Der Chicago Marathon – lang gehegter Traum, der plötzlich zum Greifen nah war. Die ersten Urlaubstage in dieser traumhaften Stadt verflogen im Laufschritt. Bevor ich mich versah, war ich auf der Strecke und überquerte mit mehr als 40.000 anderen Läufern erfolgreich und vor allem lächelnd die Ziellinie. Mehr Läufer als je zuvor waren so Teil eines spektakulären Rennens.
Nach der spannenden Marathon Messe konnte ich es kaum erwarten auf die Strecke gelassen zu werden. Auch wenn sich Chicago erst recht spät marathonfein herausputzte. Den Freitag ließ ich wie erwähnt nach meinem Messebesuch in Chinatown ausklingen. Samstag, der Tag vor dem Lauf, sollte eigentlich ruhiger werden. Aber das unglaublich schöne Herbstwetter verlockte natürlich wieder dazu, einfach nur draußen sein zu wollen und die Straßen abzugrasen. Geschäftiges Treiben war auf den Straßen der Stadt zu beobachten. Mein Weg führte mich nach einem sportlich-gesunden Frühstück direkt Richtung Start-Ziel-Bereich in den Grand Park. Dort liefen seit den frühen Morgenstunden intensive Vorbereitungen, um den wirklich großräumig abgesperrten Bereich mit Zäunen zu sichern.
Von der ‘Bean’ im Millennium Park, der momentan bis hinab zum Lake Michigan ausgebaut wird, bis weit hinter dem bekannten Springbrunnen, der Buckingham Fountain, wurde alles abgeriegelt. Am Samstag war dieser Bereich noch frei zugänglich, so dass man sich einen sehr guten Eindruck davon verschaffen konnte, was am Sonntag uns Läufer warten würde. Die Nervosität schwankte zwischen leichter Panik und absoluter Ruhe. Also alles total normal für einen Marathon und dem Tag davor.
Der Startbogen stand und aus den Lautsprechern waren erste Testklänge zu vernehmen. Die Erfrischungsstände, Umkleidemöglichkeiten, Zelte für die Kleiderabgabe und natürlich Unmengen von Dixies, die selbstredend Sonntags viel zu wenige waren, standen schön sortiert entlang des Rosengartens. Hier und da und etwas besorgniserregend waren die sogenannten ‘Spotter’ Hochstände. Von dort aus sollten am Renntag Sicherheitskräfte den Überblick behalten.
Meine geplagten Spaziergängerbeine ruhte ich in der Sonne am Brunnen aus, während ich die Helfer beim lässig-entspannten Umherwirbeln beobachtete. Ja, es ging alles mit rechten Dingen zu. Den Abend ging ich mit Tee am Fluss entspannt an und freute mich wie ein kleines Kind auf den nächsten Tag.
Abschließend natürlich das Übliche: Startnummer ans Shirt anbringen, Sachen zurecht legen, Verpflegungsstrategie durchdenken, Beutel mit Wechselsachen packen und Frühstück vorbereiten. Mit dem Wecker ging auch der Fernseher an. Natürlich wurde bereits von der Strecke berichtet. Stockfinster war es! Nach einer intensiven Triathlonsaison und Wettkämpfe, die auch meist zu nachschlafender Zeit begonnen, konnte ich es kaum glauben, dass meine Uhr noch eine fünf vorn stehen hatte. Als ich mit meinem Kokos-Matcha Wasser die Straße betrat, waren die Straßen voller Läufer. Trubel und Geschnatter war in den verschiedensten Sprachen von bibbernden Läufern zu vernehmen. Es waren etwa zwei Kilometer bis zum Sicherheitsbereich. Genügend Zeit, um sich damit anzufreunden, was nun folgen sollte.
