Chancen und Risiken des Steinbrück

Ich sag's mal so: Peer Steinbrücks Rolle in den Geschichtsbüchern steht schon fest. Er ist der, der den Abwärtstrend der SPD gestoppt und die Sozialdemokraten wieder an die 30%-Hürde gebracht hat, nach vier langen, schmerzhaften Jahren im Jammertal der 20%. Hat er das verdient? Nö, das hätte auch ein Sack Kartoffeln als Kanzlerkandidat der SPD fertig gebracht. Wird das irgendjemanden interessieren? Nö. Die SPD nicht, weil die braucht jede positive Story. Steinbrück nicht, weil dessen Ego eh keine Grenzen kennt. Die Medien nicht, weil es eine tolle Geschichte ist. Die Wähler nicht, weil Steinbrück eh nicht Kanzler wird. Wie also ist die Inszenierung des SPD-Parteitags, in dem die Genossen "wieder einmal Seit an Seit" schritten und Steinbrück aufs Podest hoben. Man hätte ein Transparent "mangels Alternativen" über ihn hängen können, denn Kommentatoren wie Michael Spreng haben ja Recht wenn sie ihm die besten Chancen attestieren. Dieses Fakt umschreibt das Drama der SPD in einem Satz. 
In seiner durchaus gelungenen Rede vor dem SPD-Parteitag warf Steinbrück Angela Merkel vor, sie würde ihre Politik ständig umetikettieren, eben so, wie es zur Situation passt. Damit hat er schon Recht, aber die SPD tut dasselbe. Ihr Wahlkampfthema werde "Soziale Gerechtigkeit" sein, lässt sie die Öffentlichkeit wissen, und Steinbrück hält eine entsprechende Rede und inszeniert sich als Sozialdemokrat aus altem Schrot und Korn, was zugegebenermaßen nicht ganz leicht ist, bedenkt man seinen Hintergrund.
Es ist etwas fragwürdig, ob diese Etikettierung gelingen kann. Gehen wir einmal vom für Steinbrück und seine SPD günstigsten Fall aus und unterstellen, dass sie das ernst meinen. Es hat sich also die Einsicht breitgemacht, dass soziale Ungleichgewichte in einer solchen Größenordnung existieren, dass es gerechtfertigt ist, sie ins Zentrum eines Bundestagswahlkampfs zu stellen, und dass die SPD diese beseitigen wird und will. Die grundsätzliche Bestandsaufnahme ist richtig. Wer diese Einschätzung teilt - und das ist, wenn man aktuellen Umfragen glauben darf, die Mehrheit der Deutschen -, dann ist klar, dass CDU, FDP und Grüne hier keinesfalls großartig Punkte abräumen werden. Thematisiert wird es bislang ausschließlich vom sozialdemokratischen Gottseibeiuns, der LINKEn. Es ist also aus strategischer SPD-Sicht sinnvoll zu versuchen, ihr das Wasser abzugraben. Nur, es existiert ein Problem mit der Glaubwürdigkeit. Die SPD hat als Regierungspartei mit der Agenda2010, zu der sie sich immer noch rückhaltlos bekennt, diese Situation wenn nicht geschaffen so doch nonchalant auf ihre Kappe genommen. In vier Jahren Großer Koalition hat sie sie dann als Erfüllungsgehilfe der CDU verteidigt. Man kann das alles richtig finden, und es gibt genügend Wähler, die das tun - rund 20%, etwa. Bislang aber ist der Zug der SPD, "Soziale Gerechtigkeit" ins Zentrum zu stellen ein rein wahlkampftaktischer, den zu glauben kaum jemand Anlass hat.
