Wir schauen über 300 Minuten dem Schakal über die Schulter, wie er sich auf seine Beute stürzt. 300 Minuten, in denen Ilich Ramírez Sánchez, genannt "Carlos", seinem Mythos entgegen flüchtet. 300 Minuten voller entfesselter Energie, die ganz allein Édgar Ramírez gehören. Für diese 300 Minuten und ein bisschen mehr spielt Édgar Ramírez nicht Carlos, für diese 300 Minuten und ein bisschen mehr darf er Carlos sein, ist er Carlos, lebt er Carlos. Carlos – Marxist, Schürzenjäger, Terrorist; Legende, Phänomen, Phantom, im Begriff mehrere Kugeln ins Magazin zu laden für den Kampf der Unterdrückten gegen den "imperialistischen Kapitalismus", ein Anwalt für die Dritte Welt. Olivier Assayas skizziert Carlos' Schicksalsstationen in unterschiedlich zeitliche Rhythmen, überspringt dort Tage, überbrückt da Jahre, lässt Carlos von Weltereignis zu Weltereignis eilen, sodass Carlos wie eine jämmerliche Schachfigur auf dem historischen Schachbrett wirkt, die sich mit jedem neuen Spielzug seiner veränderten Situation bewusst werden muss, während sie sukzessive von Angreifern bedrängt wird, das Feld zu räumen. Denn letztendlich war Carlos auch nur ein: Gehetzter, ein Improvisationstalent. Es entsteht ein historischer Rundumschlag, der seinen Anfang in den 60er Studentenprotesten markiert, und symbolisch in zwei Fällen endet, dem Mauerfall und in Carlos Fall. Erstaunlicherweise funktioniert Assayas' politischer Essay deswegen so nahtlos, weil er schauspielerisch ein Ausrufezeichen setzt. Trotz, dass Assayas kaum psychologisch erforscht, sondern mit seinen Figuren reagiert, der Film also gewissermaßen mehr über das System Carlos als über den Mensch Carlos auszusagen weiß, fesselt der Regisseur nichtsdestoweniger exorbitant, wenn er alle Zeit der Welt darauf verwendet, eine möglichst authentische Beobachtungsstudie anzufertigen, die weder ideologisiert noch heroisiert, die nur aus dem Blickwinkel seines Protagonisten das reflektiert, was er erlebt. Personen kommen und gehen dabei, Orte wechseln stakkatohaft schnell, zwischendurch werden Thesen geschrien, es wird geraucht bis zum Tod, geblasen bis zur Hodenerkrankung, Türen geöffnet, Räume geschlossen, wieder verlassen, nach dem kaum variablen Muster in nostalgischem Zeitkolorit, das die vergangenen Jahre zu vertrauten Jahren der Gegenwart ästhetisiert. Besonders bei zentralen Vorgängen – wie der OPEC-Entführung in Wien –, wofür Assayas nahezu akribisch nachdokumentiert, wird der Charakterwandel der handelnden Individuen spürbar nachvollziehbar, gerade im Wesen Carlos', der sich von nun als professioneller Auftragskiller neu definiert. Aus der Hilfe mehrdimensionaler Nebenfiguren bezieht "Carlos" seine Tiefe. Etwa mit der militanten Feministin Magdalena Koop (cool unter der Oberfläche: Nora von Waldstätten), Carlos' baldige Familie, die ihn lediglich in seinem Narzissmus bestätigt. Oder mit Hans-Joachim Klein alias "Angie" (Christoph Bach), überzeugter Mitläufer, aber kein Antisemit, weil die Auschwitz-Bilder für immer eingebrannt sind. "Carlos" thematisiert vordergründig also das Verlieren, nicht per se den verlorenen Kampf, sondern vielmehr den Verlust der ideologischen Identität, sobald die Mittel des Revolutionärs allmählich denjenigen des zu bekämpfenden Systems ähneln.
7/10