Demut, Mitgefühl sowie die ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst sind unabdingbar für die Charakterbildung, doch in unserer Kultur werden sie nicht gefördert. Stattdessen wird uns beigebracht, „wie man sich selbst vermarktet und anpreist und die für den beruflichen Erfolg notwendigen Kompetenzen aneignet.“ Das führt dazu, dass wir keinen inneren Kompass entwickeln, der uns sagt, was für uns richtig und was falsch ist. Und so werden wir im Übermaß abhängig davon, was andere über uns denken.
Wir leben in egomanischen Zeiten. 1950 fragte das Meinungsforschungsinstitut Gallup Highschool-Zwölftklässler, ob sie sich für eine sehr wichtige Person hielten. 12 Prozent antworteten mit Ja. 2005 waren es 80 Prozent.
In uns hineinzuhören, nachzudenken, unseren Leidenschaften zu folgen und unseren Gefühlen zu vertrauen, scheint uns nicht nur sinnvoll, sondern natürlich. Sich zu fragen, was man vom Leben will, was wichtige Lebensziele sein sollen, ist uns selbstverständlich. Und könnte irriger nicht sein, denn das Leben lässt sich nicht wie ein Business-Plan organisieren.
Realistischer wäre, sich umgekehrt zu fragen: Was will das Leben von mir? Welche Handlungsweise verlangen meine Lebensumstände von mir? „Nach dieser Sichtweise sind wir nicht die Schöpfer unseres Lebens, vielmehr nimmt uns das Leben selbst in die Pflicht. Die wichtigen Antworten finden wir nicht in uns, sondern um uns herum.“
Der jüdische Psychiater Viktor E. Frankl wurde 1942 von den Nazis verhaftet und landete in verschiedenen Konzentrationslagern, wo er zum Verlegen von Bahngeleisen abkommandiert wurde. „Dies war nicht das Leben, das er für sich selbst geplant hatte. Dies war nicht seine Leidenschaft oder sein Traum. Wenn es nach ihm und seinen Wünschen gegangen wäre, hätte er dies nicht getan. Aber das war nun einmal seine Aufgabe, die ihm das Schicksal zugewiesen hatte. Und er begriff: Was für eine Art Mensch er werden würde, hing von der inneren Entscheidung ab, die er als Reaktion auf diese Umstände träfe.“
Frankl nahm sein Schicksal an. Da er die äußeren Zustände nicht kontrollieren konnte, bemühte er sich, nicht zum Opfer seiner Gefühle zu werden, seine seelische Verfassung zu disziplinieren. Und er fragte sich, was ihn seine Situation über das Leben lehren könne: „Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt“.
Der Philosoph Charles Taylor hat von einer eigentlichen „Kultur der Authentizität“ gesprochen. In den Worten von Brooks: „Diese Einstellung basiert auf der romantischen Vorstellung, dass jeder von uns im Kern seines Selbst eine Goldene Figur birgt … Nach dieser Anschauung kann man dem Selbst vertrauen und sollte ihm nicht misstrauen … Wir wissen, dass wir das Richtige tun, wenn wir uns innerlich gut fühlen.“
Hätten wir die Wahl zwischen Wohlbehagen und Bequemlichkeit (von den Ökonomen Eigennutz, von den Psychologen Zufriedenheit genannt) einerseits und Leiden andererseits, würden wir wohl kaum das Leiden wählen. So einleuchtend uns dies auch scheinen mag, es ist beim genauen Hinsehen verblüffend, denn durch Leiden entwickeln wir uns. „Wenn wir uns an die entscheidenden Ereignisse erinnern, die unsere Persönlichkeit formten, sind dies in der Regel keine ‚Glücksmomente‘. Am prägendsten scheinen vielmehr die leidvollen Erfahrungen zu sein. Die meisten Menschen greifen nach dem Glück, haben aber das Gefühl durch Leiden geformt zu sein.“
Der Mensch ist nicht nur ein widersprüchliches, sondern auch ein sehr sonderbares Wesen. „Er kann seinen eigenen Willen nicht in die Tat umsetzen, er kennt seine langfristigen Interessen, hat es aber auf kurzfristigen Lustgewinn abgesehen, und er gibt sich redlich Mühe, sein Leben zu verpfuschen“, wie bereits Augustinus erkannte.
Was also ist zu tun? Wir müssen lernen, ins Gleichgewicht zu kommen, indem „wir uns, zumindest teilweise, der vorherrschenden Kultur widersetzen“. Also nicht selbstsüchtig, sondern moralisch leben. „Moralisch gute Handlungen erfüllen uns mit einer Freude, die alle anderen Freuden kümmerlich und leicht entbehrlich erscheinen lässt.“