Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) How Elizabeth Warren could win the 2020 Democratic primary
But if you listen to conventional wisdom - and our favorite quasi-scientific tool, betting markets - Warren's star has dimmed in recent months. President Trump's repeated references to her as "Pocahontas" have kept alive a seven-year-old controversy over Warren's claims that she has Native American ancestry, which potentially helped advance her career. Her release of a DNA test in October 2018 that she hoped would settle the matter was not well received. And in a party reportedly thirsty for a new generation of leadership, the 69-year-old Warren may have missed her window. For the first but certainly not the last time this year, let's take a look at the case for and against the chances of a major 2020 Democratic candidate. Ideologically, Warren is right where a Democratic primary candidate should want to be - it's one of the strongest cards in her hand. According to FiveThirtyEight's Trump Score, she votes with the president just 13.1 percent of the time, making her the third-most anti-Trump senator in the 115th Congress. Although she's best known for her stands against income inequality and big banks, she is deeply liberal on both social and economic issues, according to an analysis of her votes and positions by OnTheIssues - although not quite as liberal as Sen. Bernie Sanders, one of Warren's potential 2020 rivals. [...] Warren has long polarized audiences and was never the world's most beloved politician to begin with. That may be because she's a woman with a confrontational style. It may be sexism mixed with other reasons. Whatever the cause(s), Warren isn't in the best starting position as she enters the fray. But she's not in the worst position either - she'll likely find a receptive audience for her message in terms of policy and ideology. A well-run campaign would put her among the field's top contenders. (Nathaniel Rakich, 538)
Während Blog-Kollege Jan Falk ein großer Fan von Warren bist, bleibe ich weiter eher lauwarm ihr gegenüber. Sie ist offensichtlich eine versierte Fachpolitikerin, und ihre Arbeit in der Einrichtung einer Verbraucherschutzbehörde unter Obama war wegweisend (und die frenetischen Versuche der Republicans, diese Behörde zu zerstören, zeigen ihre Effizienz deutlich). Aber auf der anderen Seite habe ich bisher wenig gesehen, das sie als mehr als eine Single-Issue-Kandidatin auszeichnet. Ihre Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik sind bestenfalls verwaschen, und auch bei vielen anderen Themen weiß ich nicht wirklich, wie es da bei ihr aussieht. Als Senatorin hat sie von ihrem Abstimmungsverhalten her das dritt-liberalste Profil, was sie deutlich links positioniert. Aber in einem legislativen Forum kann man halt mit der Partei beziehungsweise der eigenen Präferenz stimmen (was in Parlamenten ja auch Sinn macht!), ohne dass mir das zu viel über spätere Führungs- und Entscheidungsfähigkeiten sagt. Vielleicht liege ich bei ihr auch falsch, aber mein Bauchgefühl hält mich davon ab, auf den Warren-Zug zu springen. Die Analyse von 538 klingt realistisch. Warren hat diverse Probleme, die sie überkommen muss, um die Kandidatur zu gewinnen. Ihre Vorteile liegen klar im etablierten Unterstützer-Netzwerk und ihrer bisherigen Erfahrung. Auf der anderen Seite teilt sie Beliebtheitsprobleme mit Clinton und ist zweifellos eine polarisierende Persönlichkeit. Letzteres spielt glaube ich keine große Rolle. Trump polarisiert in einem solchen Ausmaß, dass seine Gegenspielerin zwangsläufig ebenfallls polarisieren wird. Warren ist zwar ein besonders herausstechender Blitzableiter für rechten Hass, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Joe Biden nicht polarisieren würde. So oder so wird es 2020 um Trump gehen - und da ist Warren zumindest eine sehr klare Alternative. Ob das positiv oder negativ sein wird ist aktuell noch nicht abzusehen, wird aber in den primaries mit Sicherheit eine große Rolle spielen. In den aktuellen Umfragen zeigen Anhänger der Democrats bereits die deutliche Präferenz, nicht nach Policy oder Ideologie abzustimmen, sondern danach, wer die besten Chancen gegen Trump hat. Das unterscheidet das Elektorat bereits deutlich von dem republikanischen. Wir werden sehen, wie sich das weiter entwickelt.