Scheinwerfer erleuchteten die fünf Sicherheitstore, die zum Startgelände führten. Diese fünf Tore markierten den Beginn des abgesperrten Bereichs und durften nur von uns Läufern durchquert werden. Alle lagen auf Brücken, die über die Bahnschienen der Schnellzugstrecke führten. Da ich meinen Wechselbeutel mit hatte, konnte ich nicht durch den Expresseingang. Dennoch war ich blitzschnell durch die Absperrung gekommen. Dank der durchsichtigen Taschen waren die Sachen von allen Läufern flink kontrolliert. Während dieser Bereich für die Athleten am Tag zuvor noch so verlassen und riesig aussah, wirkte nun alles so befremdlich eng. Geradezu winzig für die Massen, die hier durchgeschleust wurden. Die Organisation lief wie ein Uhrwerk. Verzögerungen gab es nicht. Lautsprecherdurchsagen halfen, die Orientierung nicht zu verlieren. Die Hinweise und die interessanten Informationen des Moderators waren sehr unterhaltenden. So wurden auch die unzähligen Helfer gebührend genannt und gefeiert.
Zum Glück ging es für mich bei der Kleiderabgabe flott. Ich brauchte letztlich jede Sekunde, um es noch auf ein Häuschen zu schaffen. Wie es immer so ist. So viel Zeit, die einen sprichwörtlich durch die Finger rinnt. Um mich herum dann plötzlich deutsche Stimmen. Leise Angst beschlich uns, die die mit der ersten Welle starten sollten. Dicke Minuspunkte hagelte es. Das waren aber auch die einzigen, die ich für diesen Lauf aussprechen konnte. Ich wippte ungeduldig auf und ab und musste an eine Karte auf meinem Schreibtisch denken. Ein kleines Mädchen ist darauf zu sehen und neben ihr prangt der Schriftzug: ‘Hunger. Pippi. Kalt.’ Ich jetzt auch gerade! Alles zusammen. Kurz bevor mein Startblock E zusammen mit A bis D um 7:20 schließen sollte, sprang ich aus dem Dixie. Ich hastete zur Desinfektionsstation. Ja, darin sind die Amerikaner genauso gut wie im Durchschleusen von Massen. Anschließend dann zum Sicherheitspersonal und ab in den Startblock – und zu war er. Nein, natürlich nicht. Nur leider war das etwas schlecht kommuniziert. Während die Blöcke bis D tatsächlich pünktlich geschlossen wurden, blieb E bis zum Start offen. Wer seine Welle bis dahin verschlafen hatte, musste sich am letzten Startblock der zweiten Welle anstellen und eben eine halbe Stunde später auf die Strecke gehen.
Ich für meinen Teil stand zumindest im richtigen Block und es war sogar noch Luft, um sich einigermaßen frei bewegen zu können und entspannt der Nationalhymne zu lauschen. Der Blick perfekt. Als einziger Startblock starrten wir gebannt in Richtung Skyline und den Willis Tower – im Rücken über dem See stieg die Sonne immer höher.
Ende der Hymne, tobender Applaus, Gänsehaut. Wirklich schade, dass ich all diese Momente eigentlich allein erleben musste. Meine Familie war wer weiß wo. Der Start- und Aufenthaltsbereich war unglaublich weiträumig abgesperrt. Selbst die Überführung weit vor dem Start wurde von Zuschauern frei gehalten. Ich wartete derweil ungeduldig, dass es endlich losging. Als um 7:30 Uhr der Startschuss fiel, stellte ich mich auch eine lange Wartezeit ein. Die Kenianer waren bereits über alle Berge oder besser gesagt, überwunden die erste Brücke.
