Camp 14

Von Nicsbloghaus @_nbh

„Wir sind stolz auf unser aus­ge­zeich­ne­tes System zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte in unse­rem Land.” So äußerte sich kürz­lich Nordkoreas Delegierter Kim Song vor dem Menschenrechtsausschuss der UNO-Vollversammlung. Die Existenz von Arbeitslagern wird von der Regierung Nordkoreas geleug­net. Marc Wiese bringt nun mit „Camp 14“ das Ausmaß der dor­ti­gen Menschenrechtsverletzungen in unser Bewusstsein.

  • Wer die Flucht ergreift, wird sofort erschos­sen.
  • Wer jeg­li­che Nahrungsmittel im Arbeitslager stiehlt oder ver­steckt, wird sofort erschos­sen.
  • Wer gegen­über dem Lehrer der Nationalen Sicherheitsbehörde Unzufriedenheit hegt oder tät­lich wird, wird sofort erschos­sen.
  • Wer sich gegen­über den Anordnungen des Lehrers der Nationalen Sicherheitsbehörde unauf­rich­tig oder unge­hor­sam ver­hält, wird sofort erschos­sen.
  • Wer einen Außenstehenden ver­steckt hält oder beschützt, wird sofort erschos­sen.
  • Man muss die Worte und das Verhalten ande­rer Personen auf­merk­sam ver­fol­gen und im Falle einer Merkwürdigkeit dies umge­hend dem zustän­di­gen Lehrer der Nationalen Sicherheitsbehörde mel­den.
  • Wer die ihm zuge­teil­ten Aufgaben ver­nach­läs­sigt oder nicht aus­führt, dem wird Unzufriedenheit gegen­über den Regeln vor­ge­wor­fen und wird sofort erschos­sen.
  • Die Durchführung der einem gege­be­nen Aufgaben ist der ein­zige Weg, seine Schuld zu berei­ni­gen und sich gegen­über den Gesetzen, die Gnade wal­ten lie­ßen, dank­bar zu zei­gen.
  • Wenn ohne Erlaubnis kör­per­li­cher Kontakt zwi­schen Männern und Frauen besteht, wer­den sie sofort erschos­sen.
  • Wer seine Schuld nicht ein­sieht und sich sei­ner Schuld nicht fügt oder gegen­über sei­ner Schuld eine eigene Meinung bil­det, wird sofort erschos­sen.
  • Man muss gewis­sen­haft an der Versammlung zur ideo­lo­gi­schen Auseinandersetzung sowie an der Sitzung zur Selbstkritik teil­neh­men und auf­rich­tig an sich und an ande­ren Kritik üben.
  • Bei Missachtung der Regeln und Vorschriften des Arbeitslagers wird man sofort erschos­sen.

Dies sind einige der Regeln, die für Shin Dong-hyuk ab dem 19. November 1983 ver­bind­lich waren, ab die­sem Tag war er ein poli­ti­scher Gefangener im poli­ti­schen Umerziehungslager Kaechon (Camp 14). Es ist der Tag, an dem er als Kind zweier Häftlinge gebo­ren wurde. Sein Vater hatte für gute Arbeitsleistung eine Frau zuge­teilt bekom­men, die von ihm schwan­ger wurde. Ab sei­nem sechs­ten Lebensjahr begann für ihn die Zwangsarbeit im Lager, die er nach sei­nen täg­li­chen Besuchen der Lagerschule ver­rich­ten musste. Mit 23 Jahren gelang Shin schließ­lich die Flucht aus Camp 14, nach ver­schie­de­nen Stationen lebt er heute in Südkorea.

2009 gelang es dem Regisseur Marc Wiese, sich mit Shin Dong-hyuk zu tref­fen und ihn für die Verfilmung sei­ner Lebensgeschichte zu gewin­nen. Diverse andere Angebote hatte Shin immer wie­der abge­lehnt. Eine vor­he­rige Besprechung mit Shin war nicht mög­lich, er sagte dem Regisseur er könne seine Geschichte nicht zwei­mal erzäh­len. Auch die Dreharbeiten gestal­te­ten sich schwie­rig, oft war es für Shin schon nach kur­zem Gespräch nicht mehr mög­lich wei­ter­zu­spre­chen. „Nachdem er uns erzählte, wie er im Gefängnis war mit vier­zehn und dann sie­ben Monate lang gefol­tert wurde, da war er danach zwei, drei Tage ver­schwun­den. Da war er ein­fach weg. Ich wusste nicht, wo er war“, berich­tete Marc Wiese in einem Interview über die Dreharbeiten.