2) A cautious hope emerges among Alexandria Ocasio-Cortez's constituents
Molly Roth was proud to move to a neighborhood she considered real America. As she walked along the main thoroughfares in this 170,000-resident enclave of Queens, she heard conversations in languages she did not know. She passed corner stores selling fruits that she had never seen. And now she sat in Arepa Lady, a restaurant that specializes in Colombia's sweet corn cakes, biting into food she never had before. Roth then noted one other thing she liked about the neighborhood. "I got to vote for Alexandria Ocasio-Cortez," she said. "Are you in her district?" a friend asked. "That's really cool." A cautious hope is reemerging in this slice of America, and it has come from the most American of traditions: voting. Residents clamoring for change in the 14th Congressional District last year ousted a 56-year-old white Democrat, one of the most powerful men in Washington, and replaced him with a 29-year-old Latina socialist working as a bartender. But they didn't stop there. They voted a formerly undocumented immigrant to the state assembly, and they replaced another long-standing politician in the state Senate. The political old guard had been toppled. In its stead were three leftist Latinas with no prior experience in government, who echoed their neighborhood's desire for a radical shift in politics. [...] Though none have much power in the traditional sense, their victories made many residents feel like their lives were newly injected into the American consciousness, along with the rural voters and white conservatives who rejoiced that Donald Trump's ascent had done the same for them. [...] Ocasio-Cortez's push to abolish the Immigration and Customs Enforcement agency altogether seemed more resonant and radical. "She just gives us a little more hope," Stock said after the meeting. "Not too much hope because after the 2016 election, I'm not sure I understand the country anymore," said one woman, who spoke on the condition of anonymity because she didn't want to endanger her husband's green card renewal. "You never know with politics." "At least she'll fight," another participant said. (Robert Samuels, Washington Post)
Ich würde gerne mehr solche Artikel sehen. Wir wurden in den letzten zwei Jahren mit einer Flut von Artikeln aus den Dinern des Mittleren Westens und den Dörfern West Virginias überschüttet, in denen der Frage nachgegangen wurde, wer denn nun die Trump-Wähler sind. Praktisch nie geschaut wird nach jenen Leuten, die die deutliche Mehrheit der Bevölkerung konstitutieren und progressive Kandidaten wählen. Gerade bei solch aufstrebenden Stars wie AOC ist ja durchaus interessant zu sehen, was das für Leute sind, die ihre Hoffnungen in eine 29jährige ehemalige Bartenderin setzen. Wir werden uns mit AOC im Verlauf dieses Vermischten noch mehr auseinandersetzen, daher an dieser Stelle erst einmal nur diese Feststellung zur Berichterstattung.
Stattdessen folgt hier nun die Antwort auf die Frage, die BILD zwischen aller Empörung offenbar ganz vergessen hat: Dürfen/ müssen/ sollen Muslime nun irgendwem die Hand geben? Dass die Antwort in der BILD ausbleibt, mag auch daran liegen, dass sie nicht so ganz passt in das Bild vom frauenverachtenden Muslim, der sklavisch seinen religiösen Geboten folgt. Denn erstens: Muslimische Handschlagsverweigerungen treten bei Frauen und Männern auf. Und zweitens: Die Frage nach dem muslimischen Handschlagsverhalten lässt sich genauso eindeutig beantworten, wie andere typische BILD-Fragen, z.B. nach der Vereinbarkeit von Islam und Schwimmbadbesuch, Weihnachten oder Toblerone. Also gar nicht. [...] Wer islamische Theologen nach ihrer Meinung zum Thema fragt, bekommt unterschiedliche Antworten. Einige verweisen darauf, dass der Koran körperlichen Kontakt zwischen Unverheirateten verbiete. Andere erinnern an einen Ausspruch Mohammeds, der vor 1400 Jahren auch Frauen nicht die Hand geben wollte. Wieder andere erklären den Handschlag für legitim, wenn keine sexuellen Gedanken damit verbunden sind. Andere erzählen das Gegenteil oder ihnen ist es völlig egal. Wie so oft bei Theologen. [...] In der Praxis dürften die Fatwas von ägyptischen Islamgelehrten und die Echtheit von Überlieferungen aus der Zeit Mohammeds den meisten Muslimen ebenso egal sein wie der Knigge den deutschen Nicht-Muslimen. Die meisten Muslime und Musliminnen schütteln die Hände des anderen Geschlechts. Die die es nicht tun, tun das z.B. weil ihre Eltern es nicht taten oder weil ihnen ihr Ehemann oder ihre Ehefrau sonst zu Hause die Hölle heiß macht. Der eine schüttelt Hände, weil es ihm irgendwann zu albern war, in der Clique der einzige Handschlagverweigerer zu sein. Die andere schüttelt sie nicht, weil sie sowieso schüchtern ist. (Schantall und Scharia)
