Helmut Kohl hat es vermocht, sich mit einem Satz wochenlang als Fettnäpfchentreter in Szene zu setzen. Alle haben über ihn gelacht und dabei völlig den eigentlichen Inhalt seiner Aussagen übersehen. Dasselbe geschieht gerade in diesem Augenblick erneut wegen einer Aussage von Angela Merkel über das Internet und den NSA-Skandal.
Barack Obama war in Berlin. Es war ein kurzer Besuch von 24 Stunden, den die Medien in unserem Land mal wieder zu einem unglaublichen Hype aufgeblasen haben. Vor allem wegen seiner Rede am Brandenburger Tor, in der er sich unbedingt in die Reihe der Kennedys und Reagans einfügen sollte. Wie kann er das: Ein Präsident, dessen große Zeit vorbei, dessen große Chance verspielt ist. Denn selbst wenn er heute in altem rhetorischen Glanz erstrahlte, so würde ihm doch kein vernünftiger Mensch mehr glauben, er hat den Friedensnobelpreis schon und nichts dafür tun können. Er mag einem noch leid tun, mehr aber auch nicht.
Bleibt uns also Gelegenheit, uns mit einem anderen Thema des Besuchs zu befassen, der sogenannten NSA-Affäre. Die Bundeskanzlerin hatte angekündigt, Präsident Obama auf die Sorge und Ängste der Menschen in Deutschland aufmerksam zu machen, sich gewissermaßen darüber zu beschweren, dass Internetdaten deutscher Nutzer regelmäßig und gewohnheitsmäßig vom amerikanischen Geheimdienst ausgespäht werden. Bei der Pressekonferenz sagte sie zu diesem Thema:
“Das Internet ist für uns alle Neuland und es ermöglicht natürlich auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen. Deshalb schätzen wir die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika in den Fragen der Sicherheit. Ich habe aber auch deutlich gemacht, dass natürlich bei allen Notwendigkeiten von Informationsgewinnung das Thema der Verhältnismäßigkeit immer ein wichtiges Thema ist. Unsere freiheitlichen Grundordnungen leben davon, dass Menschen sich sicher fühlen können. Deshalb ist die Frage der Balance, die Frage der Verhältnismäßigkeit etwas, was wir weiter miteinander besprechen werden und wozu wir einen offenen Informationsaustausch zwischen unseren Mitarbeitern sowie auch zwischen den Mitarbeitern des Innenministeriums aus Deutschland und den entsprechenden amerikanischen Stellen vereinbart haben.”
Und an anderer Stelle:
“Wir müssen das richtige Verhältnis finden, die Balance, die Verhältnismäßigkeit, zwischen Sicherheit für unsere Menschen in unseren Ländern auf der einen Seite – dabei gibt es Dinge, hinsichtlich derer wir von den Vereinigten Staaten von Amerika wichtige Informationen bekommen haben – und auf der anderen Seite der Unbeschwertheit, mit der Menschen die neuen technischen Möglichkeiten nutzen möchten, die ja auch sehr viel Freiheit und sehr viel neue Möglichkeiten mit sich bringen. So, wie man gelernt hat, mit anderen technischen Erfindungen verhältnismäßig umzugehen, müssen wir jetzt lernen, damit verhältnismäßig umzugehen.”
Das Internet schäumte über vor Häme. Der Hashtag #Neuland war binnen kürzester Zeit das meist beackerte Thema auf Twitter in Deutschland. Alle regen sich zur Stunde darüber auf, dass für Angela Merkel das Internet noch Neuland sei, während andere es bereits seit knapp zwei Jahrzehnten nutzen. Wie niedlich, wie naiv, wie borniert sie doch ist, die Mutti. Und die Netzgemeinde lacht. Ganz genau wie ihr großes Vorbild Helmut Kohl ist sie in ein Fettnäpfchen getreten, und sie ist in aller Munde. Außerdem hat sie nebenbei dem US-Präsidenten ja sogar mal die Meinung gesagt. Aus welchem Zeitalter kommst du, Angela?