Aber das Feld für die Masse setzte sich sehr schnell in Bewegung und schon nach etwa 11 Minuten musste ich richtig loslaufen. Was für ein Gefühl. Endlich. Vielleicht jetzt schon mal weinen vor Freude, Aufregung, Glück und Angst? Aber die Familie sollte ja irgendwo direkt nach dem Start auf der rechten Seite warten. Wie würde das denn aussehen, so halb aufgelöst. Gab ja auch eigentlich keinen Grund. Nur schwere Beine. Sehr schwere Beine mit krabbelnden Fußsohlen. Also lief ich gemütlich los. Es dauert eine Weile, bis ich einen Rhythmus für mich gefunden hatte. Irgendwann pendelte ich mich exakt bei meinem vorgegebenen Schnitt von 5:10 bis 5:20 ein. Auch wenn ich eigentlich keine Zeit anvisieren wollte, brauchte ich einen gewissen Plan. Einfach zur Sicherheit, damit ich mich nicht in der Zeit verliere, nicht zu schnell laufe, aber auch nicht sinnlos herumtrödelte. Denn trödeln kann ich wirklich gut. Gibt es etwas Aufregendes, etwas Neues um mich herum, kann ich eine komplette Mahlzeit verpassen. Ich schaue hier, ich schaue da… Auf jeden Fall schien mir diese Geschwindigkeit nach all den Tagen und Kilometern in der Stadt eine vernünftige Zeit, um gut durch das Rennen zu kommen. Ich erinnerte mich an meine letzten Marathons. Da lief nicht immer alles optimal. Mit Blick auf diese unendlich scheinende Distanz von mehr als 42000 Metern, kommen einem eben so Gedanken. Nach unzähligen Halbmarathons im Training und Wettkampf dieses Jahr, musste ich mir eine gute Strategie für diese Distanz überlegen. Mein Kopf lässt sich nicht damit austricksen, einfach zu sagen, dass ich heute mal eben vier mal zehn Kilometer und dann noch etwas mehr laufe. Ich weiß nur zu gut, wie sich vier, fünf, sechs Stunden Wettkampf elendig lang hinziehen können. Kommt dann noch ein Zwacken hinzu… Daran wollte ich gar nicht denken. Ich beschloss den ersten Halbmarathon einfach hinzunehmen. So als würde ich knapp vier Stunden beim Triathlon unterwegs sein, um abschließend noch eben einen weiteren Halbmarathon zu laufen. Womit für mich der Wettkampf eigentlich erst so richtig beginnt und spannend wird. Letztlich war ja alles irgendwie unbegründet. Denn es lief so einfach wie nie zuvor.
Stolpernd waren die Gedanken schnell verflogen, als ich die erste von unzählig vielen Brücken überquerte. Die haben so ihre Eigenheiten in Chicago. Die Straße endet abrupt und ein Gitter aus Stahl, über das sonst die Autos dröhnen, muss überwunden werden. Ein komisches Laufgefühl. Die kleinen Noppen drücken sich sogar durch die Laufsohle durch und das, obwohl die Brücken mit Teppich ausgelegt sind. Die Teppiche und Noppen sind echte kleine Fallen, die es dem ein oder anderen Läufer gerade zum Ende hin das Leben ziemlich schwer machen konnten.
Kurz danach erkenne ich im Gewirr von Läufern und Unmengen von Zuschauern meine Familie. Ein überragendes Gefühl. Natürlich darf ein kurzes Hallo nicht fehlen, bevor ich weiter hin und her laufe. Die ersten Kilometer ist es wie immer. Ein ziemliches Durcheinander von Geschwindigkeiten. Ich hatte etwas das Gefühl, dass doch viele Läufer im falschen Startblock gelandet waren. Ich sah Pacer um mich herum, die eine Zielzeit von 4:10 anvisierten. Lange Zeit kam mir niemand unter die Augen, der schneller laufen wollte. Die Sache mit den Pacern war beim Chicago Marathon sowieso sehr speziell und ich konnte das alles nur so halb durchschauen. Jeder Läufer hatte auf der Messe die Möglichkeit, sich als Pacer zu melden. Er bekam ein extra Schild für den Rücken mit der Zielzeit. Egal, ob man zehn oder mehr Marathons gelaufen ist, oder nun zum ersten Mal an so einem Lauf teilgenommen hat. Ich glaube, man möchte damit den Gemeinschaftscharakter stärken. Denn egal welchen Pacer man sich angeschlossen hat, man kam mit der Gruppe an Läufern um ihn herum automatisch ins Gespräch. Es gab noch eine zweite Gruppe mit Pacer. Diese hatten ein neongelbes Tank an. Kurz vor Kilometer 10 lief ich einige Zeit mit Emma. Sie machte einen großartigen Job. Sie wollte ihre Läufer in vier Stunden über die Ziellinie bringen. Ich bin ganz sicher, dass sie das auch geschafft hat. Eine energiegeladene, drahtige Frau mit tausend Tipps. Sie erinnerte uns, dass wir locker bleiben sollten. Stupste uns an, wenn unsere Schultern zu den Ohren wanderten. Feierte mit dem immer und überall lautstark jubelnden Publikum. Läuferin durch und durch!