Eine der großen Herausforderungen von Integration sind gerade solche Unterschiede in scheinbar alltäglichen Kleinigkeiten. Nicht nur ist es sehr schwierig für Außenstehende, diese kleinen Regeln zu lernen (was das Problem der Migranten ist), sondern es stellt auch die bisherige Gesellschaft vor ein Problem: Akzeptieren wir eine Erweiterung des bisherigen erlaubten Verhaltenskanons? Das ist keine leichte Frage, denn das zwingt natürlich auch alle anderen zur Umstellung. Es ist ja leicht zu sagen "es ist völlig ok, wenn Muslime nicht die Hand geben wollen", ok kein Problem soweit. Aber das hat ja zwei Seiten. Die Mehrheitsgesellschaft muss ja schließlich dann lernen, dass manche Menschen nicht die Hand geben, warum das so ist und dass es ok ist. Das heißt, eine ganze Menge zu verlangen. Deswegen sage ich auch immer, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Bei jedem Integrationsprozess sind zwei Seiten beteiligt, eine meistens mehr als die andere. Und gerade deswegen denke ich im Falle des Handgebens, dass die Belastung hier auf Seiten der Einwanderer liegt und auch liegen muss. Das heißt konkret, dass sie zwei Möglichkeiten haben: entweder sie akzeptieren, dass in Deutschland dem anderen Geschlecht die Hand zu geben als höflich betrachtet wird und lassen es eben nur bei ihren eigenen Bekannten sein (was aber der Idee, dass Deutsche weniger respektwürdig sind, Vorschub leistet) oder sie müssen sich jedes Mal erklären ("Tut mir Leid dass ich Ihnen nicht die Hand gebe, aber..."). Das ist anstrengend und nervig, aber das ist halt der Preis, den man bezahlen muss, wenn man solche Traditionen in einem Land behalten will, das sie nicht teilt.
4) Die zähe Neuordnung der Welt
Mit der Einführung der Mandate änderte sich die Kolonialherrschaft eher ideell als konkret. Zumindest auf dem Papier war es nun die Aufgabe der Mandatsträger, sich um das Wohlergehen und die „Entwicklung" der Bevölkerung zu kümmern. Darüber mussten sie der Mandatskommission des Völkerbundes regelmäßig Bericht erstatten. Sie trugen somit eine vertraglich festgeschriebene Verantwortung, an der sie sich theoretisch messen lassen mussten. Bewohner*innen der Mandatsgebiete konnten außerdem Petitionen und Beschwerden über Missstände an dieses Gremium senden. [...] Die afroamerikanische Frauenrechtlerin Addie Waites Hunton forderte zudem, an der Umgestaltung der Welt müssten Frauen ihren Anteil haben. Frauen, die in vielen europäischen Ländern seit Kurzem das Wahlrecht besaßen, hatten andererseits vergeblich auf einen Platz am Verhandlungstisch gedrängt; auch sie wurden an der Neuordnung der Welt nicht beteiligt. Die Internationale Frauenwahlrechtsorganisation wollte das Frauenwahlrecht in den Pariser Verträgen verankert wissen, doch der amerikanische Präsident erklärte das Wahlrecht zum nationalen Thema - das bedeutete das Aus für eine Diskussion in Paris. Nicht einmal auf Wilsons Vorschlag, eine Kommission für Frauenfragen einzurichten, die den Frauenvereinen beratend zur Seite hätten stehen können, wollten sich seine Konferenzpartner einlassen: Frieden zu verhandeln sei nicht die Angelegenheit von Frauen, befand der britische Außenminister Balfour. Und dabei blieb es. [...] Kaum eine Forderung der Außenseiter*innen der Pariser Friedenskonferenz hat an Gültigkeit verloren. Für die meisten von ihnen gab es einen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Friedenssicherung. Geblieben ist der Kampf um gleiche und gerechte Teilhabe und Repräsentation für Frauen, People of Color und LGBTQ, geblieben ist die Forderung nach Equal Pay, geblieben ist die globale Dimension dieser Themen. Blickt man zurück auf 1919, wird deutlich: Der Kampf für Gerechtigkeit und um Gleichberechtigung war immer zäh. Auch im Jahr 2019 erfordert er noch einen langen Atem. (Birte Förster, taz)
Das ist ein sehr empfehlenswerter, langer und spannender Artikel über die Versailler Friedenskonferenz, den ich hier nur in Auszügen zitiert habe. Ich habe selbst schon vor Jahren über den Versailler Vertrag geschrieben ( klick), aber mir war neu, welche Nebenkonferenzen und Themensetzungsversuche es damals gab. Gerade die Verzahnung mit der Frauenbewegung und der Anti-Kolonialismusbewegung sind spannend. Die Frauenbewegung deshalb, weil das in eine größere Reihe passt. Die Suffragetten besonders in den USA waren in diesen Jahren äußerst aktiv darin, ihre Sache mit anderen großen Themen zu verknüpfen und so eine breite Koalition für das Frauenwahlrecht zu schaffen. In Deutschland beispielsweise war die Sache des Frauenwahlrechts stark mit der sozialistischen Vision verknüpft; die SPD war schon seit längerem ein Vertreter der Gleichberechtigung (auf dem Papier, die Partei selbst war ein furchtbar patriarchalisch geführter Haufen). Besonders spannend ist aber der Fall in den USA, wo die deutlichste Parallele zu diesem Versuch besteht, Versailles an Frauengrundrechte zu knüpfen: hier verbündeten sich die Suffragetten mit den Temperenzlern. Deswegen kam es 1919 zum