Was mich als einem in der Tradition Ikkyus darauf bringt, an ganz konkreten Beispielen klar zu machen, wo hier der Unterschied von den Theoretikern zu den Praktikern liegt. Vor einer Woche hatte ich über eine Dating-App eine junge Frau kontaktiert, die einer anderen, mit der ich bereits verkehrt hatte, irgendwie ähnlich sah. Ich dachte zunächst, sie sei unter verschiedenen Profilen online, und noch während ich das zu klären suchte (übers Tippen auf dem Smartphone), stand sie plötzlich vor meiner Tür. Wie ich sie so sah, etwas übergewichtig und nicht gerade mein Typ, und aufgrund der etwas seltsamen Kommunikation zuvor, wollte ich ihr einfach das Taxigeld bezahlen und entschuldigte mich. Da spürte ich, dass sie Kummer hatte, und sprach sie darauf an. Sie entschuldigte sich, nicht geschminkt zu sein und etwas getrunken zu haben, sie wolle mein (Taxi-)Geld nicht, sie verstünde mich schon, sie sei einfach schlecht drauf, habe Zoff mit ihrem Freund gehabt (einem Mann, der älter ist als ich). Ich zog sie sanft ins Zimmer. Wir hatten dann stundenlang das, was ich als den intensivsten Sex seit Jahren bezeichnen kann, vor allem, was ihre Empfindungsfähigkeit und Teilnahme anging. Sie war nass, bebte, stöhnte, zitterte. Sie blieb viel länger als vereinbart. Wir küssten uns endlos Zunge. Wir verstanden intuitiv, was dem anderen gefiel. Ich denke nun wieder daran, wie nah man sich in kürzester Zeit über Sex kommen und wie vertraut man werden kann, und wie mir manche Paare davon erzählten, dass sie für so etwas Jahre gebraucht hatten. Ich erfuhr von ihrer Migräne, konnte ihr meine Erfahrungen mitteilen und einige Medikamente nennen, die sie noch nicht kannte. Sie zeigte mir die Dating-App, wie sie für Frauen aussieht: keinerlei zahlungspflichtige Kontakte (wie zum Teil für Männer), ein Ansturm von fast hundert Typen, die Kontakt zu ihr suchten (was erklärt, warum man als Mann von so vielen Frauen keine Antwort bekommt).
Wenn man nicht von so etwas abhängt, dann genießt man den Moment und baut darauf keine weiteren Forderungen oder Illusionen auf. Man kann dann an den folgenden Tagen abstinent sein. Oder mit jemand anderem vögeln. Oder sich wiedersehen. Man kann es tun oder lassen.
Natürlich gibt es auch noch etwas anderes. Einst sprach ich eine Frau an ihrem Arbeitsplatz an, die mir schon ein paar Monate zuvor ins Auge gefallen war, und sie ging sofort wortlos einen Kollegen holen. Ich hatte sie gerade mal nach ihrem Namen gefragt. "Nanu?", dachte ich. Der Kollege erklärte mir, dass sie gehörlos sei. Weil ich die Gebärdensprache nicht beherrsche, brauchte ich noch einen Anlauf, dann hatte ich ihre Nummer und schlug vor, dass wir uns erst mal über Smilies anchatten und verständigen. Ich ging ins Freie an einen Brunnen, fuhr mir meine Ergotamintabletten ein und hielt mir die Ohren zu, um mir vorstellen zu können, was sie (nicht) hört.
All dies sind Facetten der Figur Ikkyu. Und im Geiste Ikkyus sind das keine Fragen von Moral mehr. Man kann sie natürlich jederzeit dazu machen. Aber man kommt nicht weit, wenn man meint, es ginge hier wie da um "Rechtfertigungen". Das glauben wohl Leute, die nicht tun (können), was Ikkyu tat. Die nicht auf den Markt zurückkehren, sondern nur auf einen Jahrmarkt der Eitelkeiten. Sie werden zu Opfern ihres eigenen moralinsauren Zens, das in grauer Theorie verharrt.