Konstantin (4. Jahrhundert) und sei­nen Söhnen wurde der Über­tritt zum Judentum mit schwe­ren Strafen belegt und Mischehen zwi­schen Juden und Christen mit dem Tode bestraft. Unter Kaiser THEODOSIUS II. (5. Jahrhundert) wur­den die Juden von allen öffent­li­chen Ämtern und Würden aus­ge­schlos­sen. Das IV. Laterankonzil (1215) legte eine beson­dere Judentracht fest: Ein gel­ber Fleck im Obergewand und eine gehörnte Kappe. KAHL ver­weist dar­auf, dass unzäh­lige Mysterien-, Passions- und Fastnachtsspiele, Traktate und Heiligenlegenden die Juden ver­höh­nen und ver­leum­den. Viele mit­tel­al­ter­li­che Bilder stel­len den Teufel mit  einer gebo­ge­nen Nase (Judennase) dar. In vie­len alten, gele­gent­lich noch heute zu hören­den Sprichwörtern und Redewendungen steht das bib­lisch bezo­gene »Jüdische« als Synonym für das Böse und Negative schlecht­hin.

Diese weni­gen, hier nur ange­deu­te­ten Beispiele lie­ßen sich fast belie­big ver­meh­ren. Sie las­sen unzwei­deu­tig erken­nen, dass durch die gesamte Kirchengeschichte, und zwar von Anfang an, die Juden als teuf­li­sche Elemente ange­se­hen und für alle Übel die­ser Welt ver­ant­wort­lich gemacht wur­den, bei­spiels­weise auch für die ver­hee­rende, Millionen Menschen dahin­raf­fende Pestepidemie von 1347-1349. Muss man sich da noch wun­dern, dass sich auf diese Weise eine tief­sit­zende Abneigung, ja gera­dezu Hass – so bar jeder ratio­na­len Begründung auch immer – in allen Bevölkerungsschichten breit gemacht und tief ver­an­kert hat? Wenn dann noch eine so sprach­ge­wal­tige Autorität wie Martin Luther mit sei­nem weit­rei­chen­den, bis in unsere Zeit wirk­sa­men Einfluss seine wohl­über­leg­ten Hetztiraden gegen die Juden los­lässt (siehe sein Buch „Von den Juden und ihren Lügen“, das bis in Einzelheiten das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Verfolgungs- und Vernichtungsprogramm vor­weg­nahm), dann kann ich nicht anders, als von einer sys­tem­im­ma­nen­ten, das heißt, die­ser christ­li­chen Lehre als Wesensbestandteil inne­woh­nen­den Ungeheuerlichkeit zu spre­chen. Nur in sel­te­nen Fällen wider­spra­chen Päpste und Bischöfe die­sen Verleumdungen und Verfolgungen.

Wer an den Begriffen »Wesensbestandteil« und »Ungeheuerlichkeit« Anstoß nimmt, über­lege sich, was alles aus dem Neuen Testament gestri­chen wer­den müsste, wel­che Konsequenzen das für die Leidensgeschichte von Jesus und die darin tra­gende Rolle der Juden hätte und wel­chen Verlauf die mora­li­sche und zivi­li­sa­to­ri­sche Entwicklung in Europa genom­men hätte, wenn den Juden nicht diese infame Rolle zuge­wie­sen wor­den wäre. »Judas der Verräter« und »die Juden als Gottesmörder« sind begriff­li­che Etiketten, die ihre dif­fa­mie­rende Wirkung bis heute ent­fal­ten.

Wer diese Zeilen nur mit abweh­ren­dem Kopfschütteln lesen und nicht akzep­tie­ren mag, nehme wenigs­tens die Seiten 42-52 in JOACHIM KAHL: »Das Elend des Christentums« zur Kenntnis oder in KARLHEINZ DESCHNER »Abermals krähte der Hahn« die Seiten 442-464. Wer sich umfas­sen­der infor­mie­ren möchte, lese – wie oben schon erwähnt – »Das Unheilige in der hei­li­gen Schrift« des evan­ge­li­schen Theologen GERD LÜDEMANN oder »Nein und Amen – Mein Abschied vom tra­di­tio­nel­len Christentum« der katho­li­schen Theologin UTA RANKE-HEINEMANN.(2)

