Charles Dickens – Oliver Twist

"Oliver Twist"

Charles Dickens – Oliver Twist

Autor: Charles Dickens

Format: Hardcover

Seitenzahl: 576 Seiten

Verlag: Gustav Kiepenheuer Verlag

Sprache: Deutsch

ISBN: 3423213418

Genre: Klassiker > Englisch & Drama

ausgelesen am: 14.01.2015

Bewertung: Charles Dickens – Oliver TwistCharles Dickens – Oliver TwistCharles Dickens – Oliver TwistCharles Dickens – Oliver Twist

„Oliver Twist" ist Charles Dickens' zweiter Roman, der 1838 erstmalig als Gesamtausgabe erschien. Bereits von 1837 bis 1839 wurde das Werk als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift „Bentley's Miscellany" veröffentlicht, weil sich nur wenige LeserInnen dieser Zeit eine vollständige Romanausgabe leisten konnten. Trotz des Erfolgs des Buches musste Dickens für seine ungeschönte, realitätsnahe Darstellung der Lebensumstände der Armen und der Kriminalität in London sehr viel Kritik einstecken. So viel, dass er sich 1841 genötigt sah, anlässlich der dritten Auflage von „Oliver Twist" ein Vorwort zu verfassen, indem er deutlich und unnachgiebig zu seinen Beschreibungen stand. Er schrieb, er habe kein Interesse daran, diejenigen zu unterhalten, die zu „feinfühlig" seien, um die Hässlichkeit der Realität zu ertragen. Am Beispiel des kleinen Oliver habe er zeigen wollen, „wie das Prinzip des Guten alle widrigen Umstände überdauert und schließlich triumphiert". Mit diesem Vorwort, das meiner Ausgabe von „Oliver Twist" angehängt ist, stieg Dickens in meiner Achtung ins Unermessliche. Ich bin zutiefst beeindruckt davon, dass er sich dem gesellschaftlichen Druck nicht beugte und „Oliver Twist" genauso ließ, wie es war, damit ich, über 170 Jahre später, einen detaillierten Eindruck von London während der Frühindustrialisierung erhalten konnte.

Im Armenhaus geboren, als Waise unter der strengen Knute der Gemeinde aufgewachsen, erfährt der kleine Oliver Twist früh, dass das Leben für die weniger Gesegneten viel Unrecht bereithält. Als er es nicht mehr aushält, läuft er davon - fort ins meilenweit entfernte London. In der großen Stadt wird Oliver mit Leid, Elend und Verderbtheit konfrontiert; er trifft auf das personifizierte Laster, dem die Worte Anstand und Rechtschaffenheit völlig fremd sind. Trotz dessen wünscht sich Oliver nichts sehnlicher, als dazuzugehören. Schon bald muss er allerdings einsehen, dass sich die Kriminalität stets selbst am nächsten ist und wenig Platz für die Hoffnungen und Träume eines kleinen Jungen bietet. Doch Oliver hat Glück im Unglück und erlebt Wohltätigkeit und Güte, als er es am wenigsten erwartet.