Die Umstände, unter denen die 40.000 Gefangenen im 500 Quadratkilometer gro­ßen Camp 14 leben müs­sen, sind unvor­stell­bar: Pro Tag erhält ein erwach­se­ner Häftling 700 Gramm Mais, ein Kind 300, dazu ein wenig Chinakohl und Salz. Wenn aller­dings ein Wärter mit der Arbeitsleistung nicht zufrie­den ist, kann er diese Ration belie­big nach eige­nem Ermessen redu­zie­ren. Nach einer Schätzung von Amnesty International ster­ben ca. 40% der Insassen an Unterernährung. Shin beschreibt, dass er und seine Mutter, für die zum Schlafen nur der Betonboden ihrer unge­heiz­ten Baracke zur Verfügung stand, Ratten fin­gen und aßen, um zu über­le­ben. Erschießungen und Folter sind an der Tagesordnung; das gilt auch für Kinder. Die Zwangsarbeit müs­sen die Gefangenen in den im Lager befind­li­chen Textil-, Keramik- und Gummifabriken, in Kohlebergwerken oder land­wirt­schaft­li­chen Farmen ver­rich­ten. Die Sicherheitsstufe des Lagers wird von den Wärtern als „Total Control Zone“ bezeich­net. Wer in ein sol­ches Lager depor­tiert wird, kann nicht mehr auf seine Entlassung hof­fen.

„Vorrang gebührt der ideo­lo­gi­schen Umformung“*

Die „pro­gres­sive Ideologie spielt eine wich­tige Rolle in der gesell­schaft­li­chen Entwicklung“*, die Juche-ideologie beinhal­tet ein phi­lo­so­phi­sches Menschenbild nach wel­chem „der Mensch Herr über alles ist und alles ent­schei­det. […] das bedeu­tet, daß der Mensch Herr der Welt und sei­nes eige­nen Schicksals ist.“

Camp 14 liegt in einem Land, das immer noch unter einem sta­li­nis­ti­schen System steht, einem „Sozialismus unse­rer Prägung“, wie es dort genannt wird. Der Staatsgründer Kim Il Sung begrün­dete die Juche-Ideologie (sprich: Dschutsche-Ideologie), die davon aus­geht, dass Leninismus und Marxismus nicht mehr zeit­ge­mäß seien, die Juche-Ideologie durch ihre Weiterentwicklung aber ewig Geltung habe. Sie for­dert abso­lute Autarkie für Nordkorea, sowohl wirt­schaft­lich als auch ideo­lo­gisch und mili­tä­risch („Solange der Imperialismus exis­tiert, kann solch ein Land ohne eine ver­tei­di­gungs­fä­hige Streitmacht das eigene Land vor inne­ren und äuße­ren Feinden nicht schüt­zen und kein wahr­haft sou­ve­rä­ner und unab­hän­gi­ger Staat sein“1

Nordkoreas Armee hat stän­dig über eine Million Soldaten unter Waffen. In die­sem Zusammenhang muss sowohl erwähnt wer­den, dass die Gesamtbevölkerung Nordkoreas bei knapp über 24 Millionen liegt, aber auch, dass die Armee diverse land­wirt­schaft­li­che Aufgaben und Bau-Aufgaben über­nimmt. Die Ausrüstung der Armee gilt als ver­al­tet.

Während der Delegierte Nordkoreas vor dem Menschenrechtsausschuss der Uno-Vollversammlung den Zugang zu kos­ten­lo­ser Gesundheitsversorgung und Bildung in sei­nem Land lobt, ist die­ser abhän­gig davon, zu wel­cher Klasse man gezählt wird. Es gibt die drei Hauptklassen der „loya­len Personen“, „schwan­ken­den Personen“ und der „feind­li­che gesinn­ten Personen“ (Zu letz­te­rer Klasse gehörte Shin ab dem Augenblick sei­ner Geburt in Camp 14.). Dieses Klassensystem wurde in den 50er Jahren ein­ge­führt und in den 60er Jahren durch die Untergliederung in 51 Untergruppen wei­ter aus­ge­baut. Zu wel­cher Klasse man gehört, ent­schei­det über den Zugang zu Bildung und medi­zi­ni­scher Versorgung.