verfassungsändernden Doppelschlag: Prohibition und Frauenwahlrecht waren Bettgenossen. Die frömmelnden Temperenzler gewannen in den Frauen, die die Männer aus dem Suff ziehen wollten, wichtige Unterstützer, und umgekehrt unterstützten gerade die religiösen Radikalen das Frauenwahlrecht und verschafften durch diese Verknüpfung zweier Forderungen eine kritische Masse, die beide zum Erfolg brachte. Ebenfalls spannend zu sehen sind die ersten Versuche, den europäischen Mächten die Kontrolle über die Kolonien zu entreißen. Der Leidensdruck war 1919 diesbezüglich offensichtlich noch nicht hoch genug, und die innenpolitische Uneinigkeit der USA dürfte auch eine große Rolle gespielt haben (durch ihren Rückzug aus der Völkerbundidee wurde der viel mehr zu einem Kolonialmächteclub als es hätte sein müssen). Zudem fehlte den Vertretern der Kolonisierten in Versailles der Rückhalt; effektiv waren es Intellektuelle, eine schmale Avantgarde, die nicht wirklich überzeugend für neue "Staaten" Sprechen konnten. Beide Forderungen waren im Zweiten Weltkrieg weiter: in der Atlantik-Charta und später in der Menschenrechtserklärung und der UN-Charta wurde sowohl die Dekolonisierung als auch die Gleichberechtigung der Frau direkt eingebunden. Während die Frauengleichberechtigung 1949 schon deutlich weiter war, machte die Dekolonisierung die gleichen Probleme wie 1919, nur dass die USA dieses Mal ihr Gewicht in die Waagschale warfen und Frankreich und Großbritannien zu schwach waren, um Widerstand zu leisten (was 1956 in Suez ja bewiesen wurde). Die Zwischenkriegsjahre waren von beiden aber verschwendet worden, was das anging, und so gab es nach dem Krieg immer noch niemanden, der vernünftig die Kolonien in die Eigenstaatlichkeit führen konnte - mit den bekannten Folgen.
5) Tump literally did not understand what a shutdown would do
The Trump administration's shutdown of the federal government over the last two weeks is a synecdoche for the way it has run the federal government over the last two years. They blundered into it almost by accident, without any understanding of what they are doing nor any plan for success. Just as Trump did not expect to win the election and neglected to plan for his transition, he shut down the government on a whim, after right-wing media complained about his plan to approve a government funding bill. Nobody in the administration had a clear understanding of just what a shutdown would entail. Two devastating reports in the Washington Post over the weekend detail the horrifying scope of their ignorance. The administration did not realize that 38 million Americans lose their food stamps under a shutdown, nor did it know that thousands of tenants would face eviction without assistance from the Department of Housing and Urban Development. Administration officials "recognized only this week the breadth of the potential impact," reports the Post, and was "focused now on understanding the scope of the consequences and determining whether there is anything they can do to intervene." First Trump shut down the government, and then the Trump administration started looking into what effect this would have. [...] Just how long will it take for Trump to figure out that he is probably not the president who is going to break America's long-standing immigration policy deadlock? Probably longer than he can bear the political pain that his shutdown is bringing upon himself and his party. Democrats might be tempted to hand Trump a token ransom to end the very real pain of the shutdown. But to do so would invite further hostage-taking. All they can do in the meantime is continue to send Trump bills to reopen the government immediately, and wait for the president to realize the political blood on the floor is his own. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Das Ausmaß der Ignoranz bei diesem orangenen Haufen Elend im Oval Office ist immer wieder erstaunlich. Die USA und, in Erweiterung, die ganze Welt haben wirklich Glück, dass Trump bisher keiner echten Krise ausgesetzt war. Aktuell können es sich die USA leisten, eine destruktive Regierung zu haben, die das eigene Land sabotiert. Es ist ähnlich wie in Belgien, letztlich Zeichen einer Wohlstandsverwahrlosung: Man ist reich genug, um die Konflikte und unhaltbaren Versprechungen einfach wegzukaufen. Was in Belgien der Proporz-Bullshit zwischen Flamen und Wallonen ist, ist in den USA die Vernichtung jeglichen halbwegs zielgeführten bundesstaatlichen Handelns und der Versuch, Milliarden Dollar in rechte identity politics zu versenken und eine Mauer durch die Wüste zu bauen. Gnade uns Gott, wenn eine außenpolitische Krise kühle Analyse und entschlossenes Handeln vom US-Präsidenten verlangt. Das amerikanische politische System hat für diese Fälle keine institutionellen Checks and Balances außer den Beratern des Präsidenten - und das ist eine Reihe von Gestalten, die gruseln lässt.
