Vom Stadion ins Wohnzimmer: Im Rahmen von über 230 Shows im Walter Kerr Theatre am New Yorker Broadway hat Bruce Springsteen ein sehr persönliches, sehr intimes Live-Album aufgenommen, das den an guten Live-Alben nicht gerade kleinen Kanon um ein weiteres, wichtiges Werk bereichert.
Statt vor Zehntausenden Menschen spielt der Boss vor wenigen Hundert Zuschauern, die das Glück hatten, eine Karte zu ergattern; ohne E-Street-Band, ohne große Anlage, lediglich mit Gitarre, Klavier, gelegentlich Harmonika.
Komplett weg ist seine Band allerdings nicht: Teilweise wird Springsteen von seiner Frau Patti Scialfa begleitet. Zwischen den Songs gibt es ausführliche Erzählungen über deren Entstehungsgeschichte, Autobiografisches, Anekdoten aus einem an guten Geschichten reichen Leben. Und das in jeder Gefühlslage: Springsteen unterhält, ist wütend, lacht, rührt zu Tränen. Es ist mal persönlich, mal politisch, immer aber schonungslos roh, echt und nah; der ansonsten unberührbar wirkende Rockstar ist plötzlich ungewohnt verletzlich.
Die Songs selbst drohen bei der Mischung aus Spoken-Word-Performance, Lehrstunde in US-Geschichte und Rückblick auf das eigene Leben, der gelegentlich wirkt, als würde Springsteen ihn nicht Zuhörern, sondern sich selbst vortragen, fast unterzugehen. Dabei hält die Auswahl mit "My Father's House" und "The Wish" tatsächlich zwei selten gespielte Titel parat. Die eigenwillige Interpretation von "Born in the USA" präsentiert den Titel endlich in der Art und Weise, wie er es schon lange verdient hat - nicht als Lobgesang auf Amerika, für den er fälschlicherweise immer wieder gehalten wird, sondern dessen genaues Gegenteil.
Zweieinhalb Stunden dauert die Reise durch Springsteens Leben, langweilig ist sie keine Minute. Zu sehr fesselt die Stimme des Mannes, besonders in den Momenten, in denen sie brüchig wird, weil eben nicht alles so unterhält wie die Dekonstruktion des eigenen Mythos, die Springsteen gleich zu Beginn des Abends liefert: Er habe noch nie fünf Tage lang in seinem Leben gearbeitet - bis jetzt. "And I don't like it!", zerlegt der Sänger mal eben die Mär vom All-American-Working-Class-Boy, die man so gerne auf ihn projiziert.
Abgekauft hätte man ihm den natürlich dennoch - denn wenn man die gesamte Zeit über etwas heraushört, dann das: Dieser Mensch ist mit großer Liebe am Werk. Er braucht das, was er tut, nicht - er kann schlicht nicht ohne. Und das ist dann tatsächlich auch keine PR-Masche, sondern der wirkliche, der echte Mensch hinter dem "Boss".
Wer statt CDs oder Schallplatten wechseln lieber den gesamten Abend in einem Stück genießt: Netflix zeigt "Springsteen on Broadway" ab dem 16. Dezember. In die heimische Plattensammlung gehört die Aufnahme dennoch, ohne Wenn und Aber.
Albuminfos Bruce Springsteen - Springsteen On Broadway
Künstler: Bruce Springsteen
Albumname: Springsteen On Broadway
VÖ: 14.12.2018
Label: Columbia
brucespringsteen.net
Fotos: Rob DeMartin und Promo