Diese Versorgung ist aller­dings selbst für die Klasse der loya­len Personen mehr als man­gel­haft. Lebenswichtige Operationen wie Blinddarmentfernungen muss­ten (bestä­tigt zumin­dest für die 90er Jahre) teil­weise ohne Narkose durch­ge­führt wer­den. Die Versorgung ist ins­be­son­dere auf dem Land sehr schlecht. Nordkorea hat eine sehr hohe Tuberkuloserate und auch Hepatitis (Hauptsächlich Typ A) ist stark ver­brei­tet. Impfungen feh­len im Prinzip voll­stän­dig. Das Auswärtige Amt stuft die medi­zi­ni­sche Versorgung als „lan­des­weit äußerst unzu­rei­chend“ ein: „Wegen des all­ge­mei­nen Mangels an Medikamenten, Verbandsstoffen, medi­zi­ni­schen Instrumenten und Hilfsmitteln wird eine gut aus­ge­stat­tete Reiseapotheke emp­foh­len. Krankenhäuser, selbst die spe­zi­ell für Ausländer vor­ge­se­he­nen, bie­ten kei­nen west­li­chen Standard. Ernstere Erkrankungen müs­sen des­halb in ande­ren Ländern behan­delt wer­den.“ Auch die Trinkwasseraufbereitung ist „man­gel­haft“.

Mit dem Tod Kim Il Sungs 1994 und dem Machtwechsel auf Kim Jong Il nach einer drei­jäh­ri­gen Trauerzeit hat das Militär an Einfluss gewon­nen, das Amt des Präsidenten ist frei­ge­blie­ben. Kim Il Sung gilt als „ewi­ger Präsident“, auch wenn Kim Jong Il spä­ter eben­falls als „Großer Führer“ bezeich­net wurde wie frü­her sein Vater. Nach sei­nem Tod am 17. Dezember 2011 wurde Kim Jong Il zum „Ewigen Generalsekretär“ und „Ewigen Vorsitzenden“ der Koreanischen Arbeiter Partei, sein Nachfolger wurde sein jüngs­ter Sohn Kim Jong Un.

„Ich hatte nicht gelernt, dass man bei der Hinrichtung sei­ner Mutter Tränen ver­gie­ßen muss.“

Der Mann, der Marc Wiese im Interview gegen­über­sitzt, erzählt ihm von einer Situation, die bei­nahe unmög­lich zu begrei­fen ist. Als Shin 14 Jahre alt ist, belauscht er ein Gespräch zwi­schen sei­nem Bruder und sei­ner Mutter. Sein Bruder ist von der Fabrikarbeit geflo­hen, was sein Todesurteil bedeu­tet, wor­auf die Mutter ihm rät einen Fluchtversuch zu unter­neh­men. Shin mel­det dies sei­nem Lehrer der Nationalen Sicherheitsbehörde, warum, ver­sucht er im Interview mit dem Regisseur zu erklä­ren. Zum einen dachte er, es sei das rich­tige Verhalten, hatte man ihm dies doch, seit er den­ken kann, ein­ge­trich­tert; die Welt außer­halb des Lagers kannte Shin nicht ein­mal aus Erzählungen. Zum ande­ren emp­fand er eine unbe­schreib­li­che Wut, da seine Mutter dem Bruder eine kleine Portion gekoch­ten Mais mit­gab und er von ihr noch nie etwas aus dem klei­nen Geheimvorrat erhal­ten hatte.

Am nächs­ten Tag wurde Shin aus der Lagerschule abge­holt und ins Lagergefängnis gebracht. Hier wurde er für sie­ben Monate ver­hört und gefol­tert. Dabei wurde er unter ande­rem an die Decke gehängt und unter sei­nem Rücken ein Feuer ent­facht. Von einem Mitgefangenen, der seine schwe­ren Brandverletzungen ver­sorgte (soweit es unter den Umständen mög­lich war), erlebte er hier zum ers­ten Mal in sei­nem Leben mensch­li­ches Mitgefühl. Dass Menschen ein­an­der hel­fen könn­ten – allein diese Idee war für den damals 14jährigen unvor­stell­bar gewe­sen.