Alexandria Ocasio-Cortez sure does know how to attract attention. I guess that's no surprise: she's photogenic, she's young, she's the leader of the #Resistance, and she defends herself pretty well on camera without constantly resorting to tedious talking points. She's made for our era. But sometimes she screws up. Today Chris Cillizza-joined by the media's entire universe of professional fact checkers-dinged her for a past mistake that she defended last night on 60 Minutes [...] Personally, I really, really like AOC. She's the kind of photogenic spokesman that progressives need, plus she knows how to drive conservatives crazy. Nor do I even mind occasional fuzziness in an effort to communicate broad points-something she does well. Still, her inexperience excuses only so much. If she gets a reputation for spouting nonsense without bothering to understand it-and she seems to be heading in that direction-her star is going to dim. I think she'd be well advised to slow down and study up just a little bit. (Kevin Drum, Mother Jones)
In traditional Washington terms, this 29-year-old former bartender is a person of little significance - one of the most junior members of the House, she can expect to wait decades before exercising any real power in this hierarchical institution. But, being telegenic, down-to-earth and quick-witted, she is already a multimedia star. She has 2.1 million Twitter followers - more than Speaker Nancy Pelosi (D-Calif.) or Senate Minority Leader Charles E. Schumer (D-N.Y.) - and she was just interviewed on "60 Minutes," television's top-rated news program. [...] The real problem with Ocasio-Cortez is not how she dresses or where she comes from. It's that she is an uber-progressive - a self-proclaimed "democratic socialist" - who cares more about ideological correctness than factual correctness. The Post's Fact Checker has documented her reign of error. [...] Anyone, of course, can err. What makes Ocasio-Cortez's errors especially troubling was her response when called out by Anderson Cooper on "60 Minutes." "I think that there's a lot of people more concerned about being precisely, factually, and semantically correct than about being morally right," she complained. Ocasio-Cortez partially redeemed herself with a tweet the next day: "Fact-checking is critically important. It's not always fun. But that's okay! It pushes me to be better." But her initial response displayed a cavalier attitude toward the truth similar to that of President Trump - who is, to be sure, a far more energetic purveyor of falsehoods. [...] In some ways, Ocasio-Cortez reminds me of Sarah Palin, a comparison neither woman will appreciate. Palin was another talented young communicator who made a big splash in national politics before having her lack of knowledge painfully exposed. (Max Boot, Washington Post)
Kevin Drum und Max Boot fassen von der linken und der rechten Flanke den gleichen Kritikpunkt an AOC zusammen, den ich selbst auch habe. Ich kann mich erinnern dass ich damals, als AOC gerade mit ihrem Überraschungssieg in den New Yorker primaries auf die Bühne gesprungen war, angesichts eines Interviews zum Thema Nahostkonflikt sehr kritisch ihr gegenüber war. Sie hatte in diesem Interview irgendwelchen Nonsens zum Thema Palästinenser und Israelis behauptet, der ein typisches Amalgam von Weisheiten aus dem linken Spektrum zu diesem Thema war, aber in entscheidenden Aspekten falsch. Ich weiß nicht mehr genau, was es war, aber mich nervte das damals. Diverse progressive Freunde wiesen auf ihre Jugend und Unerfahrenheit hin, was natürlich stimmt, aber nicht ewig eine Ausrede sein kann.
