oder Und alles nur, weil sie uns lieben ...
Mitarbeiter der NSA beim
Grundkurs in Ostberlin
Marx bemerkt irgendwo, dass Hegel irgendwo bemerkt habe, alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen ereigneten sich sozusagen zweimal - und er fügte Hegels Ausspruch noch hinzu, dass dies einmal als Tragödie und das andere Mal als lumpige Farce geschehe. Marx hat allerdings vergessen hinzuzufügen, dass dies von technologischen Stand abhängig ist. Insofern wiederholt sich, was wir heute teils wütend, teils belustigt in der Ostalgie bestaunen. Freilich ist nicht der partizipatorische Leitgedanke des idealistischen Sozialismus Wiedergänger, nur die autoritäre Kontrolle des real existierenden Sozialismus ist zurück. Was heute in der Rückschau wie eine Farce wirkt, ereignet sich jetzt als Tragödie.
Was wäre für diesen in die Autorität hineingescheiterten Versuch des Sozialismus alles möglich gewesen! Briefe aufdampfen musste er. Brief für Brief für Brief. Mühselig musste man Querverweise anlegen, Hinz schreibt oft mit Kunz und Kunz kennt den Metzger von Schneider, der sich schon mal regimekritisch geäußert hatte. Das war alles so kompliziert und unübersichtlich. Heute wird gescannt, abgelegt, gebacklinkt und man weiß ganz schnell, wer über wieviele Ecken geistig miteinander verwandt ist. Wer jetzt noch glaubt, dass das NSA nur scannt und nicht gezielt die Briefe öffnet, die relevant sein könnten, der muss sich fragen lassen, zu welchem Zweck man sich diese Scannerei eigentlich antut.
Die Liebhaber des Westens betonen natürlich, dass dies alles nur geschieht, damit die Welt ein besserer Ort wird. Aus Liebe zum Menschen bespitzelt man Bürger der freien Welt - und die Bevölkerungen unfreier Landstriche natürlich auch. Es klingt oftmals so, als würde der Leiter des NSA ganz mielkianisch sagen: "But I love – I love all – all people..." Nur lachen diesmal keine Abgeordneten im Hintergrund. Es applaudieren stattdessen Atlantiker, die nochmal bekräftigen: Ja, es ist tatsächlich Liebe. Seht es doch endlich ein. Und alles nur, weil wir euch lieben ...
Irrgeleitete Liebe oder doch nur Kontrollsucht zwecks Systemerhalt und zur konsumistischen Einstufung der Bevölkerung?
Ich schrieb kürzlich über die Unmöglichkeit reinen Lebens und zitierte Monika Maron: "Muss der Handelnde schuldig werden, immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?" Gilt das auch für die "Achse des Guten", die unsere e-Mails liest, Briefe scannt und Telefonate abhört? Sind auch sie von der "Ohnmacht des Geistes" gegenüber der "Übermacht des Faktischen" erschlagen, wie Ernst Toller das mal ausdrückte? Schrieb ich damals nicht auch, dass man Mielke von seinem Standpunkt aus durchaus verstehen könnte, als er damals von der Liebe zu den Menschen sprach? Wie Toller erkenne ich im Widersprüchlichen doch eine klare Kante. Man kann aus Liebe widerlich Dinge tun, die man nicht mal im Hass für möglich hält. Wahrscheinlich ist dieser Liebesdienst nicht an "die Menschen" gerichtet, sondern orientiert sich am Ideal des westlichen homo oeconomicus - es ist weniger Karitas als Fetisch, ist nicht personengebunden, sondern richtet sich an ein Objekt. Die Überwachung ist ein Götzendienst, dem man den Namen "Erhalt der Freiheit" gegeben hat. Ein Widerspruch, den nur denen auffällt, die in die Liturgie nicht eingebunden sind. Für alle anderen ist es allerdings nicht paradox.
Eine "rückhaltlose Aufklärung" wird es nicht geben. Diese Bespitzelung ist kein Unfall innerhalb des "demokratischen Westens", sondern gehört zum neuen Selbstverständnis des Abendlandes. Im real existierenden Sozialismus war die Bespitzelung der Bürger auch nicht einfach nur ein Fehler, ein Missgriff des Systems, sondern dem System geschuldet, das autoritäre Produkt einer Mangelgesellschaft, die so glaubte, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten zu können. Es kommt den Systemwahrern nicht darauf an, die Datensammelei einzudämmen oder abzustellen. Sie sitzen es aus, überstellen es dem Vergessen, denn auch sie wissen, dass die Zeit alle Wunden heilt. Sich die naive Freiheit zu nehmen, an eine Rücknahme dieser Praxis zu glauben, grenzt an Illusion. Die Naivität ist eine der letzten Freiheiten, die man uns läßt.
Gab es nicht auch im Sozialismus Stimmen, die unkten, man würde das System nie bewältigen können? Auch die täuschten sich doch, oder nicht? Aber diese Kultur der Überwachungsstaaten auf Karteikartenbasis, mit Block und Bleistift, der sich auf Steno und eilige Notizen gründete, das war die Farce - die Tragödie spielt sich nun ab. Es ist eine Tragödie, weil wir heute in Hochfrequenz beobachtet werden. Es ist eine Tragödie, weil Galaxien von Datenmengen entstanden sind, von denen sozialistische Spitzel nur träumen konnten. Und es ist eine Tragödie, weil das Ausmaß der Bespitzelung so groß und verwirrend ist, so über Kreuz geht, dass man gar nicht weiß, wer vom wem Daten erhielt und wer welche Daten wo lagert. Die Bürger der DDR konnten zur Wendezeit die StaSi-Zentrale anlaufen und hatten dort einen konkreten Ort gegen den sich ihre Wut richtete. Wo soll der Bürger des modernen Überwachungsstaates hin? Nach Pullach zum BND oder einen Flug in die Staaten buchen, um dort die NSA zu belagern?
Der Unterschied zu damals ist, dass wir in der Tragödie leben. Wer in einer Farce lebt kann hoffen. In der Tragödie ist man unentrinnbar gefangen. Dort kann man über Vorgänge nicht lachen. In unserer Tragödie sind die Protagonisten nicht lächerliche Technokraten mit Hornbrillen, sondern smarte Typen, die so tun, als sei ihr Liebesdienst der größte Beitrag zur Verbesserung der Welt. In der DDR wusste man, es geht einfach nur um den Erhalt eines Staates, der vorgibt, es ginge ihm um den Erhalt einer Idee. Heute weiß man das nicht. Die Überwachung ist in dieser Tragödie ein sozialer Beitrag - in der Farce war es noch ein Affront, der keinerlei triftiges Argument vorweisen konnte.
Und weil wir in der Tragödie einer Tatsache leben, die schon mal als Farce da war, werden wir mit der Überwachung auf allen Kanälen leben müssen. Eine Tragödie endet traurig. Unsere Tragödie ist, dass wir einen technologischen Stand erreicht haben, der uns in der Tragödie festhält.