Niemals hätte ich den Wert dieses Romans erkannt, hätte ich nicht das Nachwort meiner Ausgabe von Rudolf Marx gelesen. Ich brauchte seine Ausführungen, um meine Aufmerksamkeit in die richtige Richtung zu lenken. Ich bin begeistert von Dickens' Humor, seiner Ironie und seinem Sarkasmus, doch während des Lesens war ich komplett von Olivers Figur eingenommen. Es beschäftigte mich ungemein, dass dieser kleine Junge so blass, passiv und leidenschaftslos ist. Oliver hat keinen Funken Feuer im Leib, er ist nicht durchtrieben, verwegen oder abenteuerlustig. Tatsächlich ist er wohl einer der langweiligsten Charaktere, die mir je begegnet sind; bar jeder Entwicklung bleibt er den ganzen Roman über ein tugendhafter kleiner Engel. Aus dieser Perspektive hätte ich das Wichtigste beinahe übersehen: Dickens' unglaublich mutige, tiefgreifende Gesellschaftskritik.
Zu Zeiten der Frühindustrialisierung entfaltete sich der Konflikt zwischen den untersten Gesellschaftsschichten und dem Gesetz mit voller Wucht; in„Oliver Twist" beschreibt Charles Dickens beherzt diese Spannungen und deren Konsequenzen. Er portraitiert Elend und Armut zwingend und eindringlich, wendet die Augen nicht ab von Hässlichkeit und Verderbtheit und stach genau dort hinein, wo es den Mittelstand am meisten schmerzte. Man kann „Oliver Twist" nicht lesen, ohne den geschichtlichen Kontext im Auge zu behalten, denn nur so wird deutlich, welche beabsichtigte Wirkung der Roman hatte. Dickens führte seinen LeserInnen unbarmherzig all das vor Augen, was sie im Alltag nicht sehen wollten: bittere Armut, Leid, Kriminalität, Prostitution, Gewalttätigkeit - aber auch den Anteil des Unterdrücker-Staates und der Mittelschicht an diesen Zuständen. Menschen wie seine Figur des Gemeindedieners Mr. Bumble, die kleingeistigen Vollstrecker grausamer, ungerechter Gesetze, waren es, die erheblich zur Not der Ärmsten der Armen beitrugen.
Trotz dessen konnte Dickens nicht aus seiner Haut. So detailliert und ehrlich seine Darstellung des Abschaums der Gesellschaft ist, so ungenau und verschleiernd ist hingegen sein Bild der Mittelklasse. Oliver trifft auf mehrere Vertreter dieser Schicht; sie sind durchweg mildtätige, herzensgute Wohltäter, über deren wahre Lebensumstände die LeserInnen nur sehr wenig erfahren. Das ist nicht realistisch, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Oliver völlig unbeeindruckt ist von den Umständen, in denen er aufwächst. Er scheint immun gegen jegliche Art von Laster und Sünde zu sein, was für die höchst konstruierte Geschichte seines Lebens jedoch unumgänglich ist, denn andernfalls wäre es dem Autor nicht möglich gewesen, den Gegensatz zu den „Bösen" so klar herauszuarbeiten. Diese kommen bei Dickens nicht gut weg; er bestraft sie für all ihre Verbrechen (wozu auch gehört, gegen Olivers Glück gearbeitet zu haben) unheimlich hart und brutal. Die einzige Ausnahme ist der Dieb Charley Bates, der letztendlich sein Leben umkrempelt und zu einem wertvollen Gesellschaftsmitglied wird. Ich fragte mich ernstlich, warum Dickens dieser einen Figur einen Ausweg und eine Zukunft gab und glaube, es ging ihm darum, zu zeigen, dass Läuterung durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Vielleicht glaubte Dickens daran, dass selbst der schlechteste Mensch sich noch ändern kann. Ich finde es schade, dass er Charley davon kommen ließ, meine liebste Figur jedoch ebenso gnadenlos bestrafte wie alle anderen auch: Nancy. Nancy war für mich die Schlüsselfigur des Romans, mit der ich am meisten mitfühlen konnte. Sie vereint all das, was mir in Oliver fehlte, der zwar der Protagonist der Geschichte ist, aber keinesfalls ihr Held. Nancy ist meines Erachtens nach die Heldin des Romans. Eine junge, verzweifelte, eindeutig verdorbene Prostituierte berührte mein Herz. Wer hätte das gedacht?

„Oliver Twist" entsprach absolut nicht meinen Erwartungen. Ich hatte mit weit mehr Abenteuer gerechnet und auch mit einer anderen Form von Humor. Die Figur des Oliver enttäuschte mich, doch glücklicherweise konnte Rudolf Marx mich im Nachwort auf das aufmerksam machen, was dieses Buch außergewöhnlich und beeindruckend macht.
Wenn ihr eines Tages auch einmal zu diesem Klassiker der Literatur greifen solltet, vergesst niemals, in welcher Zeit er entstanden ist. Akzeptiert, dass Oliver kein Held ist, sondern nur die Leinwand einer Geschichte, deren privates Schicksal bei weitem nicht so wichtig ist wie ihre gesellschaftlichen Implikationen. Charles Dickens war ein bewundernswerter, mutiger Autor, der es nicht nur verdient hat, in den Literatur-Bestenlisten der Welt aufzutauchen, sondern auch, gelesen zu werden.


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