Meine Bauchschmerzen ihr gegenüber sind seither nicht besser geworden. Sie ist sicherlich nicht im selben Maße ein Looney wie es Sarah Palin war, und die Democrats sind auch nicht so verantwortungslos, jemand Ungeprüftes und so Unerfahrenes einfach nur des politischen Show-Vorteils willen zum Vizepräsidentschaftskandidaten zu machen; so etwas tun nur Republicans. Aber AOC hat offensichtlich wenig Probleme damit, mit gefühlten Fakten und auf ziemlich unsicherer Wissensbasis mit großer Selbstsicherheit Aussagen zu treffen, und das ist etwas, das ich nicht leiden kann. Ich werde in Zukunft glaube ich noch einen ausführlicheren Artikel zum Tod des policy-wonks schreiben, aber dieser Shift in der Partei der Democrats macht mir Sorgen. Meine Hoffnung wäre, dass AOC tatsächlich " study up" begeht und ihr unzweifelhaftes Talent gewinnbringend einsetzt und sich nicht zu einem Radikalisierungsfaktor entwickelt.
7) Chart of the day: Never believe corporations. Never.
Now along come Alicia Modestino, Daniel Shoag, and Joshua Ballance to look at things a different way. Their approach is so simple I'm surprised they're the first, but apparently they are. All they did was analyze an online database of job offerings to find out whether employers made their hiring requirements stricter when unemployment was high and they could be more selective about who they hired. Do I even have to tell you the answer? [...] The bottom line is that employers had a hard time finding qualified workers because they had consciously decided to get pickier about who they were willing to hire. With lots of college grads out of work and getting desperate, they figured they might as well try to pluck a few them out of the job pool, a phenomenon the authors call "opportunistic upskilling." And note that they weren't paying any more than they did with old job requirements, either. [...] My take on all this is to repeat something I've said before: Never believe corporations. Period.¹ Don't believe them when they say the "jury is still out" about the danger of the chemicals they produce. Don't believe them when they say environmental regulations will put them out of business. Don't believe them when they claim that they'll hire more people and boost their fixed investment if Congress will pass tax cuts. And don't believe them when they say they just can't find people to take their jobs. Most of them just need to stop goosing their hiring requirements and increase their pay rate a bit. Problem solved. (Kevin Drum, Mother Jones)
Bevor sich jemand über die starke Überschrift ärgert: Niemand würde einem Politiker weiter trauen, als man ihn werfen kann. Wir haben uns eine gesunde Dosis Skepsis gegenüber Wahlversprechen, Absichtsbekundungen und anderen Dingen angewöhnt, die Politiker so von sich geben. Es gibt nicht den geringsten Grund, einem Unternehmen auch nur ein Jota mehr Glaubwürdigkeit zuzugestehen. Es gibt eher gute Gründe, ihnen weniger zu geben, weil Politiker deutlich schärfer von den Medien überwacht werden als Unternehmenssprecher. Das vorneweg. Das eigentliche Thema "Fachkräftemangel" haben wir ja auch in Deutschland wieder und wieder durchgekaut. Dieselben Leute, die immer davon sprechen, dass die Marktkräfte nun mal - leider, leider - eine Senkung des allgemeinen Lohnniveaus verlangen und einen Abbau von Rechten und Privilegien kommen nie auf die Idee, dass Unternehmen vielleicht einfach mehr bezahlen müssen, wenn sie Fachkräfte wollen. Stattdessen beklagt die Wirtschaft zwar seit 20 Jahren den angeblichen Fachkräftemangel, aber besser bezahlen tun sie trotzdem nicht. Ein Informatiker etwa, ein ständig mangelnder Berufsstand, verdienen immer noch nicht wesentlich mehr als vor 10 Jahren. Von den Gehältern, die Maschinenbauer, Ingenieure und viele andere Jobs in den 1990er Jahren bekommen haben, können heutige Angestellte nur träumen - obwohl angeblich solcher Mangel herrscht. Einfach mal Marktwirtschaft wagen!
