Bürger zweiter Klasse

In einem ziemlich entlarvenden Kommentar in der FAZ schreibt Henrike Rossbach:
Große Koalitionen gelten als verlässlich. Da ist etwas dran. Was sie allerdings ebenfalls sind, ist verlässlich teuer. Das lässt sich am Exemplar der vergangenen Legislaturperiode eindrucksvoll besichtigen. Da bekam die CSU ihre Mütterrente, die seither 7,5 Milliarden Euro im Jahr kostet, die SPD den Mindestlohn und die Rente mit 63, die Bürger hingegen bloß die Rechnung.
Ich will an der Stelle gar nicht die Frage des Pro und Kontra all dieser Maßnahmen debattieren - denn da hat man wahrlich genug Stoff - sondern die zugrundeliegende Weltsicht, die sich hier offenbart. Man lese den Satz noch einmal: Mütterrente, Mindestlohn und Rente mit 63 werden eingeführt, aber "die Bürger" bekommen nur die Rechnung. Was hier implizit mitschwingt ist, dass die Rezipienten dieser Leistungen eben keine Bürger sind, sondern Abhängige, und daher nicht des vollen bürgerlichen Status' würdig.
Für den altbürgerlichen Snobismus der FAZ gehört es offensichtlich zum Bürger-Sein, dass man weder Mindestlohn empfängt noch Sorgen um die Absicherung im Alter machen muss. Es ist die alte Idee vom Wohlstand, der die Unabhängigleit erst gewährt, die einen zum verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft macht, also die Idee, dass nur wer etwas besitzt einen echten Anteil an den Entscheidungen des Staatswesens nehmen kann. Mit dieser Argumentation wurde früher das Zensuswahlrecht legitimiert, heute reicht es immerhin für herablassende Kommentare der FAZ.
Das Ärgerliche daran ist, dass genau die Schicht "der Bürger", die hier laut Rossmann "die Rechnung" zahlen müssen, selbst Empfänger zahlreicher staatlicher Transfers sind, die selbst nie als solche anerkennen. Für diese Schicht ist das eigene Einkommen, der eigene Status, grundsätzlich selbst verdient (und häufig genug ganz selbst ererbt), während eine Maßnahme wie der Mindestlohn, der es ermöglicht von einer Vollzeitstelle nicht zu verhungern, als eine frivole soziale Wohltat gilt, die "die Parteien" in einer anrüchigen Art austeilen um sich ein Klientel zu schaffen.
Selbstverständlich ist es keine soziale Wohltat des Staats für diejenigen Arbeitgeber, die bisher sittenwidrige Löhne von der Gesellschaft alimentieren ließen. Oder von einem System, das zwar jedem Gehalt über 450 Euro im Monat Steuern und Sozialabgaben abzieht, aber kein Problem damit hat, Erbschaften steuerfrei zu stellen.
Die blasierte Attitüde der FAZ und Konsorten in dieser Frage ist manchmal nur schwer erträglich. Auch ärmere Menschen sind Bürger, und ihre Anliegen und Wünsche sind im Rahmen des politischen Systems ebenso legitim wie die Kapitalertragssteuer, das praktische Nichtvorhandensein der Erbschaftssteuer und die Bekämpfung der Vermögenssteuer. Ob die Maßnahmen der Großen Koalition immer das Richtige dafür sind ist eine andere Frage. Aber die Idee, dass "die Bürger" die Rechnung für den Mindestlohn zahlen und nichts davon haben zeugt von einem elitären Snobismus aus der Blase der Frankfurter Wolkenkratzer.

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