Die Neugotik ist eine vergessene, ja verachtete Stilrichtung. Das zeigt sich unter anderem daran, dass es darüber derzeit kein einziges zusammenfassendes Buch auf dem Markt gibt. Auch in Bibliotheken findet sich nichts Nennenswertes. Immer wieder stößt man aber, wenn man im Internet forscht, auf einen längst nicht mehr neu lieferbaren Band aus der Reihe „Heyne Stilkunde“: Christian Baur: „Neugotik“.
Als erste Einführung wäre das sich er brauchbarer Band, dachte ich, und wollte ihn schon bei irgendeinem Antiquariat online bestellen. Tat es dann doch nicht.
Zum Glück, denn vor ein paar Tagen kam ich an einem kleinen und extrem preisgünstigen Antiquariat in der Windmühlgasse nahe der Mariahilferstraße in Wien vorbei, schaute hinein, stöberte ausgiebig – und siehe da: Knapp über Knöchelhöhe entdecke ich in einem der Kunst gewidmeten Regal dieses „Neugotik“-Büchlein! Um keine zwei Euro wechselte es den Besitzer.
Der neue Besitzer machte sich sofort an die Lektüre und las es inzwischen fertig.
Knapper Überblick über die Neugotik
Das Buch bietet einen schönen Überblick über die Neugotik von ihren ersten Vorboten im 18. Jahrhundert (Horace Walpoles Villa „Strawberry Hill“ in Twickenham) bis zur amerikanischen Neugotik nach 1900 (z. B. mit der „Kathedrale des Lernens“, dem Hochhaus der Universität Pittsburgh von 1926/27).
Dazwischen gibt es eine Fülle von Bauten, von denen man einige markante kennt. Da wären zum Beispiel:
- der Kölner Dom, der ab 1842 fertiggebaut wurde und dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist;
- das Gothic Revival in England mit Schlössern wie „Dalmeny House“ von William Wilkins, 1815;
- die wegweisenden Entwürfe und Bauten von Augustus Welby Pugin in England;
- Die Mariahilfkirche in der Au in München (muss beim nächsten Besuch in München besichtigt werden);
- die „Houses of Parliment“ in London von Charles Barry (1840-65);
- Burg Stolzenfels am Rhein, Schloss Lichtenstein in Schwaben, Hohenschwangau und Neuschwanstein in Bayern;
- das Parlament in Budapest.
Für mich als Österreicher sind besonders interessant:
- die Franzensburg im Schlosspark in Laxenburg;
- Schloss Anif bei Salzburg;
- natürlich Votivkirche und das Rathaus in Wien;
- der Neubau des Linzer Doms;
- St. Nikolaus in Innsbruck (das soll eine der am schönsten gestalteten und erhaltenen neugotischen Kirchen sein; schade, dass Innsbruck so weit weg ist…).
Der Band zielt schon allein seines Umfangs wegen nicht auf Vollständigkeit ab. Daher bleiben unzählige neugotische Kirchen und sonstige Bauten unerwähnt. Da es nirgends ein Verzeichnis neugotischer Bauten gibt, müsste man sich also auf die Suche machen. Allein in den Wiener Außenbezirken fallen mir gleich eine ganze Reihe schöner neugotischer Kirchen ein.
Interessante und eigenständige künstlerische Leistung
Baur stimmt natürlich nicht in den Chor der Neugotik-Verächter ein, sondern sieht diesen Stil aufgrund seiner genaueren Kenntnis als durchaus interessante und eigenständige künstlerische Leistung. Wesentlich ist ihm dabei zu zeigen, dass die Neugotiker nicht einfach die Gotik imitierten, sondern sie geradezu in Idealform zu realisieren versuchten. Echte gotische Bauten sind ja üblicherweise nicht von heute auf morgen gebaut worden, sondern über Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte, und während der langen Bauzeit wurde munter umgeplant und im jeweils neuesten Stil weitergebaut, sodass man die Baugeschichte außen ablesen kann. Neugotische Kirchen wurden hingegen innerhalb weniger Jahre fertig (von wenigen Gegenbeispielen abgesehen) und sind wie aus einem Guss, gewissermaßen so, wie ein gotischer Baumeister sich seine Kirche im Entwurf vorstellte, ohne sie je so bauen zu können.
Weiters nützten die Architekten des 19. Jahrhunderts selbstverständlich die technischen Mittel der Zeit, insbesondere den Eisenbau, sodass im Extremfall ein neugotisches Rippengewölbe eiserne Rippen haben konnte. Das Argument: Auch die gotischen Baumeister des Mittelalters hatten keine Scheu, die jeweils modernsten technischen Mittel anzuwenden.
Ein neugotischer Bau ist außerdem im Idealfall ein Gesamtkunstwerk von Architektur, Ausstattung, Ausmalung und Glasfenstern im neugotischen Stil.
Hass auf die Neugotik
Allerdings gibt es nur noch wenige Beispiele, die unbeeinträchtigt erhalten sind, da im 20. Jahrhundert geradezu ein Hass auf die Neugotik wütete und man ungeniert neugotische Ausstattungen aus Kirchen entfernte oder die Kirchen gleich ganz abriss: „Noch in den siebziger Jahren hatte man offenbar keine Bedenken, die nach dem Vorbild des Altenberger Doms errichtete neugotische Dominikaner-Klosterkirche in Düsseldorf, von dem bedeutenden Architekten Friedrich v. Schmidt, für die Raumbedürfnisse eines Bankhauses abzubrechen (1973).“ (S. 215)
Gespannt bin ich jedenfalls, ob dieser Stil bald einmal ein Revival erleben wird. Immerhin war auch der Jugendstil einmal verpönt, genauso wie der Historismus im allgemeinen. Die Chancen stehen, denke ich, für die Neugotik gar nicht so schlecht.
Christian Baur: Neugotik. Heyne Stilkunde. Heyne, München, 1981. 269 Seiten, zahlreiche, z. T. farbige Abbildungen.
Bild: Wolfgang Krisai: Die Votivkirche in Wien. Buntstiftzeichnung, 2015.