Die Strecke war ein Traum. Super flach, nur hier und da besagte Brücken. Überall gesäumt von einer nie enden wollenden Aneinanderreihung von Zuschauern. Nicht ein Meter ohne jemanden, der jubelt, singt, motiviert, applaudiert. War eine Seite etwas leerer, war die andere Seite um so voller. Nicht einen Meter Langeweile. Stattdessen fiel es mir schwer, mich auf die Strecke zu konzentrieren. All das aufzusaugen, was es zu sehen gab. Ständig passiert etwas, was mein Interesse weckte. Das Kreuz und Quer durch Downtown am Anfang verschwimmt irgendwie in meiner Erinnerung. Ich weiß nur, dass irgendwann jemand sagt, dass da sein Büro ist und alle nur so: Coooool! Ach ja und die Sonne. Wenn die aufgehende Sonne über dem See immer höher steigt, zwischen den Hochhäusern auftaucht und die Glasfassaden glitzern lässt… Dabei hört man dieses unaufhörlich Getappel von Turnschuhen und immer und immer wieder Zuschauer. Das sind Momente!
Weiter nördlich davon begann der idyllischste Abschnitt des Marathons. Von Old Town ging es über Lincoln Park durch diverse Nachbarschaften mit Kleinstadt-Charakter. Rockbands tönten durch die kleinen Straßen. Immer wieder Zuschauer mit Megafonen und lockeren Sprüchen. Pfarrer und Pastoren in ihren kirchlichen Gewändern standen nicht nur am Straßenrand. Sie sangen und tanzten oder riefen uns etwas zu. Hier galt für alle, für Helfer und Zuschauer: We love to entertain you. Das war bei diesem Lauf nicht irgendein abgedroschener Spruch, sondern tatsächliche Freunde und etwas, was von Herzen kam und von Herzen von all den Läufern aufgenommen wurde. Animation pur mit Choreographien, Bannern, Sprechchören, Marching Bands,… Es war wunderbar die Stadt so erleben zu können. Mit einer ganz anderen Geschwindigkeit, ohne den üblichen Stadtlärm. Es wurde gelärmt, und wie! Aber auf so schöne Art und Weise.
Äußerst Eigentümliches geschah kurz vor der zehn Kilometermarke. Da wo es fast zu den Chicago Cubs und ihrem Wrigley Field geht. Eine weiße Taschentücherfront tat sich auf der rechten Spur in der Ferne auf. Davor zwei Helfer, die in Windeseile von einer Küchenrolle Stückchen abrissen und uns Läufer sprichwörtlich unter die Nase hielten. Dort durfte gnadenlos geschnäuzt werden. Später gab es Tüchlein aus einer Taschentücherbox. Aber damit nicht genug. So wie diese Stationen gab es zahlreiche, immer wiederkehrende Merkwürdigkeiten auf der Strecke. Ab und an standen Helfer mit Schnittchenbrettern am Rand. Darauf irgendeine komische Masse. Das musste ich mir später genauer anschauen. Letztlich stellte es sich als Vaseline heraus. Wundgelaufene Stellen konnten so frühzeitig bekämpft werden.