Shin wird nach sie­ben Monaten ent­las­sen und direkt aus dem Gefängnis zur öffent­li­chen Hinrichtungsstelle gebracht. „Ich sah mit mei­nen eige­nen Augen, wie meine Mutter und mein Bruder öffent­lich hin­ge­rich­tet wur­den. Meine Mutter wurde gehängt und mein Bruder erschos­sen. Ich emp­fand dabei keine Gefühle, da mir mein gan­zes Leben lang das Konzept einer Familie völ­lig fremd war. Ich emp­fand nichts dabei, als sie getö­tet wur­den. Ich dachte, dass sie es wegen ihrer Vergehen ver­dient hät­ten.“

Alle Insassen von Camp 14 müs­sen den öffent­li­chen Hinrichtungen bei­woh­nen; nur wer wich­tigste Aufgaben zu erfül­len hat, muss nicht zuse­hen. Mit 4 Jahren musste Shin zum ers­ten Mal in Begleitung sei­ner Mutter einer Hinrichtung zuse­hen. Dies ist auch, wie er im Interview mit Marc Wiese erzählt, seine erste Kindheitserinnerung.

„Wir dach­ten, dass dies not­wen­dig sei, um unser Land zu schüt­zen.“

In sei­nem Film „Camp 14“ hat Marc Wiese nicht nur mit Shin Dong-hyuk über die Lager in Nordkorea gespro­chen, es ist ihm auch gelun­gen, zwei hoch­ran­gige Täter zum Gespräch zu bewe­gen.

Kwon Hyuk, ehe­ma­li­ger Kommandant der Wärter in Camp 22, einem ande­ren Lager, das sich im nord­öst­li­chen Teil des Landes befin­det, lebt heute mit sei­ner Familie in Seoul, Südkorea. Für jede Hinrichtung eines Häftlings erhielt er Sonderrationen, Fleisch und zwei Flaschen Alkohol. Es ist nicht ein­fach, den Berichten die­ses Mannes zuzu­hö­ren, den Marc Wiese als „ein­fach gestrickt“ bezeich­net. Ohne eine sicht­bare Spur von Anteilnahme berich­tet er, wie er Menschen ermor­det und zu Tode fol­terte, Frauen ver­ge­wal­tigte und sie umbrachte, wenn sie schwan­ger wur­den. Er erzählt auch, was man in Nordkorea tun muss, um in ein Lager depor­tiert zu wer­den. Nennt man zum Beispiel die Führer Kim Il Sung oder Kim Jong Il beim Namen und ver­zich­tet auf die Anrede „Dongji“ („Genosse“), dann ist das schon ein aus­rei­chen­der Grund. Oder wenn man aus dem Zeitungspapier der Rodong Sinmun, dem Sprachorgan der Partei der Arbeit Koreas Zigaretten dreht und dabei über­sieht, dass ein Bild von Kim Il Sung auf die­ser Seite der Zeitung ist. Einige Aufnahmen, die im Film gezeigt wer­den, wur­den von Kwon zur Verfügung gestellt, er hatte sie heim­lich im Lager gefilmt.

Oh Yangnam hat für den Geheimdienst der Polizei in Nordkorea hun­derte Menschen fest­ge­nom­men und in die Lager depor­tiert, an Verhören bzw. Folterungen teil­ge­nom­men. Während er von sei­nen eige­nen Taten erzählt, hat er immer wie­der sicht­bar Schwierigkeiten direkt in die Kamera zu sehen, er blickt stän­dig unru­hig hin und her, steht wie­der­holt vom Stuhl auf und stellt klar, dass er nach die­sem Interview nie­mals wie­der über diese Zeit spre­chen wird. Er berich­tet, wie ganze Familien depor­tiert wur­den, da in Nordkorea die Sippenhaft gilt. „Ich bereue zutiefst, dass ich so grau­sam gehan­delt habe“, sagt er gegen Ende des Interviews, „Ich bedaure in Nordkorea gebo­ren zu sein. Warum habe ich mich so ver­hal­ten? Wir sind doch alle glei­che Menschen.“ Vor einer Wiedervereinigung Koreas hat er große Angst, der Gedanke, einem sei­ner Opfer gegen­über­zu­ste­hen, ist für ihn uner­träg­lich.

