Alles ist eins! Oder doch nicht?
In den letzten 30 Jahren hat sich ein Zugang entwickelt, bei dem manche gerne sagen: „Wir haben viele Pfade studiert und deren Essenz extrahiert. Nun bieten wir euch die Essenz aller Religionen und spirituellen Traditionen an.“ Doch was gewinnt man dadurch wirklich? Die Möglichkeiten, die eine Religion oder ein spiritueller Pfad bieten, gehen dadurch verloren. Schließlich bietet Spiritualität eine Sicht für das Unerklärliche im Leben, eine Handhabe, den Unwägbarkeiten des Lebens zu begegnen und ihnen Platz im eigenen Leben zu geben. Eine Wahlfreiheit in Religion oder spiritueller Tradition sollte dennoch keine Beliebigkeit fördern, weil man dadurch dem Beantworten der entscheidenden Lebensfragen sehr leicht entkommen kann.
Regression
Häufig taucht die Frage auf, ob man nicht zwei (oder mehr) Religionen und/oder spirituelle Pfade miteinander verbinden könnte oder gar sich einfach das Beste aus jeder Religion oder jedem spirituellen Pfad herausnehmen könnte. Schließlich hat ja der Dalai Lama auch gesagt, einfach ein guter Mensch mit einem guten Herzen zu sein, wäre das Wichtigste. Naja, so einfach ist das dann auch wieder nicht. Auch wenn man gerne den Dalai Lama als argumentative Autorität ins Feld führt, um sich eine Patch-Work-Spiritualität zu basteln. Ein Vermischen von spirituellen Sichtweisen und Ansätzen ist eine Regression von Spiritualität, basierend auf ungelösten emotionalen Konflikten.
Sicht, Pfad, Resultat
Eine Religion bzw. eine spirituelle Tradition beruht auf einer Sicht, beinhaltet einen zu beschreitenden Pfad und nennt ein Resultat für das Ende des Weges. Doch nicht alle Religionen oder spirituelle Traditionen haben dieselbe Sicht, auch wenn sich manche Methoden für den Pfad vielleicht gleichen mögen. Und daher erlangt man auch immer spezielle Resultate, auch wenn sich Religionen bzw. spirituelle Traditionen als universell verstehen mögen. Doch die Universalität liegt in der allgemeinen Anwendung und nicht in der Gleichheit von Resultaten.
Wert durch Verschiedenheit
Unterschiede und Grenzen mögen vielleicht bedrohlich erscheinen, wenn sie Andersartigkeit und Ausschluss vermitteln. Doch Unterscheidung ist wertvoll, da sie Individualität erlaubt. Das Erkennen von Grenzen gestattet Individualität zu erfahren. Dadurch ist es auf einer reifen Stufe auch möglich, dem eigenen Leben Sinn und Richtung zu verleihen.
Obwohl Konsens die höchste Form der Konfliktlösung darstellt, unterscheidet sich das Finden einer übereinstimmenden Auffassung ganz wesentlich von Gleichmacherei und Beliebigkeit. Konsens basiert auf der Wertschätzung der Unterschiede und der Fähigkeit, Verschiedenheit als Ausdruck von Individualität zu sehen und als Gewinn zu erfahren. Die Aussage „Alles ist eins“ muss nicht immer eine übereinstimmende Auffassung zum Ausdruck bringen. Sie kann auch den Wunsch nach Lösung eines unterdrückten Konflikts sein.
Betrachten wir die Unterschiede zwischen dem Buddhadharma und anderen Religionen.
Wer hat’s gemacht?
Zunächst einmal gibt es im Buddhismus keinen allmächtigen Gott, der einen verfolgt oder an einem Tag des Jüngsten Gerichts bestraft. Daher ist der Buddhismus auch keine Religion in dem Sinne, dass ein Glaubenskonzept angenommen und die Anbetung eines übernatürlichen Wesens erfolgen müsste.
Im Buddhismus fehlt auch das Konzept des Heilsbringers, der einen durch sein persönliches Opfer erretten würde. Auch wenn man Zuflucht zum Buddha nimmt, so wird er einfach als unvergleichlicher Lehrer gesehen, aber es erfordert keine Unterwerfung unter ihn, seine Lehre oder die Gemeinschaft. Es ist nicht in der Macht eines Buddha, die in einem vorhandenen Unreinheiten, geistigen Befleckungen etc. zu bereinigen. Da muss man schon selber ran an die Sache. Glaube an den Buddha, an die Lehre allein hilft da nichts.
Auch ist ein Buddha keine Inkarnation eines Gottes. Die Beziehung zwischen einem Buddha und seinen Schülern ist einfach wie zwischen Lehrer und Schüler.
