Der Text erschien leicht überarbeitet in “Neues Deutschland”, 09.01.2012
Die ungarische Strategie des neoliberalen Wirtschaftsnationalismus ist gescheitert
Am kommenden Mittwoch reisen Regierungsvertreter aus Ungarn zu informellen Gesprächen mit dem IWF nach Washington. Wegen der Finanzkrise benötigt das Land dringend ein erneutes Kreditprogramm.
Am vergangenen Freitag verschärfte abermals eine Bonitätsabwertung die ungarische Schuldenkrise. Diesmal ließ die Ratingagentur Fitch die Kreditwürdigkeit des rund zehn Millionen Einwohner zählenden EU-Staates auf Ramschniveau absenken, nachdem bereits S&P und Moodys ähnliche Abwertungen in den vergangenen Wochen vollzogen haben. Infolge des erneuten Abwertungsschocks blieb der schwindsüchtige ungarische Forint weiterhin unter Druck, der erst am 5. Januar einen neuen historischen Tiefstand von zeitweise 324 Forint gegenüber dem Euro verzeichnete. Die ungarische Währung hat somit binnen eines halben Jahres rund 20 Prozent ihres Werts gegenüber dem Euro verloren.
Diese anhaltende Talfahrt der Forint führt zu einer Zuspitzung der Schuldenkrise, da rund die Hälfte der Schulden Ungarns in ausländischen Währungen aufgenommen wurde. Ein Wertverlust des Forint lässt somit diese in Euro, Schweizer Franken oder US-Dollar zu begleichenden Schuldenberge automatisch anschwellen. Tatsächlich verzeichnete Ungarns Staatsschuld einen rasanten Anstieg von 76,8 Prozent des Bruttosozialprodukts (BIP) im zweiten Quartal 2011 auf 82,6 Prozent am Ende des dritten Vierteljahrs. Bei weiterhin voranschreitenden Währungsverfalls des Forint dürfte Ungarns Schuldenstand bald den Umfang der jährlichen Wirtschaftsleistung überschreiten. Angesichts dieser dramatischen Verschuldungsdynamik gelten inzwischen Ungarns Staatsanleihen auf den Anleihenmärkten als Ladenhüter, die Budapest nur noch zu horrenden Zinsen von nahezu zehn Prozent absetzen kann – selbst bei einjährigen Bonds! Etliche Auktionen von Staatspapieren mussten sogar wegen mangelnder Nachfrage abgesagt werden. Ab einer Zinslast von rund sieben Prozent sind Staaten langfristig nicht mehr in der Lage, ihren Schuldendienst aufrechtzuerhalten.
Aufgrund dieser dramatischen Situation sah sich der ungarische Regierungschef Viktor Orban bereits ende November genötigt, den verhassten IWF um ähnliche Krisenkredite zu ersuchen, mit denen das Land bereits 2008 vor der Staatspleite bewahrt werden musste. Für Orban kam dieser Canossagang zum IWF einer politischen Demütigung gleich, hat er doch den Währungsfonds nach seinem Wahlsieg in 2010 des Landes verwiesen, und seitdem einen neoliberal-nationalistischen Wirtschaftskurs verfolgt: sogenannte „Krisensteuern“ für die dominanten westeuropäischen Konzerne im Einzelhandel, der Telekommunikation und dem Finanzsektor wurden gemeinsam mit einer einheitlichen Einkommenssteuer (Flat-Tax) von 16 Prozent und der europaweit höchsten Mehrwertsteuer von 27 Prozent verabschiedet.
Diese auf den Aufbau einer nationalen Bourgeoisie zielende Wirtschaftsstrategie – in deren Rahmen zum Verdruss westeuropäischer Versicherungskonzerne auch das teilprivatisierte Rentensystem resozialisiert wurde – sollte zugleich den Schuldenabbau befördern und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Hunderttausende von neuen Arbeitsplätzen wollte die Regierun Orban so aus dem Boden stampfen. Die jüngsten Wirtschaftsdaten und Prognosen belegen das totale Scheitern dieser Strategie des neoliberalen Wirtschaftsnationalismus. Ungarns Arbeitslosenrate befand sich zwischen dem September und November 2011 bei 10,6 Prozent, während sie im Vorjahreszeitraum mit 10,7 Prozent nur unwesentlich höher lag. Für 2012 prognostiziert selbst die Regierung Orban ein Minimalwachstum von 0,5 Prozent, während viele Analysten das Land in diesem Jahr in einer leichten Rezession sehen – vorausgesetzt, die EU wie der IWF gewähren dem klammen Land erneut Krisenkredite.
Dies ist aber keinesfalls gewiss. Derzeit haben EU und IWF die diesbezüglichen Gespräche mit Budapest abgebrochen, da die Regierung Orban in einem neuen Gesetz die Unabhängigkeit der ungarischen Notenbank beschnitten hat. Ungarn werde zuerst die von dem Währungsfonds und der EU kritisierten Gesetze ändern müssen, wenn es Geld bekommen wolle, erklärte etwa ein Sprecher der Europäischen Kommission am vergangenen Donnerstag gegenüber dem Wall Street Journal. Neben der Revision der Notenbank-Gesetzgebung fordere der IWF bei einem jüngst durchgesickerten Report auch das baldige Auslaufen der Krisensteuern für westliche Konzerne und die üblichen drakonischen Sparauflagen, die zu akzeptieren sich bislang die Regierung Orban weigerte. Die sich zuspitzende Schuldenkrise kocht indessen auch die ungarischen Hardliner weich. Ein „schneller Deal“ mit dem IWF länge im besten Interesse Ungarns, und seine Regierung werde „jede mögliche Anstrengung“ unternehmen, um die Gespräche schnellstmöglich zum Abschluss zu bringen, erklärte Orban während einer Pressekonferenz am 6. Januar.