In sei­nem jüngst erschie­ne­nen Buch »Gesichter des Antisemitismus« beschreibt der inter­na­tio­nal als Wissenschaftler und Autor zahl­rei­cher his­to­ri­scher Werke aus­ge­wie­sene Antisemitismusforscher WALTER LAQUEUR, wel­che Formen des Hasses den Juden schon in der Antike ent­ge­gen­schlu­gen. Neben der übli­chen, in allen Kulturen anzu­tref­fen­den Fremdenfeindlichkeit war es hier vor allem die christlich-religiöse Begründung. LAQUEUR stellt fest (S. 14): »Aus his­to­ri­scher Sicht bedeut­sam ist die Tatsache, dass sich das von den christ­li­chen … Theologen geschaf­fene Stereotyp des Juden über Jahrhunderte hin­weg hielt und bis heute wei­ter­wirkt«. Er ver­weist auf ein­schlä­gige anti­jü­di­sche Stellen im Matthäus-, Lukas- und Johannes-Evangelium (S. 60f). Als beson­ders feind­se­lig gegen­über den Juden erwähnt er die Kirchenmänner Justin der Märtyrer, Origines, Bischof von Alexandria, und Johannes Chrysostomos, Erzbischof von Konstantinopel, sowie den bis heute hoch geschätz­ten Kirchenvater Aurelius Augustinus (S. 62f).(3)

Ein anti­christ­li­cher Polemik gewiss unver­däch­ti­ger Autor ist der bekannte und all­seits geach­tete Theologe HANS KÜNG (*1928). Er schreibt in sei­nem Buch: »Christ sein«:
»… so ver­schärfte sich die Lage der Juden ins­be­son­dere seit dem Hochmittelalter unge­mein: Judenschlächtereien in Westeuropa wäh­rend der ers­ten drei Kreuzzüge und Ausrottung der Juden in Palästina. Die Vernichtung von 300 jüdi­schen Gemeinden im Deutschen Reich 1348/49 und die Ausweisung der Juden aus England (1290), Frankreich (1394), Spanien (1492) und Portugal (1497). Später dann aber auch die greu­li­chen anti­jü­di­schen Hetzreden des alten Luther, Judenverfolgungen nach der Reformation, Pogrome in Osteuropa … Alles unfaß­bar für den Verstand eines heu­ti­gen Christen. … Nicht die Reformation, son­dern der Humanismus (Reuchlin, Scaliger), dann der Pietismus (Zinzendorf) und beson­ders die Aufklärung (Menschenrechtserklärung in den Vereinigten Staaten und in der Französischen Revolution) haben eine Ände­rung vor­be­rei­tet und teil­weise durch­ge­setzt.«(4)

Die immer wie­der auf­ge­stellte Behauptung von der mora­li­schen Bastion des Christentums beruht also auf abso­lu­ter Unkenntnis oder dem Nichtwahrhaben-Wollen der in wei­ten Strecken blut­rüns­ti­gen Geschichte die­ser Religion und der auf ihr errich­te­ten Kirche.

Um aber auch das ganz deut­lich zu sagen: Die für mich zur Tatsache gewor­dene These von den christ­li­chen und kirch­li­chen Wurzeln des Antisemitismus rela­ti­viert die exor­bi­tan­ten Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden nicht um einen Hauch. Sie macht mir aber den ver­gleichs­weise gerin­gen Grad an Widerstand auch füh­ren­der gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Kräfte im In- und Ausland gegen diese staat­li­chen Massenmorde ver­ständ­li­cher. Die ob ihres selbst­lo­sen Mutes und ihrer mensch­li­chen Solidarität mora­lisch nicht hoch genug ein­zu­schät­zen­den Aktivitäten ein­zel­ner Helfer der Verfolgten und in klei­nen, auch christ­li­chen bezie­hungs­weise kirch­li­chen Gruppen orga­ni­sier­ten Widerstandskämpfer, die sich gegen diese Mordmaschinerie auf­lehn­ten, konn­ten lei­der am Ergebnis nicht viel ändern, auch wenn jedes ein­zelne geret­tete Menschenleben unend­lich schwer wiegt.

Bekannt ist das offen­bar gleich­gül­tige, man­che Historiker spre­chen sogar von einem still­schwei­gend zustim­men­den Schweigen von Papst PIUS XII. (1876-1958) wäh­rend der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herrschaft zu den Verbrechen, für die Auschwitz als Symbol steht. Welche Rolle spielte der 1933 zwi­schen dem Vatikan und der Hitlerregierung geschlos­sene, noch heute (!) gül­tige Vertrag, das so genannte Reichskonkordat? Ob die darin der katho­li­schen Kirche groß­zü­gig ein­ge­räum­ten Zugeständnisse den Vatikan ver­an­lass­ten, in quasi neu­tra­ler Haltung über die Geschehnisse im Zusammenhang mit der Verfolgung der jüdi­schen Bevölkerung hin­weg­zu­se­hen?