Die Befreiung vom Greifen nach und Festhalten an Identitätsvorstellungen liegt einfach bei einem selbst. Im Buddhismus wird man nicht zu blindem Glauben aufgerufen. Der Schwerpunkt liegt einfach wirklich in Selbstverantwortung, Selbstdisziplin und persönlichem Streben.
Wie oben schon angedeutet, ist die Zuflucht zu den Drei Juwelen – Buddha, Dharma, Sangha – keine Unterwerfung und Selbstaufgabe oder das Verlassen auf eine äußere Kraft, die einen erlöst. Der Dharma – die befreiende Lehre – besteht ungeachtet davon, ob es einen Buddha gibt oder nicht. Der historische Buddha Shakyamuni war weder der erste, noch wird er der letzte sein. Er hat die Lehre entdeckt und sie mit uns geteilt. Weder ist er der Schöpfer des Dharma, noch ist er ein Prophet eines allmächtigen Gottes. Der Buddha ist weder allmächtig, noch allwissend.
Buddha-Natur
Da jedem fühlenden Wesen Buddha-Natur innewohnend ist, haben alle Wesen die Möglichkeit, die vollständige Buddhaschaft zu erlangen. Es hängt einfach von einem selbst ab, wie eifrig man praktiziert und die ursprüngliche Reinheit der Natur des Geistes realisiert. Das letztendliche Ziel im Buddhismus ist die Befreiung aus der zyklischen Existenz (Samsara), manchmal auch Erleuchtung oder die Realisation der Natur des Geistes genannt. Es geht im Dharma nicht darum, eine günstigere Existenz zu erlangen, in einen Himmel zu kommen, sondern die Störgefühle und Begriffsketten zum Erlöschen zu bringen, welche die Natur des Geistes verdunkeln.
Karma und Wiedergeburt
Karma und die unausweichliche Kraft von Handlungen und Resultaten ist einer der Grundpfeiler der Lehre. In allen buddhistischen Traditionen wird das dargelegt, wenn auch unterschiedlich gewichtet. Karma bezieht sich auf Handlungen und ihre Resultate. Dieses Konzept dient zur Erklärung des Leidens. Und Leiden (skt., dukkha) ist die „seelische“ Qual, die ein Individuum erfährt. Es bezeichnet das, was schwer zu ertragen ist. Allerdings ist Karma kein Mysterium von Schicksal und Verdammnis, sondern erklärt die positiven und negativen Wirkzusammenhänge. Karma ist im Grunde ein sehr flexibler Prozess, der eben von den Motivationen und Handlungen des Individuums bestimmt ist. Da Personen nicht nur ausschließlich negative, sondern auch positive Handlungen vollbringen, liegt es in der Hand des Individuums, günstige oder ungünstige Umstände, zeitweiliges Glück oder Ungemach zu schaffen. Weiters gibt es keine Sünde oder Ursünde im Dharma, da jedes Wesen für seine Handlungen selbst verantwortlich ist. Niemand anders ist dafür verantwortlich – das ist der Kern von Karma.
Wiedergeburt – oder Wiedererscheinen – ist auch so ein Eckpfeiler in der Lehre Buddhas und geht mit Karma einher. Es gibt jedoch einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen Wiedergeburt und Reinkarnation wie es bei den Hindus erklärt wird. Im Buddhismus wird die Theorie einer Seelenwanderung verworfen, da ja die Lehre des Nicht-Selbst (anatta) dargelegt wird. Es gibt keine dauerhafte Seele oder kein beständiges Selbst, das von einem Gott erschaffen oder als göttliche Essenz hervorgebracht wurde.
Im Hamsterrad des Daseins
Im Buddhismus gibt es keine erste Ursache für die Schöpfung, sondern es wird eine anfangslose und endlose Existenz erklärt. Schwer zu verstehen? Ja, wir lieben es, in Grenzen zu denken. Doch was war vor einem Urknall? Einfach eine weitere Existenz…
Es gibt auch keinen Schöpfergott, der das ganze Universum ins Dasein gebracht hätte. Vielmehr wird im Dharma ein beständiges Kreisen im Dasein gesehen. Dieser Daseinskreislauf – auch Samsara genannt – ist ein fortwährendes Auf und Ab in verschiedenen Daseinsbereichen, die gemäß der individuellen Absichten und Handlungen erfahren werden.
Was Buddhisten essen
Müssen Buddhisten Vegetarier sein? Nein! Zwar ist Vegetarismus empfohlen, aber nicht vorgeschrieben. Das Töten von fühlenden Wesen gilt als eine der zehn unheilsamen Handlungen. Manche leiten es aus den Haltungen der liebenden Güte (maitri) und Mitgefühl (karuna) ab, da eben ausnahmslos allen fühlenden Wesen mit dieser Haltung begegnet wird. Doch hat der Buddha vier Ausnahmen gelehrt, unter denen auch Fleisch angenommen werden kann. Tieropfer sind strengstens untersagt.