Sehr schön auch der Herr bei Kilometer fünf, der sich die Füße hat massieren lassen. Für ihn sicher nicht lustig, aber für uns Läufer und Zuschauer ein merkwürdiges Bild an der leer gefegten ersten Hilfsstation. An den Verpflegungspunkten tummelten sich mitten auf der Straße ein oder zwei Helfer mit einem Schildchen wie von einem Schülerlotsen. Diskret wird mit ihnen auf die Pausenhäuschen aufmerksam gemacht, die meist gut verborgen um Ecken herum oder hinter Zäunen aufgestellt wurden. Ihr seht, da kann einem gar nicht langweilig werden. Zu schade, wenn man einfach nur an allem vorbei hastest und das Interessanteste versäumt. So wie all die Läufer, die zahlreich mit Kopfhörer laufen. Das hat meines Erachtens in den vergangene Jahren sowieso unfassbar zugenommen. Aber gerade bei diesem Lauf konnte ich das nicht verstehen. Die Atmosphäre muss doch so sicher nur halb so schön und intensiv gewesen sein.
Vor allem die kleinen Straßenzüge hatten es mir angetan. Dort wurde es auch etwas milder und die Sonne hatte über den flachen Häusern eine Chance uns etwas zu wärmen. Die Frische des Morgens ließ mich lange nicht los. Als es von dort aus wieder Richtung Süden ging und wir der Skyline von Downtown entgegen liefen hatten wir knapp zwanzig Kilometer in den Beinen. Dieser Anblick! Werde ich sicher immer wieder großartig finden. Dort wurden die Zuschauerreihen noch dichter. Sie konnten sich auf den breiten Gehwegen kaum bewegen. Dicht an dicht quetschten sie sich an den abgesperrten Straßenrand. Fast aussichtslos seine Familie in dem Meer an Gesichtern auszumachen. Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, hier und da langsamer zu werden und selbst einige Fotos mit den eisigen und eigenwilligen Händen zu machen.
Die Halbmarathonmarke überschritt ich nach etwa 1 Stunde und 53 Minuten mitten im Herzen der Stadt. Was war das?! Irgendwie tat sich ein kleines Hungerloch im Bauch auf. Ich hatte meine dritte Essenzeit etwas verpasst. Also schnell das nächste Gel genommen und schon konnte es weitergehen. Die Verpflegungsstrategie mit “Essen” und Trinken ging großartig auf. So wird das in Zukunft auch wieder gemacht. Kaum, dass ich runtergeschluckt hatte, sah ich sie aus weiter Ferne. Eine riesige Videoleinwand. Wir kamen von einer höher gelegenen Brücke und liefen direkt auf sie zu. Dort türmten sich die Zuschauer. Es war, als würde man das Ziel erreichen. Cheer Zone nannten es die Organisatoren. Eigentlich war aber die ganze Strecke eine einzige Cheer Zone… Dennoch, ein tolles Gefühl, sich auf diesem Monsterbildschirm im Schatten der Hochhäuser laufen zu sehen und all die Zuschauer um sich herum zu hören. Läufer fielen sich oder auch Angehörigen in die Arme und freuten sich, dass sie schon so viel geschafft hatten. So gingen wir motiviert auf die zweite Hälfte. Auf die harte Hälfte.
Als der erste Läufer nach etwas mehr als 2 Stunden und 4 Minuten die Ziellinie überschritt, hatte ich mehr als 23km überwunden. Es ging raus aus Downtown Richtung Westen, bevor wir den Süden anvisierten. Durch Zufall erblicke ich nach all den Besuchen dieser Stadt das erste Mal das Schild der Route 66! Irgendwie habe ich das dort immer übersehen. Es folgte eine kleine Schleife um das United Center und vorbei an Michael Jordan. Dann noch mehr Brücken. Ständig Überführungen. Wir passierten Industriegebiete aber auch idyllische Ecken, die ich noch gar nicht kannte. Kleine Parkanlagen umsäumt von schmalen Straßenzügen, Altbauten aus Ziegelsteinen, Spielplätze, Schulen und Vorgärten.