Marc Wiese ist es wich­tig, die bei­den Täter nicht als Monster zu zei­gen, son­dern als von einem tota­li­tä­ren System geformte Menschen. Daher zeigt er Hyuk Kwon auch in sei­nem heu­ti­gen Privatleben als Familienvater. Oh Yangnam lehnte alles außer einen Interview an einem neu­tra­len Ort ab. Seine Rechtfertigungsversuche, er war von der Notwendigkeit die­ser Grausamkeiten zum Schutz des Vaterlandes über­zeugt klin­gen recht ver­traut; es ist deut­lich zu sehen, dass ihn diese selbst nicht über­zeu­gen kön­nen.

Flucht aus Camp 14

Nachdem Shin von dem neu inter­nier­ten Häftling Park Yong Chul erfuhr, dass es eine Welt außer­halb von Camp 14 gibt und das diese anders funk­tio­niert als das Leben im Lager, reift nach einer Weile der Gedanke an Flucht in ihm heran. Er möchte wenigs­tens ein­mal diese Welt außer­halb gese­hen haben oder sich sogar ein ein­zi­ges Mal sat­tes­sen.

Beim Sammeln von Feuerholz bie­tet sich Shin und Park dann in einem unbe­ob­ach­te­ten Moment die Gelegenheit zur Flucht durch den Elektrozaun. Park wird von einem Stromschlag getö­tet, seine Leiche zieht aber die unte­ren Stromkabel so weit her­un­ter, dass Shin über ihn aus dem Lager ent­kom­men kann. Ein Stromschlag ver­sengt seine Beine, aber er über­lebt. Nach einer mona­te­lan­gen Flucht durch Nordkorea und China gelangt er nach Seoul in Südkorea, wo er vor einer Auslieferung nach Nordkorea sicher ist. Als er direkt nach sei­ner Flucht zum ers­ten Mal „freie“ Menschen in Nordkorea erblickt, kam es ihm so vor, dass „diese Welt das Paradies sein müsste“. Die Menschen wur­den nicht über­wacht und tru­gen bunte Kleidung. Niemand musste die Polizeibeamten beim Vorbeigehen grü­ßen.

Heute ist die Flucht über China deut­lich schwie­ri­ger als damals, die Grenze wird viel stär­ker mili­tä­risch bewacht, auf Flüchtlinge wird sofort geschos­sen. Selbst wer bis nach China schafft, ist nicht in Sicherheit; China lie­fert Flüchtlinge nach Nordkorea aus, was einem Todesurteil gleich­kommt. Das nächste Land der Region, das Flüchtlinge nach Südkorea aus­rei­sen lässt, ist Thailand. Eine direkte Flucht von Nord- nach Südkorea ist für Zivilisten so gut wie unmög­lich, die bei­den Staaten sind am 38. Breitengrad durch eine 4 Kilometer breite soge­nannte Demilitarisierte Zone (DMZ) getrennt, an der sich seit 60 Jahren die bei­den Armeen der Staaten gegen­über­ste­hen.

Versorgungssituation im sozia­lis­ti­schen Arbeiterparadies

„Uns fehlt es an nichts in der Welt“ sin­gen die Nordkoreanischen Arbeitstrupps wäh­ren ihrer Arbeitseinsätze.

1994, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Tod des Staatsgründers Kim Il Sung, wurde Nordkorea von Naturkatastrophen wie Über­flu­tun­gen und Dürren heim­ge­sucht. Von der Bevölkerung Nordkoreas wur­den diese Ereignissen im Zusammenhang mit dem Tod ihres Führers gese­hen, „die Erde war so trau­rig [über Tod Kim Il Sungs] dass auf ihr nichts mehr wach­sen wollte“, so zumin­dest der Propaganda-Apparat. Es folgte der Zusammenbruch des staat­li­chen Lebensmittelverteilungssystems und dar­auf­hin eine Hungerkatastrophe, bei der rund 2 Millionen, d.h. bei­nahe 10 % der gesam­ten Bevölkerung inner­halb von einem halbe Jahrzehnt ums Leben kam.

