Nach mehr als drei Monaten Aufenthalt in England sollte ich mir überlegen, was ich mit meinem Freiberuflerdasein tue. Belasse ich meinen Hauptwohnsitz in Deutschland und zahle weiterhin fleißig meine Steuern und sonstigen Abgaben dort, oder wage ich den Schritt und begebe mich in die unbekannten Weiten des englischen Steuersystems? Hierzu muss man sagen, dass England sicher kein Steuerparadies ist, indem man als freiberufliche Lektorin und Übersetzerin reich werden kann, aber eines kann ich wirklich sagen, die Regeln scheinen mir klarer, die Strukturen eindeutiger. Aber beginnen wir von vorn. Was ist zu tun, will man seine kleine Firma nach England verlegen?
Erstmal eine Nummer ziehen
Zunächst benötigt man auf alle Fälle eine sogenannte National Insurance Number (NIN), ähnlich unserer deutschen Sozialversicherungsnummer. Jeder gebürtige Engländer erhält eine solche im zarten Alter von 16 Jahren automatisch zugeschickt, Einwanderer jedoch müssen sich darum selbst bemühen. Die National Insurance Number ist mangels eines Meldewesens sozusagen eine Art Identifizierungsmöglichkeit auf der Insel, die jedem Einwohner eine spezifische Nummer zuweist. Sie ist Teil des Sozialabgabensystems, aus dem sich Renten, Gesundheitsleistungen und Ähnliches speisen. Doch die NIN erhält man nicht einfach so, wie mir das Internet und die werte Mama meines Engländers eröffnen. “Du müsstest bei einer eigens dafür vorgesehenen Hotline anrufen und einen Termin beim Jobcenter ausmachen”, teilt sie mir besorgt mit. Das Jobcenter, genauer gesagt das Department for Work and Pensions ist nämlich für die Vergabe verantwortlich.
Glücklicherweise ist mein Englisch ausreichend genug, um einen behördlichen Anruf zu verkraften. Und die junge Dame am Telefon ist auch ausgesprochen verständig und zuckerfreundlich. Nachdem Sie kurz meine Daten abfragt und den Grund meiner Bewerbung wissen will, bucht sie mir einen Termin für den 25. März um 10.25 Uhr im Jobcenter Leeds. Na das geht mal schnell, denke ich mir und will noch wissen, was ich denn alles mitbringen müsste. Personalausweis, Wasserrechnung mit Anschrift und Namen drauf (zur Erinnerung: In England gibt es kein Meldewesen, hier schleppt man Haushaltsrechnungen mit sich herum) und die Referenznummer meiner Anfrage, die ich mir notiert haben sollte. Inzwischen trage auch ich meine Wasserrechnung wie einen Personalausweis täglich in meiner Handtasche mit mir herum. Langsam nutzt sich die Schrift darauf ab, die Ränder fransen aus und ich sollte sie vielleicht mal in einen netten Umschlag packen, aber das später. So, das wäre erledigt. Nun heißt es, dem Termin entgegensehen.
Zwei Tage vorher erhalte ich einen freundlichen Erinnerungsbrief, auf dem ich nochmal alles schwarz auf weiß bestätigt sehe. Wo genau und wann ich zu sein habe. Doch als ich die Rückseite erblicke, wird mir ganz schwindelig. Hier finde ich eine ewig lange Liste an erforderlichen Dokumenten, die man mich bittet, doch möglichst zum größten Teil als Identitätsnachweis mitzubringen. Personalausweis, Geburtsurkunde, Referenzen, Lebenslauf, Firmenrechnungen, Verträge und, und, und. Oh je, das sieht gar nicht gut aus, fürchte ich, im Wissen, dass ziemlich viel davon noch verstaut in Umzugskartons in Deutschland liegt. Hm. Nicht gut. Aber dann erinnere ich mich selbst daran, dass ich doch wohl EU-Bürger bin und somit frei entscheiden kann, wo ich lebe und arbeite. Doch zur Sicherheit packe ich alles zusammen, was ich so auftreiben kann und schleppe schließlich einen dicken Papierberg aus Rechnungen und dem letzten deutschen Steuerbescheid mit. Dann lese ich blöderweise noch eine Menge Berichte im Internet über abgelehnte Anträge, komplizierte Verfahren. Aber ich verliere meinen Mut diesmal nicht. Wird schon schiefgehen. Dann ist der Tag gekommen.
