Woran er sich deutlich erinnert, das ist seine Zeit in Europa, in Paris, Berlin und Wien. Als japanischer Gelehrter darf er an der Seite des großen Nervenarztes Jean-Martin Charcot in der berühmt-berüchtigten Frauen-Irrenanstalt La Salpêtrière stehen. Was in Japan Vom Fuchs besessen heißt, das nennen die Europäer schlicht Die Hysterie. Wunnicke hat all dies hervorragend recherchiert und findet für diesen kleinen besonderen Roman einen witzig-klugen Erzählton. Manchmal schrullig, manchmal steif und umständlich, sind die Formulierungen ganz wunderbar der damaligen Zeit angepasst. Ich tauche also ab in die letzten Jahre des 19. und in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts … ich höre Pferdehufe auf Pariser Straßenpflaster klappern und sehe Damen mit Hündchen unterm Arm durch die Gassen eilen. Shimamura, der zierliche Japaner, ist ein Exot in dieser Stadt. Und er ist ein Exot unter den Pariser Ärzten. So wird in einem Zeitungsausschnitt von 1892 (S.5) von einem asiatischen Gast an Charcots Seite berichtet. Man vermutet, dieser sei mit einer volkskundlichen Truppe nach Paris gekommen. Seine orientalischen Züge würden recht leer erscheinen und unbeseelt. Das in der Le Temps beschriebene Experiment mit dem Orientalen hat es tatsächlich gegeben, denn Dr. Shimamura Shunichi hat wirklich gelebt. Und er war – was für ein Wunder (!) – vom Fuchs besessen. Doch das erfahre ich erst viel später. Denn bisher ist die Hysterie in den Augen der Pariser Ärzte ausschließlich eine weibliche Krankheit. Ein typischer Tag in der Salpêtrière:
Täglich hospitierte Shimamura im großen Untersuchungszimmer, in welchem Charcot zu Dutzenden seine Fälle empfing … Eine nach der anderen wurde aufgerufen und vorgeführt. Krankenschwestern entfernten Teile der Kleidung, um hysterogene Zonen freizulegen, welche, so schien es, den weiblichen Körper nahezu vollständig bedeckten … Diese Zonen wurden dann von allen betrachtet und von diesem oder jenem Studenten manipuliert. Es gab Patientinnen, denen man lange Nadeln durch Arme oder Nackenhaut steckte … Assistenten malten mit Fettstift Striche und Kreise auf die Patientinnen, um die jeweiligen Zonen zu markieren … Charcot saß weit hinten, noch hinter Shimamura … und dirigierte das Geschehen (S. 79).
Manches, was den damaligen Ärzten ernst war, mutet heute seltsam an. Die Forschungen zur Hysterie stecken gerade in ihren Anfängen. An keiner Stelle aber belustigt Wunnicke sich darüber, sondern beschreibt ernsthaft und mit dem bereits genannten humorigen Blick. Lässt mich als Leser still teilhaben daran. Und genau das macht den Roman so liebenswert. Es ist, als würde ich eine leise knisternde Dokumentation aus dieser Zeit schauen – in Schwarz-Weiß und mit schaurig-schönen Schatten.
Der Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015. Wunderschön in seiner Ausstattung, ist der exotische Shimamura für mich auch ein kleiner und sehr feiner Exot unter den 20 Nominierten. Denn er ist nicht nur thematisch besonders. Er ist auch gestalterisch auffallend schön. Sowohl die Vorder- als auch die Rückseite des Einbandes sind illustriert mit Abbildungen zum Thema Hysterie, Charcot und Fuchsjagd. Ein besonderes Glück bereitet mir aber das Frontispiz, auf dem sich ein japanischer Farbholzschnitt zu einer Hysterie/Fuchs-Szene befindet: Hinter einem Paravent steht eine klassisch bekleidete Japanerin in exzentrischer Körperhaltung. Auf dem Paravent abgebildet … ein tanzender Fuchs.
Christine Wunnicke. Der Fuchs und Dr. Shimamura. Berenberg Verlag. Berlin 2015. 142 Seiten. 20,- €