Ich aber sage, sie kommt aus dem Zeitalter eines gewieften Umgangs mit Politik, PR und Stammtischaktionismus. Hinter dem Fettnäpfchen, der naiven oder schlimmstenfalls bornierten Äußerung lauert die kühle und berechnende Politikerin, die Wahlkämpferin und die Machtfrau, der die Menschen- und Bürgerrechte bestenfalls eine lästige Fessel sind. Während die Netzgemeinde sich den nachgeschobenen Erklärungssatz des Regierungssprechers anhören muss, die Kanzlerin habe sagen wollen, dass das Internet rechtspolitisch Neuland sei, geht der eigentliche Kern ihrer Aussagen verloren und wird, bewusst gesteuert, überhört. Denn die Frau Bundeskanzlerin stimmte dem amerikanischen Präsidenten zu, der behauptete, die Spähprogramme des Geheimdienstes hätten Leben gerettet, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland. “Man denke nur an die Sauerlandgruppe”, fügte sie, außerhalb des geschriebenen Textes, aber im Fernsehen sehr wohl zu hören, hinzu. Damit rechtfertigte Angela Merkel den Eingriff in die Privatsphäre aller Bundesbürger eindeutig und vollständig, ganz egal, welches Wortgeklingel sie nebenbei noch ausstieß. Der Neulandsatz ist dabei nur eine Ablenkung, so wie es Papa Kohl auch immer machte, wenn er Schäbigkeiten unbemerkt durchsetzen wollte. Gut gelernt, Mädchen, du bist zur Mutti geworden.
Ich kann mich dem Kommentator Patrick Beuth nur anschließen. Auf Zeit Online schrieb er:
“In Merkels wenigen Worten spiegelt sich denn auch die ganze erbärmliche Netzpolitik der Bundesregierung. Eine Netzpolitik, die das Internet in erster Linie als Gefahrenquelle ansieht und wenn überhaupt, dann nur nachrangig als Chance. Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren, Bestandsdatenauskunft, Staatstrojaner, Leistungsschutzrecht und die ausbleibende Reform des Urheberrechts, der stockende Breitbandausbau, eine Stiftung Datenschutz ohne Datenschützer, die Blockade der EU-Datenschutzverordnung, die Weigerung, Netzneutralität gesetzlich festzuschreiben, die gescheiterte Selbstverpflichtung für soziale Netzwerke, sich an deutsches Datenschutzrecht zu halten und nun auch noch ein geplanter Ausbau der Internetüberwachung beim BND so sieht die netzpolitische Bilanz Merkels nach zwei Legislaturperioden aus.”
Diesem Geist entspricht auch der Satz des Regierungssprechers, das Internet sei Neuland im rechtspolitischen Sinne. Das liegt doch genau daran, dass man die Chancen, die das Medium für die Partizipation der Menschen an der Gesellschaft und der Politik bietet, zunächst nicht gesehen hat, und dann von politischer Seite Angst vor dieser Chance und vor dieser Partizipation bekam. Seither bringt man immer neue Stories in Umlauf, das Internet sei der perfekte Nährboden für Kinderpornographie und weltumspannenden Terrorismus, und in der Netzgemeinde greift die frustrierte Resignation um sich, die Diskussionen im Internet wie einen virtuellen Stammtisch erscheinen lässt. Vor 10 Jahren hätte es die Chance noch gegeben, eine geistig wache Generation über das Internet an den Entscheidungsprozessen in unserem Land zu beteiligen und damit eine Vorbildfunktion für die ganze Welt auszufüllen. Jetzt hingegen bestimmen im Internet frustrierte Radikale, desillusionierte Idealisten und Berufstroller das Bild, ganz abgesehen von denen, die eh nur da sind, um sich ihr neues Handy zu kaufen. Eine verpasste Chance, könnte man meinen, vielleicht ist es der Bundeskanzlerin aber gar nicht so unlieb. Sie hält an der Macht fest, ohne Inhalte zu präsentieren, das unterscheidet sie von ihrem Ziehvater Helmut Kohl. Egal wie man zu seinen Ansichten stand, aber er hatte noch Ideale. Angela Merkel hingegen will ja, dass das Internet ein überwachter Raum ist, denn übe dieses mehr und mehr im Alltag genutzte Medium kann man die Menschen auch in ihrem Offline-Leben immer besser ausspähen, überwachen und festnageln. Die Bundeskanzlerin hat sicher nichts gegen das amerikanische Spähprogramm. Vermutlich wird sie sich sogar am großen Bruder auf der anderen Seite des großen Teichs ein Beispiel nehmen, zumindest aber wird sie sich von ihm informieren lassen.
Und wir lachen.