Heidelberg – hierhin flüchtet sich die Ich-Erzählerin, eine namenlos bleibende Frau Ende 30 aus Buenos Aires. Warum gerade Heidelberg ist man geneigt zu fragen. Die Aufklärung kommt prompt, denn hier in der Hauptstadt der Deutschen Romantik hat sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht, nachdem ihre Eltern vor der Militärdiktatur in Argentinien fliehen mussten. Die fast unwirklich scheinende Stadt ist ihr nicht ganz fremd, vieles erkennt sie wieder.
“Heidelberg ist ein Ort wie aus einem Märchen, wie aus einer anderen Wirklichkeit, eine der wenigen deutschen Städte, die im Zweiten Weltkrieg nicht völlig zerbombt wurden.”
Ziellos durch die Stadt
Die Frau irrt ziellos durch dieses Märchen, hat sich in einem Studentenwohnheim eingemietet, deren Leiterin, Frau Wittmann, schon ungeduldig auf ihre Studienbescheinigung und damit auf die Legitimation, hier wohnen zu dürfen, wartet. Hier lernt sie Shanice kennen, eine junge, schrille Japanerin, und Miguel Javier, ebenfalls Argentinier, jedoch aus dem ländlichen Tucumán, der ihr auf den Kopf zusagt, dass er sie für schwanger hält, nachdem sie sich auf einer gemeinsamen Wanderung übergeben musste. “Ich habe sechs Schwestern und fast zwanzig Nichten und Neffen. Bei jeder und jedem habe ich die Schwangerschaft mitbekommen, mit allem, was dazu gehört. Ich weiß, wie das abläuft”, versichert er ihr. Und als sie drei Tage später in Shanices Anwesenheit den Test macht, muss sie sich eingestehen, dass er tatsächlich recht hatte. Sie ist schwanger und weiß nicht mit Sicherheit, wer der Vater ist. Da war dieser One-Night-Stand in Buenos Aires, kurz nachdem sie sich von ihrem Freund Santiago getrennt hatte. Sie ist sich unsicher, was sie tun soll, schwebt geradezu im luftleeren Raum, da ereilt sie der nächste Schicksalsschlag. Shanice, mit sie begonnen hatte, sich anzufreunden, bereitet ihrem Leben selbst ein Ende und vermacht die Habseligkeiten, die sich auf ihrem Zimmer befinden, der Argentinierin.
Begleitet und verfolgt
Kurz nach dem Tod ihrer Tochter kommen Shanice Eltern in Heidelberg an, um Abschied zu nehmen und sich um das Begräbnis zu kümmern. Die Mutter, Frau Takahashi, möchte die Erzählerin besser kennen, heftet sich an ihre Fersen, taucht urplötzlich an allen möglichen Orten auf, so dass ihr Verhalten schon stalkerhafte Züge annimmt. Etwas stimmt mit dieser Frau nicht. Sie bleibt in Heidelberg, auch als ihr Mann zurück nach Japan geht.
Und dann ist da noch der Universitätsprofessor Mario, der damals als Student bei den Eltern der Erzählerin in Heidelberg gewohnt hat, und sein Freund Yusuf, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Es wird nicht unkomplizierter für sie.
Autobiographisch und magisch
Maliandis Roman weißt durchaus autobiographische Züge auf. Die 1976 in Venezuela geborene Argentinierin verbrachte tatsächlich einen Teil ihrer Kindheit in Heidelberg. Ihr Vater, der 2015 verstorbene Riccardo Maliandi, war Philosophie-Professor an mehreren argentinischen Universitäten und promovierte in Mainz. Ihre Mutter, ebenfalls Philosophin, ist Graciela Fernández. Carla Maliandi kehrte nach Argentinien zurück, als sie zwölf Jahre alt war. Darüber hinaus entwickelt sich der Roman irgendwann selbst zu einer Art Märchen, etwas Magisches, Schicksalhaftes scheint die Entwicklung zu bestimmen. Das hat in Argentinien durchaus Tradition. Man denke nur an die großen Autoren des magischen Realismus und der Neo-Phantastik wie Julio Cortázar oder Jorge Luis Borges. Die Stimmung ist melancholisch, man ist verleitet, das Buch einen Herbst-Roman zu nennen. Veränderung liegt in der Luft, der Ausgang ungewiss. Das betrifft alle Figuren, alle scheinen sie in einem Dazwischen festzuhängen, nicht wissend, wohin sie gehören. Ein Gefühl der Verunsicherung, der Fremdheit ist deutlich zu spüren. Mit seinen zutiefst im eigenen Leben verlorenen Protagonisten ist Maliandis Erstlingswerk ein geradezu existenzialistischer Roman. Man darf noch viel von ihre erwarten.
Das deutsche Zimmer
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
168 Seiten
Herbst 2019
24,- EUR