Fest steht, dass die katho­li­sche Kirche in erheb­li­chem Maße das Hitler-Regime gestützt hat. Dies hier im Einzelnen zu begrün­den, würde den Rahmen mei­ner Ausführungen spren­gen. Aber eine Stimme sei hier erwähnt, die sehr deut­lich zumin­dest das Versagen der füh­ren­den Köpfe auch der katho­li­schen Kirche, näm­lich der Bischöfe, beklagt. Kein Geringerer als KONRAD ADENAUER (1876-1967) schrieb am 23. Februar 1946 an Pastor BERNHARD CUSTODIS:

»Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle mit­ein­an­der an einem bestimm­ten Tage öffent­lich von den Kanzeln aus dage­gen Stellung genom­men hät­ten, sie vie­les hät­ten ver­hü­ten kön­nen. Das ist nicht gesche­hen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder in Konzentrationslager gekom­men wären, so wäre das kein Schade, im Gegenteil. Alles das ist nicht gesche­hen und darum schweigt man am bes­ten.«(5)

Kaum bekannt ist, dass die evan­ge­li­schen Landesbischöfe und Landeskirchenpräsidenten von Sachsen, Hessen-Nassau, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt, Thüringen und Lübeck am 17.12.1941 sich mit fol­gen­der Erklärung ein­deu­tig hin­ter das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Programm der Judenverfolgung stell­ten:

»Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche deut­sche Führung hat mit zahl­rei­chen Dokumenten unwi­der­leg­lich bewie­sen, daß die­ser Krieg in sei­nen welt­wei­ten Ausmaßen von den Juden ange­zet­telt ist. Als Glieder der deut­schen Volksgemeinschaft ste­hen die unter­zeich­ne­ten deut­schen Evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front die­ses his­to­ri­schen Abwehrkampfes, der unter ande­rem die Reichspolizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden als der gebo­re­nen Welt- und Reichsfeinde not­wen­dig gemacht hat. Schon Dr. Martin Luther erhob nach bit­te­ren Erfahrungen die Forderung, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergrei­fen und sie aus deut­schen Landen aus­zu­wei­sen. Von der Kreuzigung Christi bis zum heu­ti­gen Tage haben die Juden das Christentum bekämpft oder zur Erreichung ihrer eigen­nüt­zi­gen Ziele miss­braucht oder ver­fälscht. Durch die christ­li­che Taufe wird an der ras­si­schen Eigenart des Juden, sei­ner Volkszugehörigkeit und sei­nem bio­lo­gi­schen Sein nichts geän­dert. Eine deut­sche evan­ge­li­sche Kirche hat das reli­giöse Leben deut­scher Volksgenossen zu pfle­gen und zu för­dern. Rassejüdische Christen haben in ihr kei­nen Raum und kein Recht. Die unter­zeich­ne­ten deut­schen Evangelischen Kirchen und Kirchenleiter haben des­halb jeg­li­che Gemeinschaft mit Judenchristen auf­ge­ho­ben. Sie sind entschlos¬sen, kei­ner­lei Einflüsse jüdi­schen Geis¬tes auf das deut­sche reli­giöse und kirch­li­che Leben zu dul­den.«(6)

Die Verbeugung die­ser Kirchenoberen vor den dama­li­gen Machthabern folgt einer kla­ren Weisung der Bibel. Im Brief des Paulus an die Römer, Kapitel 13, Vers 1 und 2 for­dert der erste Theologe der Christenheit:

»Jeder leiste den Trägern der staat­li­chen Gewalt den schul­di­gen Gehorsam. Denn es gibt keine staat­li­che Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott ein­ge­setzt. Wer sich daher der staat­li­chen Gewalt wider­setzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm ent­ge­gen­stellt, wird dem Gericht ver­fal­len.«

Von einem offi­zi­el­len Bedauern oder gar einer Rücknahme die­ses unse­li­gen Papiers der Bischöfe habe ich nie gehört oder gele­sen. Wo blieb der Aufschrei und der Protest der Kirchen, als in der Reichspogrom-Nacht von 1938 die Synagogen brann­ten? Einzelne mutige Pfarrer pro­tes­tier­ten, die Kirchenleitungen schwie­gen! Der evan­ge­li­sche Landesbischof von Thüringen MARTIN SASSE schrieb 1938 im Vorwort zu sei­ner Schrift »Martin Luther über die Juden – Weg mit ihnen!« sogar zustim­mend:

»Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, bren­nen in Deutschland die Synagogen. Vom deut­schen Volk wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirt­schaft­li­chem Gebiet im neuen Deutschland end­gül­tig gebro­chen und damit der gott­ge­seg­nete Kampf des Führers zur völ­li­gen Befreiung unse­res Volkes gekrönt. … In die­ser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört wer­den, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrie­ben von sei­nem Gewissen, getrie­ben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit sei­ner Zeit gewor­den ist, der Warner sei­nes Volkes wider die Juden.« ..(7)

Gewiss wäre es falsch und unge­recht, zu ver­all­ge­mei­nern und evan­ge­li­sche Christen ins­ge­samt zu ver­ur­tei­len. Aber immer­hin han­delte es sich bei den Autoren der bei­den Dokumente um füh­rende Repräsentanten einer Institution, die von sich behaup­tet, Interpretin und Hüterin gött­lich gestif­te­ter Moral zu sein. Mit wel­chem Recht wirft man dem ein­fa­chen Bürger vor, sei­ner­zeit nicht Widerstand geleis­tet zu haben, wenn gut infor­mierte, maß­geb­li­che und mei­nungs­bil­dende Köpfe die Verfolgung der Juden ideo­lo­gisch recht­fer­tig­ten!

Es gab in der Tat Protest und Widerstand. MARTIN NIEMÖLLER (1892-1984) u. a. grün­de­ten den Pfarrernotbund, der sich dage­gen wehrte, »nich­ta­ri­sche« Christen aus der evan­ge­li­schen Kirche aus­zu­schlie­ßen. Ihm gehör­ten tau­sende evan­ge­li­sche Pfarrer an, sie hal­fen vie­len ver­folg­ten Juden in ver­schie­dens­ter Weise. Aus dem Pfarrernotbund ging die »Bekennende Kirche« her­vor. Sie stellte zwar nur eine Minderheit der deut­schen Protestanten dar, wandte sich aber ent­schie­den gegen die regime­treue Haltung gro­ßer Teile der offi­zi­el­len evan­ge­li­schen Kirche. Ihre Wirkung zu Gunsten der Juden blieb aber begrenzt. Zum einen, weil viele ihrer Mitglieder ver­haf­tet wur­den, zum andern, weil erheb­li­che Teile die­ser Bewegung zum Völkermord an den Juden – aus ver­ständ­li­cher Angst – schwie­gen.

Wer sich anhand von Originalzitaten in über­schau­ba­rer Zeit über die tat­säch­li­che Haltung wesent­li­cher Repräsentanten der bei­den deut­schen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus infor­mie­ren möchte, sei auf eine Zusammenstellung ver­wie­sen, die WOLFGANG KLOSTERHALFEN (*1945), der geniale Autor der »Reimbibel«, zusam­men­ge­stellt und über das Internet zugäng­lich gemacht hat. Wer danach immer noch der Meinung ist, dass die Kirchen ein Bollwerk des Widerstands gegen die Barbarei des Nationalsozialismus gewe­sen seien, dem ist nicht zu hel­fen, der will es offen­bar auch nicht wahr­ha­ben, dass hoch­ran­gige Vertreter der Kirchen das Regime Adolf Hitlers unter­stützt haben. (8)

Papst JOHANNES XXIII. (1881-1963) zeigt sich in einem zwar sehr all­ge­mein gehal­te­nen Gebet, das er 1963 kurz vor sei­nem Tod ver­fasste, offen­bar aber ein­sich­tig und reu­mü­tig, wenn auch für die Opfer zu spät:

»Wir erken­nen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen ver­hüllt haben, so daß wir die Schönheit Deines aus­er­wähl­ten Volkes nicht mehr sehen und in sei­nem Gesicht nicht mehr die Züge unse­res erst­ge­bo­re­nen Bruders wie­der­er­ken­nen. Wir erken­nen, daß ein Kainsmal auf unse­rer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gele­gen, das wir ver­gos­sen, und er hat Tränen geweint, die wir ver­ur­sacht haben, weil wir Deine Liebe ver­ga­ßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu unrecht an den Namen der Juden hef­te­ten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zwei­ten­mal ans Kreuz schlu­gen. Denn wir wuß­ten nicht, was wir taten.«(9)

Wie sehr sich die Kirche im Zusammenhang mit der Verfolgung der Juden im Dritten Reich sich ihrer »hei­li­gen« Schrift zu schä­men scheint, ins­be­son­dere was bestimmte Formen der Vernichtung von Menschen betrifft, geht aus einer Fälschung des fol­gen­den Bibeltextes her­vor. Dieser Text in Samuel 2, Kapitel 12, Vers 31 lau­tet in sei­ner ursprüng­li­chen, von LUTHER über­setz­ten Form wie folgt:

»Aber das Volk drin­nen führte er her­aus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und ver­brannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammon.«

