Charlie Huston ist vor allem für zwei Werke bekannt: Seine -Reihe und die „Hank Thompson"-Trilogie. Interessanterweise entstanden beide Serien parallel. Der erste Band von „Hank Thompson", „Caught Stealing", erschien 2004; der erste Band von , „Already Dead" (auf Deutsch „Stadt aus Blut"), 2005. Tatsächlich entwickelte Huston seinen Vampyr Joe Pitt, weil er zuvor Hank Thompson zum Leben erweckte. Er wollte über eine Figur schreiben, die nicht zufällig mit Ärger konfrontiert wird wie Hank, sondern gezielt nach Ärger sucht, einen knallharten Typen. Das ist ihm mit Joe definitiv gelungen - sollten noch Zweifel daran bestanden haben, räumt der dritte Band „Half the Blood of Brooklyn" diese aus.
Manhattan ist eine kleine Insel. Zu klein, um alle Vampyre zu ernähren, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Die Clans wissen, dass Expansion notwendig ist: Mehr Territorium, mehr Leute, mehr Macht. Es werden bereits Gespräche mit Clans aus Brooklyn geführt. Vor einigen Monaten wäre Joe Pitt das noch egal gewesen. Jetzt ist er allerdings wieder Mitglied der Society. Sein Boss Terry versorgt ihn mit Geld und Blut - ein Privileg, das nicht alle Vampyre genießen. Viele sind auf andere Quellen angewiesen. Als Joe über die Leiche eines jüdischen Süßigkeitenverkäufers stolpert, der in seinem Hinterzimmer mit Blut handelte, ahnt er, dass etwas faul ist. Candy Man Solomon wurde brutal hingerichtet, sein Blutvorrat vergiftet. Er war nicht infiziert, also wieso sollte ihn jemand wie einen Vampyr ermorden? Während Joe über das Motiv grübelt, schickt ihn Terry nach Brooklyn, um dort einen Clanvertreter abzuholen. Es sollte ein schneller, unkomplizierter Auftrag werden. Aber jenseits der Brücke spielt man nach anderen Regeln und die einzig gültige Währung ist Blut ...
Es wäre sehr einfach, „Half the Blood of Brooklyn" auf die massiven Gewaltdarstellungen zu reduzieren. Wie bereits die beiden Vorgänger ist es ein Buch extremer Härte und Kompromisslosigkeit. Je nach Nervenkostüm ist dieser dritte Band wahrscheinlich noch einen Zacken heftiger, weil Charlie Huston darin wirklich Grenzen überschreitet. Meiner Meinung nach tut er das nicht leichtfertig oder aus pervers-sadistischer Freude heraus, sondern sehr bewusst und zielgerichtet, aber dadurch sind diese Szenen natürlich nicht verdaulicher. Wesen, die so schnell nichts umbringt, können eben sehr viel Schaden einstecken - das ist nicht schön anzusehen und ich kann nicht leugnen, dass sich die Reihe mittlerweile mühelos als Horrorliteratur qualifiziert. Der Trick besteht darin, während der Lektüre an diesen Exzessen vorbeizusehen. Es ist nicht leicht, all das Blut, all die Brutalität zu ignorieren, doch diese Fähigkeit zu selektiver Ignoranz ist entscheidend, um zu erkennen, was für eine faszinierende Geschichte Charlie Huston erzählt. „Half the Blood of Brooklyn" ist ein Roman voller elektrisierender Widersprüche und Gegensätze. Die politische Situation zwischen den Vampyrclans in Manhattan spitzt sich stetig weiter zu. Terry prophezeit, dass Krieg bevorsteht und ich denke, damit hat er Recht. Die Lage ist so aufgeladen, dass die Clans bereits beginnen, ihre Kräfte zu sammeln und eine vorteilhafte Position zu forcieren. Daher auch die Idee, nach Brooklyn zu expandieren. Ich fand die Erweiterung des Settings höchst interessant, weil mir nie in den Sinn kam, wie die Vampyrpopulation außerhalb Manhattans lebt und Huston die Gelegenheit nutzt, um zu demonstrieren, wie zivilisiert es auf der Insel im Verhältnis zugeht. Ja, trotz der kaum verhohlenen Spannungen zwischen den Clans, was jenseits der Brooklyn Bridge abgeht, ist noch mal ein ganz anderes Kaliber. Wenige der munteren Gesell_innen, die Joe dort trifft, haben Lust, sich den Regeln und Gesetzen der Clans aus Manhattan zu beugen. Er selbst will das eigentlich auch nicht, allerdings konnte er einerseits als Unabhängiger kaum überleben und andererseits fühlt er sich für Evie verantwortlich. Evie ist Joes Freundin. Ha, nach meinen Beschreibungen dachtet ihr, Joe sei nicht fähig, zu lieben? Falsch. Joe liebt Evie sehr, doch leider ist sie schwerkrank und liegt im Sterben. Er könnte ihren Tod verhindern. Er könnte sie infizieren. Der komplexe, mehrstufige Gewissenskonflikt, der sich aus dieser Möglichkeit für Joe ableitet und ihn bis nach Brooklyn verfolgt, war der Grund dafür, dass ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, an seinen emotionalen Mauern vorbeizukommen. Obwohl Huston seinen Erzählziel möglicherweise noch spröder und abweisender inszenierte, hatte ich den Eindruck, dass Joes Gefühle so roh und drängend sind, dass er sie nicht mehr vor mir verbergen konnte. Das erste Mal hatte ich den Eindruck, hinter seine harte Schale zu schauen - und das nur, weil „Half the Blood of Brooklyn" im Kern etwas gänzlich Unerwartetes ist: Es ist eine Liebesgeschichte.
Jeder Band der -Reihe ist unbequem. Weder Schreib- oder Erzählstil noch der Inhalt laden dazu ein, zu entspannen. Wer Joe begleitet, darf nicht auf eine kuschlig-warme Wohlfühllektüre hoffen, sondern muss darauf gefasst sein, mit Extremen konfrontiert zu werden. Im dritten Band „Half the Blood of Brooklyn" lotet Charlie Huston die Grenzen des Akzeptablen neu aus. Er geht noch einen Schritt weiter, tanzt am Abgrund entlang und bewahrt seine Geschichte allein durch die intensive Darstellung der Emotionen seines verschlossenen Protagonisten davor, zu tief in der Spirale der Gewalt zu versinken. Es imponiert mir sehr, dass ihm diese Balance gelingt und ich während der Lektüre nie das Gefühl hatte, dass er Brutalität um ihrer selbst willen einsetzt. Wären seine Bücher etwas zugänglicher, könnte ich sie höher bewerten. Doch ob zugänglich oder nicht, ich werde Joe bis zum Ende treu bleiben, weil mich Charlie Huston mit spannenden Gedanken wie dem folgenden belohnt: Angenommen, es gäbe ein Heilmittel für das Vyrus - würden die Clans eine Heilung überhaupt zulassen?