But now, the bad. Biden's focus on education is part of a deeply discredited model of labor income. He argues that wages are low in part because workers aren't getting enough education: "[B]y the end of this decade 6 in 10 jobs are going to need some training, some education beyond high school or you're not going to make it." The idea here is that of "human capital" - that some workers are making more because they have the skills to work at better-paying jobs, and some do not. Therefore we should increase educational attainment to reduce inequality. Sounds plausible, except for the minor problem that it's clearly not true at all. [...] In reality, wages are low because that is how the labor system has been deliberately structured. (Incidentally, this is why the effort to decrease poverty by boosting education was also a categorical failure.) The minimum wage has not kept up with inflation, and the economy has been run below top speed since the 1980s. With the brief exception of the late '90s, whenever it looks as though workers might get pricing power, the Fed has jacked up interest rates, creating a downward ratchet on the labor share of income. Meanwhile, lower taxes on the top income brackets and capital income have incentivized shareholders and executives to redirect most of the corporate surplus towards themselves and away from workers, R&D, and investment. [...] Because the plainly obvious fact is that 500 billionaires (and the rest of the top 1 percent) are a huge part of why we're in trouble. They constitute an oligarchy, which dominates politics and uses their control over the levers of policy to enrich themselves and keep the working class down. Biden can't see this, perhaps because he has been ideologically indoctrinated, or perhaps because he is personally too close to the oligarchs. (Ryan Cooper, The Week)
Joe Biden ist klar in der Tradition der Drittwegler. Er glaubt an das System der Meritokratie. Diesen Glauben teilt er mit Barrack Obama. Aber wie der Artikel überzeugend darstellt und wie Chris L. Hayes in seinem ebenso überzeugenden wie weiterhin bedrückend aktuellen Buch " Twilight of the Elites" bereits 2012 gezeigt hat, ist die Idee der Meritokratie eine Ideologie, die wenig Basis in der Realität hat und die nicht funktioniert, vor allem deswegen, weil ihr eigener Erfolg ihren Untergang bedingt hat. Biden und Obama entstammen beide Generationen, für die das meritokratische System des Bildungsaufstiegs funktioniert hat, aber das ist heutzutage schlicht nicht mehr gegeben, und die Gründe dafür stellen für beide einen blinden Fleck dar, weswegen ihre Bildungspolitik auch so furchtbar schlecht ist. Joe Biden ist ohnehin einer der für mich merkwürdigsten Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur 2020. Er hat es bereits mehrfach versucht und kam nie sonderlich weit, und er wäre über 70, wenn er dieses Mal anträte. Ja, er hat eine halbwegs ordentliche Bindung zur weißen Arbeiterschaft (zumindest sagt man ihm diese nach, ich kann nicht wirklich beurteilen ob das nicht viel Beltway-Folklore ist), aber in anderen Fragen ist er von der Mehrheitsstimmung des Landes mittlerweile ziemlich entfremdet. Er könnte den Job, daran habe ich bei ihm keinen Zweifel, das hat er als Vizepräsident ja auch unter Beweis gestellt. Aber er repräsentiert das Gestern, und ich bin nicht sicher, ob das die richtige Antwort auf Trumps Vorgestern-Vision ist. Oder ob, sofern sie das ist, Sherrod Brown diese Lücke nicht besser ausfüllen könnte. Ah, die Invisible Primary hat begonnen. Die schönste Zeit des Vier-Jahres-Zyklus. ;)
9) Tweet von Christian Lindner
„Ich wollte nur mal sagen: Ich bleibe..." und drei Gründe dafür, warum Politiker auf Social Media präsent sein sollten. CL pic.twitter.com/HwPzED4xFZ
- Christian Lindner (@c_lindner) 8. Januar 2019
Ich möchte auch mal Christian Lindner loben und ihm zustimmen. Was er hier zum Thema Robert Habeck und Soziale Medien sagt, kann ich nur unterstreichen.
10) Why regulators went soft on monopolies
Antitrust authorities once fought against monopolies, but for the past four decades they have given a green light to merger after merger. The guardians who were meant to protect competition have become the principal cheerleaders of monopolies. The Department of Justice (DOJ) and the Federal Trade Commission (FTC) have become revolving doors for highly paid economists and lawyers whose only goal is to look after their corporate clients rather than voters, consumers, workers, suppliers, and competition. Americans have the illusion of choice, but in industry after industry, a handful of companies control entire markets. Two companies control 90 percent of the beer industry. Over 75 percent of households face local monopolies in high speed internet. Four airlines dominate airline traffic, often enjoying local monopolies in their regional hubs. Non-existent antitrust enforcement has made them all possible. The boom in corporate mergers over the past 40 years surpasses the original merger mania under robber barons like John D. Rockefeller and J.P. Morgan. We are now living in a new Gilded Age. [...] If there is one man who is responsible for the revolution in antitrust thinking, it is Robert Bork. Perhaps best known as an unsuccessful Supreme Court nominee, Bork was a leading thinker in the so-called Chicago school of economics. In