Auf den Straßen von Leeds
Gern hätte ich meinen Morgen ruhig gestaltet, habe jedoch meinen Wecker in der Nacht witzigerweise auf nächsten Sonntag gestellt. Doch ich bin zum Glück gerade noch rechtzeitig aufgewacht, stürme fluchend ins Bad und erledige das Nötigste, während mein Engländer bei dem Gezeter das Schlimmste fürchtet und dennoch so freundlich ist, mir zwischen Tür und Angel noch schnell einen Kaffee zu servieren. Dann schlüpfe ich in meinen regenfesten Ausgehdress und mache mich bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg nach Leeds. Der kostet mich insgesamt circa 40 Minuten Fahrt mit zwei Zügen, die trotz Rush Hour ziemlich leer sind. Leeds ist im Übrigen ein wahres Shoppingparadies und zudem wirklich sehenswert. An anderer Stelle werde ich mal darüber berichten. Nun aber auf zum Jobcenter. Ich greife noch einen Kaffee bei Starbucks im Bahnhof, ziehe meinen eigens ausgedruckten Google-Stadtplan nebst Routenbeschreibung aus der Tasche. Soweit scheint der Weg klar, doch bereits nach ein paar Metern verlässt mich mein Orientierungssinn völlig und ich versuche vergeblich das Navi auf meinem Handy zum Laufen zu bekommen. Aus Angst, es posaunt gleich wieder deutsche Kommandos heraus, stelle ich den Ton aus, doch es funktioniert eh nicht. Kein Signal. Hoffnungslos. Also folge ich zunächst meinem Instinkt und wähle eine Richtung, die mir recht plausibel scheint. Naja, es gibt in Leeds auch an jeder Ecke Infokarten für Touris, also finde ich meinen Weg.
Kurz bevor ich mein Ziel erreiche, ertönt unweit von mir eine E-Gitarre und gibt ziemlich coolen Sound von sich. Vor einem Musikladen entdecke ich eine bizarre Gestalt mit blonder Langhaarperücke, die wohl etwas zu viel mit Seife gewaschen wurde und ziemlich steif wirkt, lässige Lederjacke, dazu Skinny Jeans, rotes Holzfällerhemd, eben klassisch Rocking Daddy. Das Gesicht von einer überdimensionalen Sonnenbrille halb verdeckt, lässt sich schwer feststellen, ob hier Männlein oder Weiblein agiert, aber im Grunde ist das auch ziemlich wurscht. Ich vermute einen Marketingschachzug des Gitarrenladens. Der Typ läuft quer durch die Straßen und schrammelt was das Zeug hält auf seiner Klampfe herum. Was soll ich sagen, es zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Aber weiter Richtung Jobcenter. Das finde ich, als ich um die nächste Straßenecke biege. Aber ich finde auch eine lange, lange Menschentraube davor versammelt.
Erinnerungen an das Jobcenter Berlin-Lichtenberg
Das Szenario erinnert mich stark an mein altes trautes Jobcenter in Berlin Lichtenberg, als ich kurz nach dem Studium mal zeitweise in der Harz-IV-Falle saß. Das war eine schlimme Zeit, an die ich eigentlich nur ungern zurückdenke. Und nun das. Aber ich habe ja einen Termin, kann mich also vordrängeln, wie ich will. Ich habe es schwarz auf weiß. Kaum will ich mich artig in die Schlange einreihen, öffnet sich auch schon die Tür und ich ströme gemeinsam mit der Menge ins Gebäude. Im Jobcenter Lichtenberg öffneten sich die Pforten bereits um sieben oder acht Uhr morgens. Keine Zeit zum Ausschlafen also. Aber das hier ist eben nun mal England. Herrlich zuvorkommend.
Im Empfangssaal, der ganz ordentlich zurechtgemacht ist, stehen drei oder vier Beamte bereit, um die Menschen an die richtigen Stellen zu verweisen. Ich zeige einer von ihnen meinen Einladungswisch, doch ich bin 20 Minuten zu früh.”Sie müssten noch mal rausgehen”, versucht mich die Dame abzuwimmeln. “Kann ich nicht hier warten?”, frage ich höflich nach, doch erhalte nur ein: “Nein, das geht nicht. Wir haben keinen Wartesaal.” Das erscheint mir jetzt doch etwas zynisch, denn ein Blick durch den Raum zeigt mir jede Menge leerer Polsterstühle.Boah ich habe wirklich keine Lust, draußen vor der Tür sinnlos rumzulungern. Doch dann wirft sie mir einen kleinen Rettungsanker zu. “Oder möchten Sie unsere Computer nutzen zur Jobsuche?” Ha! “Aber ja, gern, ich würde gern nach einem Job suchen”, willige ich erleichtert ein. So ergattere ich also prompt einen bequemen Sitzplatz und kann dazu auch noch kostenlos im Internet surfen. Nach zwanzig Minuten fordert mich dieselbe Dame auf, den Platz zu verlassen, denn es ginge jetzt zum Interview, zu dem mich ein freundlicher pakistanischstämmiger Sicherheitsmann geleitet.
