Jetzt las ich Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“, der mich sehr gepackt hat, nach leichten Eingewöhnungs-Schwierigkeiten. Anfangs hat mich nämlich irritiert, dass die Autorin ihre 10jährige Heldin im Stil von Sonntagspredigten ihre Alltagsgespräche führen lässt. Nimmt man das jedoch einmal als zeitbedingtes Stilmittel hin, dann wird es durchaus interessant.
Menschenverachtendes Internat
Die kleine Jane wird von ihrer Zieh-Mutter gehasst und in ein menschenverachtendes Internat gesteckt, wo sie nur zufällig oder wegen ihrer robusten Natur dem buchstäblichen Tod entgeht, dem viele der Schülerinnen wegen Unterernährung und mangelnder Widerstandskraft erliegen.
Verliebt in den Dienstherren
Danach verdingt sie sich als Gouvernante bei einem Herrn von Rochester, dessen uneheliche, aber bei ihm lebende sechsjährige Tochter sie betreuen muss. Es entsteht eine machtvolle Liebe zwischen Jane und Rochester, sie können aber nicht heiraten, weil Rochester schon verheiratet ist – mit einer verrückt gewordenen Frau, die er in einem Kammerl seines Herrenhauses weggesperrt hat.
Moralische Druckmittel
Als Rochester hofft, Jane trotzdem zu seiner Geliebten machen zu können, ergreift diese die Flucht und gerät zufällig an Verwandte, mit denen sie sich zwar sehr gut versteht, wo ihr Cousin sie aber mit moralischen und religiösen Druckmitteln zwingen will, ihn zu heiraten und mit ihm als Missionarsgattin nach Indien zu gehen.
Wieder flieht Jane, zurück zu Rochester, über dessen Schicksal sie Klarheit haben will. Der ist inzwischen nicht mehr verheiratet, weil seine irre Frau das Haus in Brand gesteckt hat und dabei selbst umgekommen ist. Rochester hat beim vergeblichen Versuch, sie aus dem brennenden Haus zu retten, sein Augenlicht und eine Hand eingebüßt. Doch das hält Jane nicht ab, nun bei ihm zu bleiben. Happy End. Glückliche Ehe.
Was ist nun das Faszinierende an diesem Roman?
Die Handlung allein kann es ja nicht sein, dazu ist sie zu skurril – obwohl sie zum Teil auf autobiographischem Fundament stehen soll. Um das genauer zu prüfen, müsste ich ein besserer Brontë-Kenner sein.
Der romantische Stil kann es auch nicht sein, der ist ja eher abschreckend.
Janes Selbstbehauptungswille
Faszinierend ist aber die Persönlichkeit Janes, die förmlich platzt vor Selbstbehauptungswillen. Von ihrer hasserfüllten Ziehmutter lässt sie sich eines Tages nichts mehr gefallen und sagt ihr ins Gesicht, dass sie sie hasst. Das ist der Grund, warum sie in das Internat gesteckt wird, wo sie sich schnell nach oben arbeitet, trotz der Verleumdung von Mr. Brocklehurst, der der Ziehmutter versprochen hat, das Mädchen vor allen anderen zu demütigen. Und das auch wirklich tut.
Angesichts der an den Tag gekommenen Vorkommnisse in geistlich wie weltlich geführten Internaten in den letzten Jahrzehnten wird wohl die Schilderung des unmenschlichen Internatslebens in Mr. Brocklehursts Institut „Lowood“ gar nicht weit von der Realität entfernt sein.
Liebe wider Willen
Dann kommt die schwierige Liebesgeschichte mit Mr. Rochester, deren Entwicklung die Leserin bzw. der Leser mit Spannung folgt. Interessant daran finde ich, dass Jane sozusagen gegen ihren Willen ihrem Dienstherren verfällt. Sie sträubt sich mit allen Mitteln dagegen, und Rochester ist auch keineswegs ein zuvorkommender Mann, sondern benimmt sich seinerseits lange Zeit abstoßend. Als Jane ihm jedoch unerschrocken das Leben rettet, schlägt es bei ihm ein. Fast macht er ihr eine Liebeserklärung.
Rochester trägt die Last seiner bestehenden Ehe mit der geistesgestörten Südamerikanerin. Von der Existenz dieser Frau im Herrenhaus ahnt man nichts, sondern man verdächtigt wie Jane die Irrenwärterin, die Rochester angestellt hat, sie habe einen Mordanschlag auf Rochester vollführt.
Die Autorin erzeugt Spannung und nützt diese Episoden zu satirischer Darstellung, indem sie Rochester allerlei Spielchen treiben lässt: Er macht einer eleganten Dame den Hof, um Jane auf die Folter zu spannen; er verkleidet sich als Wahrsagerin, um in Janes Seele zu lesen; und er glänzt immer wieder durch unangekündigte Abwesenheit.
Kritik an Scheinheiligkeit
Ein wichtiger Aspekt des Romans ist die implizite Kritik an Scheinheiligkeit und Bigotterie. Besonders das Internatskapitel und die Diskussionen mit dem angehenden Missionar zeigen das. Im 19. Jahrhundert muss das skandalös geklungen haben.
Emanzipationsroman
Der Roman wird außerdem als ein frühes Manifest der Frauenemanzipation verstanden: Jane liebt Rochester zwar, ist aber nicht bereit, dafür ihre persönliche Integrität zu opfern. Deshalb will sie nicht seine Geliebte werden, sondern flieht. Da ihr Herz einem anderen gehört, will sie auch nicht die Gattin ihres Missionars-Cousins werden. Auch hier wieder besteht sie auf ihrer persönlichen Würde.
Zu Ehe kommt es erst, als sie ihrem Ehemann zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist, da Rochester schließlich behindert ist. Doch – und das ist bezeichnend – für Jane ist Rochesters Behinderung eine Äußerlichkeit, die ihr ermöglicht, für ihn da zu sein, wo er es braucht. Ihrer Liebe und ihrem Respekt vor dem Ehemann tut das keinen Abbruch. Es braucht die Behinderung Rochesters, um ihn vom hohen Ross, auf dem ein Mann des 19. Jahrhunderts automatisch saß, herunterzustoßen, damit er mit Jane eine auf Gleichberechtigung fußende Ehe eingehen kann.
Charlotte Brontë: Jane Eyre. Roman. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Nachwort von Elfi Bettinger. Manesse Bibliothek der Weltliteratur. Manesse Verlag, Zürich, 2001. 777 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Schlafendes Mädchen. 1978. Kreide auf braunem Papier.