his view, antitrust enforcement only served to protect small firms from competition, keeping industries fragmented at the expense of cost efficiencies. Bork argued that the only factor that matters in antitrust is "consumer welfare," which could only be measured by consumer prices-the lower the price, the better the consumer's welfare. Everything else was populist demagoguery. President Ronald Reagan's DOJ put Bork's views into practice with the relaxed Merger Guidelines in 1982. Since then, the DOJ and FTC adopted the "consumer welfare standard" and almost never reject mergers so long as companies promise to keep prices low. Gone was any concern regarding concentrations of economic and political power, harms to innovation, economic vitality, suppliers, and workers. (Jonathan Tepper, The American Conservative)
Ich habe immer das Gefühl, dass das eine der größten verpassten Chancen des "klassischen" Konservatismus ist. Bei den Ordoliberalen hat Monopol-Kontrolle ja zumindest in der Rhetorik auch immer eine große Rolle gespielt, aber selbst im "Wirtschaftsflügel" der CDU ist dieses Thema heute eher unter "ferner liefen" gebucht; da herrscht auch immer Deregulierung als Hauptthema vor. Gefühlt ist das eine Schande; die Linke wie die Liberalen tun sich immer schwer mit diesem Thema, aus unterschiedlichen Gründen: die Linke, weil Monopolkontrolle gleichzeitig ein Bekenntnis zu Kapitalismus ist, die Liberalen, weil sie einen Reflex gegen jede staatliche Intervention haben. Konservative haben beide Probleme nicht, und Monopolkontrolle ist eigentlich auch ein konsensfähig-populäres Thema, mit dem man sich hervorragend zwischen diesen beiden Polen aufstellen kann. Mein Eindruck ist, dass die konservativen Parteien sich da haben kapern lassen. Das ist aber schon lange her: der obige Artikel datiert die "feindliche Übernahme" nicht grundlos in die 1980er Jahre. Reagan, Thatcher und Kohl waren in ihren jeweiligen Länder wohl diejenigen, die die innige Beziehung zwischen Großkonzernen und Politik endgültig konsensfähig gemacht haben, und um es milde zu sagen haben die Drittwegler nicht gerade viel getan, um hier Besserung zu erwirken ("Genosse der Bosse" und so). Monopolkontrolle ist daher auch ein gutes Thema für Linksliberale: es erlaubt die Korrektur von Marktverzerrungen in dezidiert marktwirtschaftlichen und sogar marktfreundlichen Bahnen. Sollte mal jemand aufgreifen.
11) One Russian in Four Lacks an Indoor Toilet, One of Many Signs There are Now 'Four Distinct Russias'
According to a new report by Russia's state statistical agency, Rosstat, 35 million Russians live in houses or apartments without indoor toilets, 47 million do not have hot water, 29 million don't have any running water inside their residences, and 22 million do not have central heating. In fact, only 62.7 percent of the Russian population has the usual accoutrements of modern existence - water in the house, plumbing, heating and gas or electric ranges, Rosstat says, a fact that must seem incredible to those who visit only Moscow or St. Petersburg but a fact of life for those who lives beyond the ring roads of the capitals. Russian blogger Oleg Borovsky says that the image many have of Russia as one unified country is wrong. "In Russia today, there are practically no cities except for Moscow. Even St. Petersburg is beginning to recall places in distant regions, half-abandoned settlements, and aging infrastructure. With regard to other "cities," he continues, there is "nothing to say: there degradation and decline are obvious literally to the unaided eye. It is sufficient to go 50 versts from Moscow and you will see that there the snow isn't cleaned from the streets (even in Moscow oblast!) let alone all the rest" of the trash. [...] Right now, however, "a real demographic reformatting of Russia is taking place," as a result of which everything and everyone is being concentrated within "a radius of 200 kilometers around Moscow." Russians are leaving everywhere else. Consequently, within this century, we will see the disintegration of Russia. And what is the most horrible thing about this, Borovsky concludes, is that "those chiefly responsible for this process are located inside of Russia" because "what is taking place in Russia is the result of the absolutely insane, inept and incompetent administration of the country." It is certainly not the work of foreigners, however pleased they may be. (Paul Goble, Johnsons Russia List)
Ich bin nicht Russland-Experte genug um sagen zu können, wie zutreffend die obige Einschätzung ist, aber es klingt grundsätzlich realistisch (abgesehen vom alarmistischen Ton des Zerfalls des Landes). Russlands wirtschaftliche Daten sind katastrophal, wie Russlands Wirtschaft halt immer schon war, und wie zu besten Sowjet-Zeiten wird der bestenfalls stagnierende, aber wahrscheinlich realiter sinkende Lebensstandard der Bevölkerung durch eine martialische Außenpolitik und Investments in Waffen überdeckt, mit denen man hofft, in der "Big Boy League" mitspielen zu können. Ein atomar bewaffnetes, zutiefst unsicheres Russland mit der emotionalen Reife eines jugendlichen Straßenschlägers und ungefähr denselben wirtschaftlichen Aussichten ist alles, aber nicht beruhigend. Und es gibt keine Aussicht auf Besserung. Die Hoffnungslosigkeit, die von diesem Flecken Erde ausgeht, ist erdrückend.