Das Interview
Es geht ein paar Stufen hinauf in die erste Etage und durch eine dicke Stahltür, die von einem weiteren Sicherheitsmann bewacht wird. Meine Güte, das scheint ja hier ein heißes Pflaster zu sein, denke ich. Kaum habe ich den Raum betreten, muss ich schmunzeln. Das sieht exakt genauso aus wie im Sachbearbeiterbereich (uups ich meine natürlich Fallmanagerbereich) vom Jobcenter Lichtenberg. Unglaublich. Na gut, dort sitzt man zwar im Wartebereich zumindest auf harten Metallstühlen und hier auf kuscheligen Sofas, aber sonst exakt dieselbe Aufteilung.Ich melde mich also mit meinem Zettelchen an der Rezeption und nehme auf einem der lauschigen Sitze Platz. Mit mir warten circa fünf weitere Leute auf ihr Interview, das heißt, es ist nicht wirklich rammelvoll, meine ich. Dann werde ich aufgerufen. Allerdings anders wie die anderen Wartenden nur beim Vornamen. Es ist witzig, denn die Engländer sind völlig ratlos, wenn es um die Aussprache meines Nachnamens geht. Das klingt immer irgendwo wie ein erkälteter Hund, der nicht mehr allzu lange macht. Ich vermute, es hängt damit zusammen und Stefanie scheint ein seltener Name zu sein, sodass anders als in Deutschland nicht gleich hundert Leute aufspringen.
Eine freundliche junge Dame geleitet mich zu ihrem Schreibtisch, entschuldigt sich tatsächlich für die Wartezeit (O-Ton Jobcenter Lichtenberg: “Hier muss jeder warten.”) und erklärt mir erst einmal das Prozedere. Sie wird gleich meine persönlichen Daten abfragen, den Grund meiner Einwanderung und warum ich überhaupt in England arbeiten will. Ich beantworte Ihre Fragen so präzise, wie ich kann. Sie überträgt alles sinngemäß in ein graues Formular, das sie mich abschließend zur Prüfung nochmal unter die Lupe nehmen lässt. Ich bin ziemlich beeindruckt von ihrer Verständigkeit, denn ich habe, wie gesagt im Jobcenter Lichtenberg schon anderes erlebt. Ich erinnere mich noch sehr genau an mein erstes Gespräch dort nach meinem Studium, das etwa so ablief:
“Was wollen Sie machen?”
“Ein Volontariat in einem Verlag.”
“Was für `n Ding?”
“Ein Volontariat.”
“Oh Gott, mein Computer zeigt mir das überhaupt nicht an. Das muss ich hier eintippen. Können Sie das vielleicht mal buchstabieren. Wie war das? Voltaire?”
Zum Glück hat es mit dem Volontariat dann doch noch geklappt. Aber zurück nach Leeds.
Ich bin mächtig erleichtert, dass alles so scheinbar glatt läuft und mein Englisch heute auch ganz passabel und hilfreich ist. Nachdem wir also den Fragebogen noch einmal durchgegangen sind und alle Angaben korrekt zu sein scheinen, bittet mich die Dame noch einmal um etwas Geduld, da sie das Formular nun zur Prüfung noch einer Kollegin überreichen wird, bevor es an die eigentliche Prüfungsbehörde geht. Etwa vier Wochen dauert es dann noch einmal bis mir meine National Insurance Number zugeht, wobei bei mir immer noch ein Fünkchen Unsicherheit besteht, da das ganze Ding doch nicht so reibungslos über die Bühne geht. Doch ich könnte auch ohne diese Nummer bereits arbeiten.Im Grunde genommen bin ich wirklich froh, als EU-Bürger so viele Rechte hier zu haben.Ich brauche keine Arbeitserlaubnis, kann meinen Wohnsitz frei wählen. Das erleichtert vieles und dennoch bleiben natürlich ein paar landestypische Hürden. Aber wir werden sehen. Ich werde berichten, ob es geklappt hat, wenn es soweit ist.
Der Wartesaal-Casanova
Nun nehme ich aber erst einmal im Wartesaal Platz und warte auf die Rückgabe meiner Dokumente. Mir gegenüber sitzt ein pakistanisches Ehepaar. Sie schaukelt ihr vielleicht Einjähriges auf dem Schoß, der kleine Bruder, der vielleicht vier sein mag, ist ein echter Charmeur. Ganz unbefangen betätschelt er den Herrn neben sich und versucht ihm klar zu machen, dass sein Geschwisterchen ein Baby ist und daher doch etwas Aufmerksamkeit verdient. Der schüchterne junge Mann lächelt dem Kleinen nickend zu und vertieft sich dann wieder in sein Smartphonedisplay. Als es für die Familie Zeit wird zu gehen, schreitet der kleine Mann Handküsse verteilend durch die Runde und verabschiedet sich von jedem Einzelnen mit einem verschmitzten Lächeln. Dann entdeckt er eine junge Engländerin, hübsch zurechtgemacht, mit blondem langen Haar, auf die er sofort anspringt. Wie ein geübter Frauenheld wirft er ihr schmachtende Blicke und blinzelnd einen Luftkuss nach dem anderen zu. Ich muss laut auflachen, angesichts der niedlichen Charmeoffensive. Die englische Lady aber bleibt eisern und zeigt dem kleinen Tunichtgut nur die kalte Schulter. Mit zerknirschtem Gesicht verlässt sie das Geschehen Richtung Ausgang. Nicht mal ein winziges Lächeln hat sie für den Kleinen übrig. Dann werde ich aufgerufen und erhalte meinen Personalausweis dankend zurück. Mit dem Wissen, dass die erste bürokratische Hürde genommen ist, verlasse ich das eigentümlich englische Jobcenter und trete zukunftsoptimistisch auf die sonnendurchflutete Straße.