Bei Kilometer 30 eine lange Passage mit all den Hilfsorganisatoren, die Läufer auf der Strecke hatten. Unglaublich! Das waren auch die Geschichten, die mich unterwegs berührt hatten. Wenn es hier und da zwickte, fing ich an, die Rückenschildchen zu lesen. Für wen oder was liefen die einzelnen Läufer? Jeder von uns hatte zusätzlich zu seiner Startnummer ein Blättchen für den Rücken erhalten. Dieses konnte man selbst beschriften. Hier sah ich keine Laufshirts mit Essens-Hinweisen. Bei meinem Glück die vergangenen Jahre hatte ich immer Läufer vor und um mich herum, die Shirts mit Bildern und Sprüchen zum Thema Essen trugen. Immer wieder gern irgendetwas mit Pfannkuchen, also Berliner. Stattdessen liefen hier die Läufer mit selbstgeschriebenen oder selbstgebastelten Zettelchen auf dem Rücken. Oder sie trugen eins der unzähligen Charity-Shirts. Bewegende Geschichten, die man so mitbekommt! Eine junge Frau lief für ihren kleinen Sohn, der dringend ein Organ braucht. Sie unterstützt die entsprechende Spender-Hilfe. Eine andere Läuferin hat das fünfte Jahr nach der Behandlung ihres Brustkrebses überlebt. Ich bewundere diese Menschen, die so viel Kraft und Motivation mit sich bringen und diese liebend gern mit anderen teilen. Ich sah auch immer wieder zahlreiche Helfer, die bedürftige Läufer umringten und ihnen halfen, die Marathondistanz zu überwinden. Es war nicht nur ein Helfer dabei, der jemanden an der Hand oder dem Arm hielt und führte, weil der Läufer nicht sehen konnte. Es waren drei, vier oder mehr Helfer, die freiwillig bei ihm waren. Wir ließen die Großstadt wieder hinter uns. Der Süden empfing uns mit strahlenden, bunten Blättern. Hin und wieder umdrehen und die Aussicht genießen, ist ein Muss.
Kurz vor Chinatown wurde es wieder sehr eng auf den Gehwegen. Mehrere Reihen nacheinander versuchten die Zuschauer uns Läufer anzufeuern. Jeder Teil hatte etwas ganz Besonderes an sich und die Unterhaltung war immer wieder interessant, anders, motivierend und aufheiternd. Erst bei Kilometer 34 wurde es etwas ruhiger. Was aber nicht heißt, dass keine Zuschauer mehr da waren. Statt auf beiden Seiten war meist nur eine gesäumt mit Unterstützern. Weit draußen, wo meist Industrie oder Schnellstraßen zu finden waren. Aber auch dort wurden wir bejubelt und gut umsorgt. Es gab so oft wie nie Getränkestationen mit Gatorade oder Wasser. Zum Glück war das klebrige Zeug direkt am Anfang der Verpflegungspunkte positioniert. Gerade wenn man meinte, dass man endgültig am Boden festkleben würde, kam das Wasser und die Laufsohlen spülten sich sauber. Am Anfang gab es schätzungsweise jede dritte Meile Getränke. Zum Ende hin verkürzten sich die Stände auf bis zu einer Meile. Perfekt. So hatte ich auch immer ausreichend Nachschub, wenn ich meine Gele nahm. Wer aber hofft, dass er regelmäßig etwas zu Beißen bekommt, wird schwer enttäuscht. Für mich zwar kein Thema mit meinem Picknickkörbchen, aber für andere Läufer vielleicht schon. Denn nur an zwei Punkten gab es Gele und Riegel. Keine Äpfel oder Bananen. Gut, wenn man wirklich das gesamte Rennbuch studiert hat. Obst und Wasser in Flaschen gab es hin und wieder nur von Zuschauern, die eigene Verpflegungstische aufgebaut hatten.