Seit die­ser Hungerkatastrophe ist die Ernährungssituation (wie auch schon vor 1994) ange­spannt, wei­tere grö­ßere Katastrophen blie­ben seit­dem aller­dings aus. Jeder Bürger bekam um das Jahr 2000 eine kleine Anbaufläche für Lebensmittel zuge­wie­sen, auf dem Land nutzt die Bevölkerung sogar die Dächer ihrer Behausungen, um Agrarprodukte anzu­bauen, da die Erträge die­ser Fläche kaum zum Über­le­ben aus­rei­chen. Ebenfalls wur­den in die­sem Jahr von Kim Jong Il Lebensmittelmärkte zuge­las­sen. Zwar ent­zog er dem Volk die­ses Recht zwei Jahre spä­ter wie­der, die Märkte wer­den aller­dings wei­ter­hin abge­hal­ten. Nordkorea erhält des­wei­te­ren umfang­rei­che Lebensmittellieferungen aus dem Ausland um eine wei­tere Hungerkatastrophe zu ver­hin­dern. Doch trotz der Menge an inter­na­tio­na­len Hilfsgütern ist die Ernährungssituation unver­än­dert ange­spannt.

Hilfslieferungen aus ande­ren Ländern, ins­be­son­dere aus Südkorea, wer­den nicht immer bzw. nur teil­weise ange­nom­men. Während Baumaterialien und Reis immer gerne gese­hen wer­den, wird Säuglingsnahrung oder z.B. auch Instantnudeln abge­lehnt. Um dies zu ver­ste­hen, muss einem klar sein, dass das Militär vor­ran­gig ver­sorgt wird (und keine Verwendung für Säuglingsnahrung hat) und dass einige Hilfsgüter, die nicht zur eige­nen Ideologie pas­sen und daher unge­wollte Stimmen in der Bevölkerung wecken könn­ten. So nimmt Nordkorea z.B. keine Instant-Nudeln aus Südkorea an, diese schme­cken um so Vieles bes­ser als die eige­nen Produkte, dass man hier einen nach­hal­ti­gen Image-Schaden befürch­tet.

In den letz­ten Jahren ist man bemüht unter ein­ge­schränk­ter Orientierung und Kooperation mit z.B. China und Sürdkorea ver­ein­zelte Sonderwirtschaftszonen mit dem Ziel ein­zu­rich­ten durch den Ausbau der Wirtschaft die Lebensumstände der groß teils hun­gern­den Bevölkerung zu ver­bes­sern. Dabei muss man aller­dings davon aus­ge­hen, dass die Hauptmotivation der eigene Machterhalt ist.

Die bekann­teste die­ser Sonderwirtschaftszonen liegt in Kaesong an der Grenze zu Südkorea. Die Nordkoreaner, die in die­sen Programmen arbei­ten, erhal­ten eine bes­sere medi­zi­ni­sche Grundversorgung und Nahrungsmittel. Der Lohn die­ser Arbeiter liegt mit knapp 60 US-Dollar zwar für Nordkorea extrem hoch, aller­dings zieht die Regierung die­sen Lohn ein und zahlt den Arbeitern nur einen sehr klei­nen Anteil davon im offi­zi­el­len deut­lich über­be­wer­te­ten Tauschkurs in Won (Nordkoreanische Währung) aus. Offiziell wer­den Sozialabgaben abge­zo­gen. Übrig bleibt dem Arbeiter laut der Südkoreanischen Zeitung Chosun Ilbo ein Monatslohn von unge­fähr 2 US-Dollar.

Zum Zeitpunkt der Flucht Shins ist unge­fähr ein Drittel der Bewohner Nordkoreas unter­er­nährt bzw. man­gel­er­nährt, die medi­zi­ni­sche Versorgung ist, wie bereits beschrie­ben, in einem furcht­ba­ren Zustand. Bekommt man sel­tene Bilder aus dem Alltag der nord­ko­rea­ni­schen Bevölkerung zu Gesicht, ist man von der sicht­ba­ren Armut und unter­er­nähr­ten Bevölkerung oft geschockt, selbst die von der Regierung geneh­mig­ten Aufnahmen kön­nen nicht den Mythos vom Erfolg die­ses ideo­lo­gi­schen Staates auf­recht­er­hal­ten. Dass Shin diese Welt nach der Flucht aus dem Lager als para­die­sisch emp­fin­det, ist Aussage genug.

