Chick liest Tschick: Urlaubslektüre

Ein Paar Nikes. Antiallergische Augentropfen. Daneben eine ansatzweise durchgefettete Tüte mit einer angebissenen Butterbreze und drei Riegel Kinderschokolade. Auf dem Boden der Ankunftshalle des Münchner Flughafens breite ich den halben Inhalt meines Koffers aus, um für den Flug nach Berlin umzupacken. Schließlich drüfen keine spitzen, langen, explosiven & scharfen Gegenstände mit an Bord und ich bin mir gar nicht so sicher, was eigentlich alles in meiner Handtasche drin ist. Wie der letzte Flughafenmessi sitze ich also in meinem Hausrat, als ein adretter Jungmanager auf mich zukommt und mir ein Taschenbuch hinhält. Ich sei ja eh am Packen, grinst er mich an. Und obendrein wohl genau so unorganisiert wie der Protagonist in dem Buch, das er gerade auf dem Flug nach München gelesen hat. Also würde er mir das Buch schenken. Ich könne eventuell was draus lernen. Er legt das Buch auf den Sitz neben mir und frägt, ob er im Tausch ein Stück von der Kinderschokolade bekommen würde. Ich starre ihn perplex an und nicke wortlos. Er grinst nochmal frech und nimmt sich einen Riegel Schokolade. Dann wirft er lässig sein Sakko über die linke Schulter und schlendert zum Ausgang. Na ja, und so habe ich Tschick kennengelernt.
Chick liest Tschick: Urlaubslektüre
Tschick ist 14 und ein Asi. Findet Maik. Maik ist auch 14, aber kein Asi. Hofft er zumindest.
Jedenfalls geht Tschick nach den Osterferien plötzlich in Maiks Klasse. Der Lehrer erklärte, dass Tschick Russe sei und gar nicht so blöde. Tschick sieht irgendwie tot aus, spricht undeutlich und wackelt leicht mit dem Kopf. Maik glaubt, dass Tschick an seinem ersten Schultag am Gymnasium hackevoll ist. Russe und besoffen. Für Maik macht das Sinn.
Dass Tschick und er Freunde werden, kann sich Maik nicht vorstellen. Dazu hat er auch gar keine Lust. Schließlich ist er in Tatjana Cosic verliebt und das stresst ihn schon genug. Irgendwie klappt es dann aber doch. Das mit dem Freunde werden.   "Meine Familie kommt aus der Walachei", erklärt Tschick."Ich denk, du kommst aus Russland", wundere ich mich."Ja, aber ein Teil kommt auch aus der Walachei. Mein Großvater. Und meine Großtante und - was ist daran so komisch?""Das ist, als hättest du einen Großvater in Jottwehdeh.""Und was ist daran so komisch?""Jottwehdeh gibt es nicht, Mann! Jottwehdeh heißt: Janz weit draußen. Und die Walachei gibt es auch nicht. Wenn du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er wohnt in der Pampa.""Und die Pampa gibt es auch nicht?""Nein", erkläre ich."Aber mein Großvater wohnt da.""In der Pampa?""Du nervst, echt. Mein Großvater wohnt in der Walachei. Und wir fahren da morgen hin.""Was bist du denn jetzt eigentlich? Russe? Oder Walacheier oder was?""Deutscher. Ich hab nen Pass. Aber meine Familie ist von überall. Wolgadeutsche. Volksdeutsche. Und Banater Schwaben, Walachen, jüdische Zigeuner - ""Was?""Was, was?""Jüdische Zigeuner?" "Ja, Mann.""Gibts nicht.""Was gibts nicht?""Jüdische Zigeuner. Das ist wie englische Franzosen. Gibts nicht.""Natürlich gibts keine englischen Franzosen", sagte Tschick. "Aber es gibt jüdische Franzosen. Und es gibt auch jüdische Zigeuner.""Zigeunerjuden.""Genau. Und die haben so ein Dings aufm Kopf und fahren in Russland rum und verkaufen Teppiche. Kennt man doch. Mit Kippe aufm Kopf.""Kippe am Arsch", sage ich. "Man kann nur entweder Jude oder Zigeuner sein.""Aber Zigeuner ist keine Religion., Mann. Jude ist Religion. Zigeuner ist einer ohne Wohnung.""Die ohne Wohnung sind zufällig Berber", erwidere ich."Berber sind Teppiche", sagt Tschick.
In einem Germanistikstudium liest man ja so einiges. Vertrocknetes von vollkommen zu Recht vollkommen vergessenen Autoren. Gewalttätiges von frustrierten und betrogenen Hausfrauen. Unverständliches von zugekoksten Schwadronierern mit Weltherrschaftsfantasien und Peinliches von stümperhaften Dilettanten, die unverständlicherweise einen Überraschungserfolg gelandet haben. Und dann gibt es da Tschick von Wolfgang Herrndorf. Frühmorgens gegen Schokolade eingetauscht, wie aufm Münchner Schwarzmarkt im Zweiten Weltkrieg. Stundenlang mit Tschick und Maik im geknackten Lada durch Ostdeutschland gekurvt und ab 16:35 Uhr Nachmittags eine mittelschwere Depression geschoben, weil die 253 Seiten einfach zu wenig waren. Abends um 23:17 Uhr erfolglos nach Fortsetzungs-Romanen gegoogelt. Verzweifelt in den Schlaf geweint.
Tschick ist ein absolutes Sommerbuch. Es schmeckt nach staubiger Stadthitze, gleißendem Sonnenlicht zwischen Stadthäuserschluchten und vertrocknetem Rasen in fahrradbeladenen Vorgärten. Einen besseren Begleiter für den ersehnten Sardinienurlaub oder die lange, sonnige Bahnfahrt an die Mecklenburgische Seenplatte gibt es nicht. Und ich habe immerhin schon Ferien auf Saltkrokan gelesen.
Wenn ihr in nächster Zeit an einen Flughafen fahrt, nehmt tonnenweise Kinderschokolade mit. Vielleicht bietet euch ja jemand dieses kluge, warmherzige und ultrakomische Buch an. Und dann: Tauscht! Zwerchfellkater vor Hüftspeck!
Lesen: Ja, aber was? Welches Buch hat dich so beeindruckt, dass du es eigentlich wieder in deinen Urlaubskoffer packen könntest?Chick liest Tschick: Urlaubslektüre

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