Die Chance für Steinbrück besteht darin, dass er nun ein Jahr Zeit hat, ein kohärentes Programm zu entwickeln, das den bislang reichlich leeren Begriff mit Leben füllt. Ein vorsichtiger Ansatz war im Rentenstreit gemacht worden. Tatsächlich gibt es diverse Felder, auf denen die SPD sich positionieren könnte, ohne ihre prinzipielle Stellung zur Agenda2010 aufzugeben. Der Nachteil ist, dass diese kleineren programmatischen Forderungen (man könnte die Sanktionspraxis reformieren, die Ein-Euro-Jobs, etc...) alles technische Details sind, die kaum vom Hocker reißen. Für eine große Kampagne hat die Partei aber den Pferdefuß ihrer festgelegten "pragmatischen" Wirtschaftspolitik. Das prinzipielle Bekenntnis zur Austerität und das Verständnis der Schuldenbremse als reinem Kürzungsmechanismus, ihre Weigerung, auch die Einnahmenseite zu ändern, unterminiert zahlreiche mögliche Strategien. Nichts desto trotz - in einem Jahr kann viel passieren, sofern die Wahlkämpfer ihre Chance nutzen.
Damit kommen wir zur Wild Card der Strategie, Peer Steinbrück selbst. Er selbst sieht sich gern als Helmut Schmidt II. und würde auch gerne so gesehen werden. Pragmatisch, kompetent und über den Ideologien schwebend, das ist das Idealbild. Der bessere Kanzler in der falschen Partei, wie das Bonmot aus der Schmidt-Ära lautet, der Mann, der Vernunft und Herz zusammenbringt. Er kann das schaffen, mit entsprechender Disziplin in seinem öffentlichen Auftreten und der vollständigen Verwandlung seiner Person. Wird er es schaffen? Viele Kommentatoren verwiesen auf seine Eitelkeit und Dünnhäutigkeit. Eitelkeit ist kein Problem, die wird ja eher gefordert (und war bei Steinmeier fast schmerzhaft vermisst), denn wenn jemand Kanzler sein und das Land verändern will braucht er schon fast eine gewisse Art Hybris. Aber kann er sich weit genug zurücknehmen, so dass Auftreten und Botschaft übereinstimmen? Allzuoft versuchte Steinbrück in der Vergangenheit billig Punkte zu machen, indem er polemisch auf seine eigenen Leute eindrosch. Wohldosiert muss er das tun, das mag der Wähler, aber zu viel und es wirkt wieder falsch. Ein Eiertanz, für den man gemacht sein muss. Ob Steinbrück der Typ dafür ist wird sich zeigen, wie gesagt. Eines jedenfalls ist sicher: das Aufeinandertreffen mit Merkel wird nicht so aussehen wie 2009.
Ich sagte eingangs, dass die SPD sogar mit einem Kartoffelsack besser als 2009 abschneiden würde. Der Grund dafür ist einfach: Die vier Jahre Schwarz-Gelb haben genügend Wähler ins Lager der taktischen SPD-Wähler getrieben. Der gleiche Effekt, der 2009 der FDP Stimmen zutrieb, wird sich nun für die SPD als segensreich erweisen. Zudem ist der Frust über die Große Koalition inzwischen schon vier Jahre alt. Viele, die 2009 aus Ärger die SPD nicht gewählt haben (und sie verlor die meisten Stimmen an Nicht-Wähler!) dürften eine Neuauflage von Schwarz-Gelb verhindern wollen und zähneknirschend ihr Kreuz bei der SPD machen. Dieser Trend wird auch nicht mehr vor der Wahl brechen und die SPD zumindest nahe an 30% bringen.
Selbstverständlich ist das nicht genug, um die offiziell angestrebte rot-grüne Koalition eingehen zu können. Dieses dafür nötige Mehr hängt von drei Faktoren ab. Erstens, wird die SPD mit Steinbrück genügend Stimmen bekommen, um wie 2005 in der Liga der CDU spielen zu können? Zweitens, werden die Grünen stark genug werden, um mindestens so viel Stärke wie die FDP 2009 zur Koalition beitragen zu können? Und drittens, wird die FDP schwach genug bleiben oder sogar aus dem Bundestag fliegen? Alle drei Faktoren müssen stimmen, wenn die SPD den Kanzler stellen will. Dies ist sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. 


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