Shin Dong-hyuk

Shin lebt heute, sie­ben Jahre nach sei­ner Flucht, in Südkorea und arbei­tet gele­gent­lich mit der Menschenrechtsorganisation LiNK zusam­men, der es bis­her gelang, 122 Flüchtlinge zu ret­ten. Er sprach auch schon vor einer Kommission in Brüssel, einer Konferenz in Genf und hielt Vorträge in den USA. Er ist schwer trau­ma­ti­siert und nicht in der Lage, mensch­li­che Bindungen auf­zu­bauen. Für Marc Wise war es unfass­bar, als er plötz­lich im Interview sagte, er würde zurück ins Lager wol­len. „Ich hab die Über­set­ze­rin drei, vier mal gefragt, weil ich das nicht glau­ben konnte. Jemand der aus die­ser Hölle kommt sagt, ich will in diese Hölle zurück. Er will natür­lich nicht zurück und erle­ben dass er gefol­tert wird, aber er fin­det kei­nen Halt in sei­nem neuen Leben. Er ist total über­for­dert.“ Eine the­ra­peu­ti­sche Behandlung hat er abge­bro­chen und lehnt einen wei­te­ren Versuch ab.

Filmfazit

Die Interviews zwi­schen Marc Wiese und Shin Dong-hyuk hat­ten sich durch den Zustand, in dem sich Shin befin­det, sehr schwie­rig gestal­tet. Ein vor­he­ri­ger Probedurchlauf war, wie zu Beginn des Artikels bereits erwähnt, unmög­lich, Shin hatte klar geäu­ßert, er könne seine Lebensgeschichte nicht zwei­mal erzäh­len, das schaffe er nicht. Auch waren häu­fig län­gere Pausen wäh­rend der Gespräche nötig. Shin hatte bis dahin diverse Anfragen eine Dokumentation zu dre­hen abge­lehnt, nur weil die­ses Mal kei­ner­lei Druck auf ihn aus­ge­übt wurde stimmte er nach einer län­ge­ren Zeit plötz­lich zu seine Geschichte für Camp 14 zu erzäh­len.

Marc Wiese rüt­telt mit sei­nem Film Camp 14 wach. Während man in der Öffent­lich­keit im Zusammenhang mit Nordkorea häu­fig nur vom „kom­mu­nis­ti­schen Disney-Land“ oder dem „Dem Irren mit der Bombe“ spricht oder ähn­li­che Verharmlosungen zu hören bekommt, zeigt er die scho­ckie­rende Menschenrechtslage unge­schönt. Ohne rei­ße­risch zu wer­den, stellt er uns einen jun­gen Mann und seine Lebensgeschichte vor, die so weit von unse­rer Realität ent­fernt ist, dass man sie nur schwer glau­ben kann, ohne die­sem Menschen zuge­hört und ihm ins Gesicht gese­hen zu haben. Schlüsselszenen aus Shins Leben hat Marc Wiese durch Animationen zum Leben erwe­cken las­sen. Diese Animationen wur­den unter Mithilfe von Shin erstellt.

In Camp 14 stel­len die Täter Ihre Perspektive dar ohne im Vorfeld bereits durch Kommentare in ein Täterprofil gesteckt zu wer­den. Auf diese Art erhal­ten wir einen rela­tiv ein­ma­li­gen Einblick in den Alltag der Arbeitslager aus einer zusätz­li­chen und sehr sel­te­nen Perspektive.

Aktuell sind etwa 40.000 Menschen in Camp 14 inhaf­tiert, in ganz Nordkorea befin­den sich aktu­ell rund 200.000 Menschen in Arbeitslagern.

Nicolai A. Sprekels | Anonym (Der Redaktion bekannt.)

Camp 14. Total Control Zone. Ein Film von Marc Wiese. Seit 8. November im Kino.

[Erstveröffentlichung: hpd]

  1. Zitate aus: „Über die Dschutsche-Ideologie“, Kim Jong Il, 1987, Verlag für Fremdsprachige Literatur, Pjongjang (Nord-)Korea.