Die Rede Obamas, mit der er richtig in den Wahlkampf einstieg, enthielt eine neue Catchphrase: im Gegenzug zum "Yes we can" des Wahlkamps 2008 und dem Versprechen auf Change kam in seiner Rede insgesamt 10 Mal die Wendung "Change is..." vor, in der er versucht, die bisherigen Leistungen der Administration als erfülltes Versprechen zu verbuchen. Besonders die Krankenversicherungsreform, die gewissermaßen die Wasserscheide der Obama-Administration darstellt, soll durch diesen Spin für die eigenen Anhänger in ein positives Licht gerückt werden. Auch andere progressive Politikansätze werden mit "Change is..." als "in Arbeit" dargestellt, etwa den Umstieg auf grüne Energien und den Rückzug aus dem Irak. Für Obama ist dieser Schritt nicht nur logisch, sondern auch vergleichsweise risikolos. Solange er nicht weiß, gegen wen er 2012 antreten wird, darf er sich noch nicht allzu sehr festlegen. Wird es Mitt Romney, so wird er es ungleich schwerer haben, die Wechselwähler der politischen Mitte auf seine Seite zu ziehen. Die Unterstützung der progressiven Basis, die ihm bereits 2008 den Wahlsieg sicherte, ist dann umso wichtiger. Wird es ein Tea-Party-Kandidat, so wird Obama aller Wahrscheinlichkeit nach einen moderaten Kurs fahren und jede zu enge Bindung zum progressiven Flügel herunterspielen. Das Thema wird dann weniger der Change sein als vielmehr, warum er gar nicht so schlimm ist. Obama wird sich dann als vernünftige, harmlose Variante zu einem rechten Spinner zu inszenieren versuchen, um möglichst viele Wechselwähler zu gewinnen und gemäßigte Republikaner von den Wahlurnen fern zu halten.
Mitt Romney
Jenseits solcher taktischer Überlegungen aber basiert das gesamte "Obama enttäuscht"-Narrativ auf einer Fehlwahrnehmung. Es hängt mit der spezifischen Mentalität von Progressiven zusammen, die ich als "Triumph oder Verrat" beschrieben habe: aus irgendeinem Grund erwarten die Progressiven von ihren gewählten Anführern, dass sie ohne jeden Fehl die von ihnen gewünschte Agenda zu 100% umsetzen. Sie sind dann bitter enttäuscht, wenn es nicht klappt, und verteufeln ihre vorherigen Hoffnungsträger dann entweder als Versager oder gleich als Verräter. Jonathan Chait, ein Parteigänger der Demokraten, hat im New York Magazine einen Beitrag unter dem Titel "When did Liberals become so unreasonable?" (Wann wurden Liberale so unvernünftig?) geschrieben, in dem er dieselbe Argumentation wie ich aufführt, mit dem zusätzlichen Charme, dass er sie anhand von Empirie belegt. Chait erkennt nämlich zusätzlich noch ein zweites Muster: früher war es besser und reiner. Was bei uns die guten alten Zeiten der Sozialdemokratie unter Willy Brandt sind ist den amerikanischen Liberalen Bill Clinton, Jimmy Carter und Lyndon B. Johnson. Chait weißt jedoch nach, dass sie alle - bis zurück zu Truman und darüber hinaus - mit demselben Problem zu kämpfen hatten: ihre eigene Basis warf ihnen vor, zu sehr auf Kompromisse zu denken und die eigene Lehre zu verraten. Erst wenn die Progressiven ihren nächsten Hoffnungsträger mit Wonne zerfetzen können stellen sie ihre bisherigen Opfer plötzlich in eine Nische des liberalen Schreins. Dieses Verhalten trifft gerade auch Obama, obwohl es dafür keine Grundlage gibt. Wahrscheinlich wird er sogar einen Spitzenplatz in diesem Schrein einnehmen, wenn die Progressiven erst einmal ihr nächstes Opfer gefunden haben.Denn tatsächlich ist seine Bilanz deutlich besser, als dies den Anschein hat. Zwar konnte er diverse Wahlversprechen nicht umsetzen, allen voran solche Kernforderungen wie die Schließung von Guantanamo. Das liegt aber nicht daran, dass er es nicht versucht hätte. Und die Gesundheitsreform mag nicht dem entsprechen, was man sich auf Seiten progressiver Demokraten erhofft hatte. Aber es gibt jetzt überhaupt einmal eine! Dies ist eine Aufgabe, an der Bill Clinton nicht nur scheiterte, sondern geradezu eine 180-Grad-Kehrtwende vollzog. Obama dagegen hat es geschafft, das durchzubringen. Er hat auch den Abzug amerikanischer Truppen aus dem Irak eingeleitet. Und der "Krieg gegen den Terror" wurde eher eingedämmt als weiter eskaliert. Sicher, all das ist nur Stückwerk und verbesserungsbedürfig. Gerade außenpolitisch ist Obama eine Enttäuschung für uns Europäer, die wir uns irgendwie eine nettere USA erhofft hatten. Aber er ist deutlich besser als sein Ruf, und spätestens wenn er abgewählt wird oder seine zweite Amtszeit endet werden dies auch seine schärfsten Kritiker erkennen müssen, denen realistischere Erwartungen, wie sie Chait in seinem Artikel anmahnt, definitiv gut täten.