In der von allen deutsch­spra­chi­gen Kirchen gemein­sam her­aus­ge­ge­be­nen Einheitsübersetzung von 1980 lau­tet diese Stelle jetzt so:

»Auch ihre Einwohner führte er fort und stellte sie an die Steinsägen, an die eiser­nen Spitzhacken und an die eiser­nen Äxte und ließ sie in den Ziegeleien arbei­ten. So machte er es mit allen Städten der Ammoniter.«

Man sieht, das Fälschen der Bibel hat bis heute kein Ende gefun­den. (10) Übri­gens auch Jesus spricht in Matthäus Kapitel 13, in den Versen 41 und 50 von einem »Ofen«, in den die Ungläubigen gewor­fen wer­den. Das viele Jahrhunderte prak­ti­zierte Verbrennen von Anders- und Nichtgläubigen durch die Kirche hat also eine Rechtfertigung aus höchs­tem Munde.
Quellen:

Der Text ist weit­ge­hend ent­nom­men dem Buch von Uwe Lehnert „Warum ich kein Christ sein will – mein Weg vom christ­li­chen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung “, Berlin 2011.

(1) Joachim Kahl, Das Elend des Christentums. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1993, über­ar­bei­tete und erwei­terte Neuausgabe, 223 S.
(2) Gerd Lüdemann: Das Unheilige in der Heiligen Schrift – Die dunkle Seite der Bibel. Zu Klampen Verlag, Springe 2004, 3. Auflage, 136 S. (Taschenbuch); hier Kap. 3, ins­bes. S. 111-119. Uta Ranke-Heinemann: Nein und Amen – Mein Abschied vom tra­di­tio­nel­len Christentum. Heyne Verlag, München 2002, 5., ergänzte Neuauflage, 446 S. (Taschenbuch); hier z. B. Kapitel 8, 9 und 13.
(3) Walter Laqueur: Gesichter des Antisemitismus – von den Anfängen bis heute. Ullstein Buchverlage, Berlin 2008, 247 S.
(4) Hans Küng: Christ sein. Piper Verlag, München und Zürich, 1983, 11. Auflage, 676 S. Hier S. 160
(5) Konrad Adenauer: Briefe 1945-1947 (1983). Siehe z. B. unter „Dokumentation Obersalzberg“, dort Abdruck die­ses Briefes. In Google ein­ge­ben: Adenauer Dokumentation Obersalzberg.
(6) Dokumentiert z. B. in: Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn – eine kri­ti­sche Kirchengeschichte von den Anfängen bis zu Pius XII. 3. Auflage, Stuttgart 1968, hier S. 461f. Auch in: Gerhard Czermak: Christen gegen Juden. Hamburg 1997, S. 338/39 oder: Joachim Kahl: Das Elend des Chris¬tentums. Reinbek b. Hamburg 1993, S. 51. Leicht zu fin­den auch im Internet durch wört­li­ches Eingeben der ers­ten Worte in Anführungszeichen.
(7) Martin Sasse (Hsg.): Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! Sturmhut-Verlag Freiburg, 1938. Das Buch ist nicht mehr erhält­lich, ledig­lich in Universitätsbibliotheken ein­seh­bar. Unter fol­gen­der Internet-Adresse sind das Original von Titelblatt und Vorwort als Fotokopie ein­seh­bar:
www.sgipt.org/sonstig/metaph/luther/judens.htm#1.
(8) Wolfang Klosterhalfen: Morden mit Gott: Hitlerverehrung und Kriegshetze von deut­schen Kirchenführern. Siehe unter: www.reimbibel.de/Kirche-im-Dritten-Reich.htm.
(9) Der Text die­ses von Papst Johannes XXIII. den Juden gewid­me­ten Gebets steht auf einer Schrifttafel in der Werner-Kapelle in Bacharach. Im Internet zu fin­den z. B. unter den Adressen:
www.alemannia-judaica.de/bacharach_synagoge.htm oder
www.johannesxxiii.net/seite_008.htm. Zur direk­ten Suche sind in Yahoo oder Google die ers­ten etwa sechs Gebetsworte in Anführungsstrichen ein­zu­ge­ben.
(10) Auf diese Fälschung macht Heinz-Werner Kubitza in sei­nem Buch „Der Jesuswahn“, Marburg 2011, 382 S. auf­merk­sam. Er wie­derum ver­weist auf Karlheinz Deschner, der dies bemerkte. Den ursprüng­li­chen Luther-Text kann man z.B. im Spiegel-Projekt Gutenberg nach­le­sen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/5560/10

[Erstveröffentlichung: Humanistischer Pressedienst]


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