Sind Buddhisten gute Menschen?
Ein guter Mensch sein? Ja, das ist sicherlich gut und hilfreich. Doch der Buddhismus geht über die Vorstellung von Gutes tun und ein guter Mensch sein hinaus. Wenn man an einem Gut-sein festhält, dann besteht wiederum Verlangen und Anhaftung. Man ist dadurch nicht frei, sondern weiterhin im Wechselspiel von Festhalten und Ablehnen gefangen.
Kein Kampf für Gerechtigkeit und Glaube
Es gibt im Buddhismus auch keine Vorstellung von einem Heiligen Krieg. Ein Wesen zu töten ist der Bruch eines der essentiellen Vorsätze im Dharma. Ein Wesen im Namen der Drei Juwelen zu töten oder auch im Namen eines religiösen Führers oder egal welche Ausrede man sich dafür einfallen lässt, ist strengstens verboten.
Leiden oder schmerzhaft?
Obwohl das Leiden (dukkha) im Buddhismus einen wesentlichen Punkt einnimmt, so ist es doch nicht so, dass Buddhisten beständig traurig oder schmerzerfüllt umherlaufen. Das Leiden und die Ursachen für das Leiden werden in den ersten beiden Edlen Wahrheiten dargelegt. Die nächsten beiden Edlen Wahrheiten behandeln das Beenden des Leidens und den Pfad der zur Beendigung führt. Dem Buddhismus eine pessimistische Einstellung oder eine freudlose Haltung zu unterstellen, geht am Ziel vorbei. Vielmehr sind die ersten beiden Edlen Wahrheiten mit einer Anamnese vergleichbar, während die zweiten beiden von der Gesundheit und Therapie sprechen.
Keine Welt ohne Erkennen
Erkennen ist auch so ein Schlüsselpunkt in der Lehre Buddhas. Es gibt ein Höchstes Erkennen (skt., prajna; tib., shes rab), damit werden Erkennen aufgrund der analytischen Meditation und des Durchdringens der Wissensobjekte bezeichnet. Und dann gibt es ein Zeitloses Erkennen (skt., jnana; tib., ye shes) – häufig auch als Weisheit oder uranfängliche Weisheit bezeichnet, dass ein Gewahrsein des ersten Erkenntnismoments bezeichnet. Warum ist das wichtig? Weil im Dharma eine Welt außerhalb unseres Erkennens nicht angenommen wird. Ohne Erkennen und Wahrnehmen ist Welt nicht vorhanden. Es gibt keine vom Erkennenden und vom Akt des Erkennens getrennte Welt als erkanntes Objekt. Gerade deshalb beschäftigt man sich im Dharma mit durchdringender Einsicht (skt., vipashyana). Die Praxis des geistigen Ruhens (skt., shamatha) ist einfach nur ein methodischer Vorspann, damit eben durchdringende Einsicht geschehen kann.
Meditation besteht auch nicht nur in einem ruhigen Sitzen ähnlich eines Heiligen, sondern umfasst ein breitgefächertes Methodenangebot, um bestimmte Geisteshaltungen zu kultivieren, bestimmte Einsichten zu erlangen und schließlich die Samen für das Schwer-zu-Ertragende (skt., dukkha) erlöschen zu lassen. Daher ist buddhistische Praxis nicht nur auf ein Sitzen begrenzt. Sie umfasst alle Aspekte des Lebens. Auf die Frage, wie lange man pro Tag meditieren soll, kann man nur sagen:„24/7“, denn schließlich erkennt und erfährt man jeden Moment.
Leer und doch so voll
Die Lehre vom Leersein aller Phänomene von sich selbst ist ein Schlüsselpunkt am Pfad der Befreiung. Dieses Leersein meint kein Nichts oder ist keine Verneinung der Phänomene, sondern beschreibt das letztendliche Fehlen einer angeborenen Identität oder eines unveränderlichen Wesenskern. Ausnahmslos alle Erscheinungen inklusive einem selbst sind „leer von sich selbst“.
Dennoch erscheinen Phänomene (und man selbst) aufgrund des bedingten Entstehens. Hier biegt sich der Kreis auch wieder zurück zu Karma und Wiedergeburt (bzw. Wiedererscheinen), da aufgrund von Hindernissen und konstruktivem Potential Phänomene erscheinen. Es gibt niemanden, der persönlich dafür haftbar ist, aber dennoch nimmt jedes Wesen Einfluss durch negative und positive Absichten und Handlungen.
In diesem Sinne… sammeln wir konstruktives Potential an, da sich Leben hier leichter ereignen lässt.