Charlie

Charlie

Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, war sie gerade auf der Suche nach einem neuen Leben. Sie sah, ich kann es nicht anders sagen, erbärmlich aus. Die Haare wirr, das Gesicht verweint, die Schminke wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Die Jeans hatten das Verfalldatum längst überschritten und ihr brauner Pullover war zerlöchert wie ein Emmentaler. Sie war barfuß.

Ich traf sie in der alten Fabrik, ganz hinten, dort wo Charlie sein „Büro“ hatte.

„Fahr zur Hölle“, begrüßte sie mich.

„Kennen wir uns?“, fragte ich zurück.

„Nein, und ich will dich auch nicht kennen lernen.“

„Dann steckst du bist zum Hals in Schwierigkeiten“, vermutete ich.

„Verpiss dich, du hast hier nichts zu suchen.“ In ihrer Rechten blitzte plötzlich ein Messer. Ich war amüsiert.

„Das funktioniert hier nicht. Im Traum kannst du mich damit nicht beeindrucken.“

Für einen Augenblick war ihr Blick fassungslos. Dann wurden ihre Augen schwarz wie die Nacht. Ich dachte unwillkürlich an ein Chamäleon.

„Wir sind hier nicht im Traum, dies ist verdammte Wirklichkeit“, fauchte sie.

Ich erschrak. Wenn sie Recht hatte, musste ich hier verschwinden. Doch wo war ich überhaupt? Und wie war ich hierher gekommen, wenn nicht im Traum. Doch halt! Die alte Fabrik war mir wohlbekannt und Charlies Büro auch. Beide existierten nur in meiner Traumwelt. Trotzdem trat ich einen Schritt zurück.

„Möchtest du ein Bonbon?“, fragte ich. Ein altbekannter Trick um Menschen abzulenken.

„Steck dir dein Bonbon dorthin wo die Sonne nie scheint.“ Der Trick hatte nicht funktioniert.

„Kann ich dir helfen“, versuchte ich es auf eine andere Tour. „Du willst sicher auch zu Charlie.“

Sie horchte auf. „Charlie? Ist er hier?“

„Ja, natürlich. Er hat sein Büro dort hinten.“ Ich zeigte auf eine Treppe in der linken Ecke.

„Zeig mir den Weg“, fauchte sie. Dabei war die Treppe nicht zu übersehen. Vielleicht war sie blind? Ich blickte in ihre nachtschwarzen Augen. Oder befand sie sich auf einer anderen Ebene? Eine ohne Fabrikhalle und ohne Treppe.

„Was willst du denn von Charlie?“, fragte ich.

„Ein neues Leben. Verdammt noch mal, ich brauche ein neues Leben, meines ist vertan.“

„Charlie ist ein Traumhändler. Er kann dir höchstens einen neuen Traum beschaffen. Leben musst du schon selbst.“

„Mach schon, zeig mir den Weg“, schrie sie mich an und fuchtelte mit dem Messer. Ich machte mich auf zur Treppe, aber nicht, ohne mich dauernd nach ihr umzudrehen. Wer möchte schon ein Messer im Rücken, auch wenn’s nur im Traum ist. Die Treppe hatte keine zwei Dutzend Stufen und trotzdem schien sie mir so lang wie ein Himmelleiter.

„Die führt ja in die Ewigkeit“, murmelte ich.

„Es gibt keine Ewigkeit, nirgendwo.“ Charlie stand vor mir und reichte mir die Hand.

„Das ist ja noch ein Kind“, sagte die Frau hinter mir. Natürlich hatte sie recht. Aber nur was das Äußere betraf. Charlie sah aus wie einer meiner alten Schulkameraden aus der achten Klasse. Es musste die Achte sein, denn eine Neunte hatte ich nie gemacht. Aber Charlie war uralt, trotz seinem jugendlichen Körper. Vielleicht war er sogar älter als alle Menschenträume.

„Guten Abend Maria. Wie kann ich dir helfen?“

Maria. So hieß also das aggressive Weibsbild. Dass Charlie ihren Namen kannte, verwunderte mich nicht. Er wusste alles, und ich war überzeugt, dass er auch den Grund ihres Besuchs kannte. Aber er wollte ihn wohl aus ihrem Mund hören.

„Ich brauche ein neues Leben. Mein altes ist futsch.“

„Was ich dir geben kann, ist ein neuer Traum.“

„Was nützt mir das, damit ist keines meiner Probleme gelöst.“

„Deine Probleme kannst du nicht mehr lösen, du musst sie hinter dir lassen. Doch wenn du deinem neuen Traum folgst, wirst du auf deinem Pfad bald auf eine Abzweigung treffen. Wähle die richtige Seite.“

„Wie soll ich wissen, welches die richtige Seite ist? Und überhaupt, wo ist denn dieser Pfad. Hier ist nichts als trostloser Nebel und Finsternis.“

Charlie lächelte und zeigte in die Richtung, in der sein „Büro“ lag. Dort, siehst du das Licht?“

Die Augen der Frau, die Maria hieß, begannen zu glänzen. Wie in Trance schritt sie den Korridor entlang und entfernte sich ohne Abschied von uns.

„Wird sie den richtigen Weg wählen“, fragte ich meinen ehemaligen Schulkameraden, der in Wirklichkeit schon lange verstorben war.

„Das kommt darauf an. Wenn sie auf ihre innere Stimme hört, wird sie richtig entscheiden, wenn nicht, stehen die Chancen 50 zu 50, und wenn sie auf die Falschen hört, wird sie mit Sicherheit in den Abgrund der Zeit stürzen.“

„Bis in alle Ewigkeit?“, fragte ich entsetzt.

Charlie lächelte milde. Es gibt keine Ewigkeit, nirgendwo.

Genießt die Zeit. Euer Traumperlentaucher



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