Latin-Klänge schickten uns auf die letzten Kilometer. Marathon ist so anstrengend! Diese ganze ‘Nur-Lauferei’ im Training hat mich echt fertig gemacht. Ok, das war keine Überraschung! Ich fragte mich oft, wo mein Neoprenanzug war und wo mein schwarzes Fuji auf mich wartete?!? Aber hier bei diesem Lauf? Ich hätte es nicht gedacht. Klar, es war kein Spaziergang, aber es war ein großartiger Lauf. Nie habe ich mich mehr unterhalten gefühlt. Jedes Wehwehchen war in Sekunden vergessen. Dort wo andere Burritos aßen, schoben wir unsere müden Körper über die letzten Meilen. Die Beschilderung verwirrte mich immer wieder, aber war eigentlich wirklich gut gemacht. Sowohl Kilometer wie auch Meilen waren ausgeschildert. Man musste sie eben nur immer entdecken unter den Menschenmassen. Ich hatte meine Uhr zwischenzeitlich vergessen. Nahm nur kurz wahr, dass ich einen Kilometer weiter war, als die KM-Schilder anzeigten. Das hieß zwar, dass ich auf keinen Fall die Zeit erzielen würde, die ich dachte, aber das war an diesem Tag auch Nebensache. Als ich schon wieder die Skyline im strahlenden Sonnenschein erblickte, wusste ich, es würde nicht mehr weit sein. Natürlich mussten sich die letzten Kilometer hinziehen. Aber was wäre das sonst auch für ein Marathon?!? Um uns Läufer aber auch da zum Lächeln zu bringen, haben die Organisatoren strategisch gut einen riesigen Fotopunkt aufgebaut. Eine kleines Gerüst mitten auf der Straße. Darauf mehrere Fotografen und Schilder mit Sprüchen. Mal eben Lächeln, als hätte man nicht schon mehr als 20 Meilen in den müden Knochen. Natürlich, ohne Frage, machten wir das alle! Wie sagte ich mal in einem Interview? Wenn nichts mehr geht, immer lächeln. Das hilft auch wirklich immer. Vielleicht sogar auch besser als jubelnden Zuschauer, wenn es hart auf hart kommt. So weit war es aber zum Glück bei mir nicht. Ich wusste nur eins. Noch wenige Kilometer und es ist schon vorbei. Fast noch pünktlich zum Mittagessen. So ein früher Start kann auch Vorteile haben.
Da es die Amerikaner nun ja eher mit Meilen statt mit Kilometern haben, gab es auch keinen letzten Kilometer. Bevor ich das aber verstand, war ich auf der sich ellenlang hinziehenden letzten Meile. Die einzig wirklich nennenswerte Erhebung des gesamten Laufs muss ausgerechnet wenige Meter vor dem Ziel kommen. Aber selbstredend, dass diese Brücke niemanden mehr aufhalten würde. Erst rechts, dann links, dann enden die Zuschauerreihen und fast verlassene Tribünen erwarten uns. Normale Zuschauer waren da scheinbar nicht zugelassen. Es tummelten sich nur noch wenige Fotografen drauf. Schade eigentlich, aber garantiert dem Sicherheitsbereich geschuldet. Für die meisten Läufer sicher eine Nebensache. Wir visierten den Zielbogen an. Ich bremse ab und mache noch ein, zwei Bilder, bevor ich endlich meine Uhr nach 3 Stunden 48 Minuten stoppte.
Abschließend erwartete uns Unglaubliches. Wie an einer Kette aufgefädelt stehen in der Mitte, rechts und links klatschende Helfer. Sie gratulieren uns und applaudieren. Unaufhörlich. Meter um Meter. Die Läufer werden so auf nette Art immer weiter von Punkt zu Punkt gelotst. Hinsetzen zwecklos, es sei denn man braucht Hilfe. Ein Helfer bietet mir sofort an, ein Bild zu machen. Gesagt, getan.
Etwas später gibt es Folien zum Umhängen und Wärmen. Weiter hinten den passenden Aufkleber, damit man die Folie nicht halten muss. Mein Herz schlug vor Freude bis zum Hals. Die Sonne brannte. Ich brauchte weder Folie noch Kleber. Einen Lauf so freudig zu bestreiten, ist eine Seltenheit. Oft genug geht es darum, wie man am besten die 42km und paar Meter übersteht und gerade so noch einen Schritt über die Ziellinie setzen kann. Früher oder später beginnt ein Kampf, den man im Training so nie erlebt hat. Man begibt sich in eine Zone, die man nie so trainiert hat. Nun bin ich kein Ultra-Läufer, aber sie fühlen sich vielleicht so, wie ich in Chicago. Es hätte immer so weiter gehen können. Wie lang weiß ich natürlich nicht. Aber den Tag ließ ich gehend mit 15 weiteren Kilometern ausklingen. Ich war fasziniert, überrascht, glücklich und so vieles mehr. So möchte ich das unbedingt wieder erleben. Natürlich möchte ich auch mal wieder eine neue Bestzeit aufstellen, aber genau diese Läufe sind so unfassbar wertvoll, dass ich sie in Zukunft nicht missen möchte.
Irgendwann dann endlich. Die Medaillen glitzerten vor sich hin. Ich bekam eine um den Hals gelegt. Wieder überall Gratulanten und nicht müde werdende klatschende Helfer. Der Weg nahm keine Ende. Wir mussten weiter und weiter. Erst Gatorade, dann Wasserstationen, später Bananen. Berge davon. Wieder ein Aufbau – dieser mit Plastiktüten. Jeder bekommt eine in die Hand gedrückt. Ein Verpflegungspaket, in das später noch Proteinshakes wandern und zum Abschluss noch Power Bar Riegel. Hier muss keiner Hungern!
Irgendwann habe ich diesen Empfangsbereich überwunden und gehe hinüber, wo mein Beutel mit Wechselsachen wartet. Verlässt man einen Bereich, kann man nicht mehr zurück gehen. Es gibt nur eine Richtung, die irgendwann im Familienbereich endet. Ich bekam meine Sachen ebenso schnell, wie ich sie am Morgen abgegeben hatte. Da war ich aber eine der wenigen. An den meisten Schlangen hieß es wirklich geduldig warten und bloß nicht erfrieren. An der Buckingham Fountain wehte ein kalter Wind, der vom Lake Michigan hinauf kam. In nassen Sachen kein optimaler Standort. Nach dem Umziehen kreuzte ich noch die Wege von Tosca Reno und Christy Turlington, die nun auch im Ziel waren. Dann hieß es endlich runter vom Gelände und den Rest des sonnigen Tages genießen. Wieder einmal spazieren gehen. Wieder einmal Ecken und Gegenden von Chicago ablaufen und vor allem eins machen: auf die Jagd nach erfrischenden, grünen Salaten gehen.
Und am Tag danach? Lief Chicago leicht humpelnd durch den Tag. Läufer erkannten sich an den T-Shirts, an Finisher Hoodies oder am langsamen Gang. Sie lächelten sich zu, beglückwünschten sich. Viele trugen ihre Medaille ganz stolz vor sich her und genossen ganz sicher wie ich das Gefühl, erstmalig oder wieder einmal etwas so Großartiges geschafft zu haben.
Mein Outfit der Wahl für den Chicago Marathon fiel auf mein Skins Shirt und passende Tights. Mein Liebling des Tages natürlich das Motto T-Shirt! Äußerst bequem ging es in den Nike Air Zoom Pegasus zu. Sonnenschutz war wie die vergangenen Tage dringend nötig. Mein Eiswuerfel Im Schuh Visor und die Rudy Project Brille waren eine super Wahl, um entspannt das Rennen zu bestreiten. Die TomTom Multisport hielt Zeit und Strecke fest.