Buchvorstellung: MARSEILLE – marginalisiert und gentrifiziert

Von Politropolis @sattler59

MARSEILLE UND DIE PROVENCE
eine Buchvorstellung von Richard Albrecht

Über Marseille auch als Frankreichs Tor zum westlichen Mittelmeer lesen Sie wichtige Grundinformationen im mehrsprachigen Netzlexikon Wikipedia[1]; über Geschichte und Geographie des Mittelmeerraumes im allgemeinen informiert Sie das richtungsweisende Mittelmeerbuch von Fernand Braudel (1902-1985)[2]; und über die Europäische Kulturhauptstadt Marseille (2013) als „zweite Stadt“ Frankreichs finden Sie einen zu Antwerpen, Barcelona, Birmingham, Graz, Mailand, Saloniki und anderen europäischen Städten vergleichbaren Kurzeintrag im “Zweite-Stadt-Sammelband”.[3]

Marseille Ansicht und Lage – Foto: © Google Maps

Die vermutlich mit dem letztjährigen Kulturhauptstadt-Statut zusammenhängende, 2013 erstveröffentlichte Anthologie -Kulturhauptstadt Marseille und die Provence bietet einen anderen, einen literarischen Zugang über fiktionale Kurztexte zur imaginierten Stadt und ihrem, Provence genannten, sozio-geographischen Umfeld oder Hinterland. Damit geht es -wenn überhaupt- nur höchst sublim um die immer auch mit zu bedenkende touristische Imagedimension (hier der offiziellen Selbstdarstellung) von Marseille als „weltoffener Stadt“[4])

Marseille also – Frankreichs Tor zum Mittelmeer – ist als große Hafen- und Einwandererstadt auch heute noch „ein Sehnsuchtsort: lebendig und widersprüchlich, ein bisschen wild und eigentümlich zeitgenössisch. Der große Hafen von Marseille, von dem aus die Schiffe nach Korsika, Sardinien und Nordafrika ablegen, bestimmt die Atmosphäre der zweitgrößten Stadt Frankreichs. Sie ist offen, verrucht, windig und bunt, riecht nach Fisch und frischer Minze. Marseille ist ein Ort zum Ankommen und Aufbrechen – und ein gutes Versteck.“ Und weiter heißt es auf der Verlagsseite zu dieser Anthologie: „Diese Sammlung von vielen erstmals übersetzten Texten lädt ein zum Streifzug durch Gassen und Boulevards, über Plätze und Quais und folgt auch den Straßen ins zeitgenössische Südfrankreich. Der Band enthält Beiträge der deutschsprachigen Exilliteratur (Fred Wander, Soma Morgenstern), von bekannten französischen (Jean- Marie Le Clézio, Michel Tournier, Jean- Claude Izzo, Jean Echenoz) und arabischen Autoren (Tahar Ben Jelloun, Leïla Sebbar) sowie bislang ungehörte Stimmen der jüngeren Literaten und Musikergeneration wie Mathieu Croizet, Minna Sif und Moussu T e lei jovents.“[5]

Die einundzwanzig literarischen Texte sind in drei Abschnitten sinnhaft sortiert: „Im Dickicht von Marseille“ (sieben Texte), „Die Ränder der Stadt“ (sechs Texte) und im doppelt, in das kerneuropäische Frankreich wie in den nordafrikanischen Maghreb führenden, ausgreifenden Bereich -„Hinterland und übers Meer“ (acht Texte). Der letzte Abschnitt endet mit einer konventionell erzählten und doch anregenden Passage aus Michel Tournies Roman La Goutte d’or (1985)[6]: in der Figur Idris aus Tabelbala in der nördlichen Sahara, der zum ersten Mal über das nordalgerisch-maghrebhinische Oran in das zentraleuropäisch-südfranzösische Marseille einschifft und sich fremd fühlt, wird nicht nur über die jeweils Zweiten Städte beider Staaten als Mittelmeeranrainer die gemeinsame koloniale Geschichte zweier Kontinente verkoppelt, sondern zugleich auch die Idris aufnehmende „afrikanische Atmosphäre“ um den Marseiller Boulevard d´Athènes dicht beschrieben.

Der Sammelband enthält darüber hinaus nicht nur ein zweiseitiges „Kleines Literaturverzeichnis für Reisende“ (Erzählungen und Romane; Hörbücher; Filme) und ein dreiseitiges „AutorInnen und Quellen“ -Verzeichnis. Sondern auch ein so knappes wie wichtiges dreiseitiges -„Nachwort“ des Editors Daniel Winkler, der auch fünf der einundzwanzig Texte (mit)übersetzte. Dort heißt es über das realexistierende Marseille und seine Entwicklung:

„Auch die populären Kriminalromane von Jean Claude Izzo und Gilles del Pappas reflektieren diesen Wandel, und sie haben ihrerseits die Popularität Marseilles gesteigert. Beide Autoren kritisieren aber auch, wie viele lokale Kulturschaffende […], die aktuelle Stadtpolitik, die Marseille in mancher Hinsicht v.a. für Pariser, für gut situierte ´Bobos´, die >bourgeois bohémiens<, attraktiver gemacht hat, und den Mittelmeerraum zwar beschwört, aber gleichzeitig baulich-ökonomisch von der Stadt abschneidet. Inzwischen legen hier mehr Yachten an als Containerschiffe oder maghrebinische Fähren. Für die ehemaligen Docker und Migranten sind die Arbeitsaussichten meist nach wie vor schlechter als in anderen französischen Städten. Marseille ist eine Metropole, die gerne ein zweites Barcelona wäre, aber als ehemaliges Zentrum der Arbeiterbewegung und der korsischen Mafia in vielem mehr Neapel gleicht. Mit dem Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogenen Ende des Kolonialismus ist ein Großteil der Hafenindustrie und damit der Wirtschaftskraft weggebrochen, gleichzeitig wird die Stadt zum Attraktionspunkt vieler Migranten.

War Marseille schon der ersten Hälfte des Jahrhunderts Anziehungsort für Einwanderer aus Italien, Spanien, Armenien, Russland und Nordafrika, so ist es nun mit wesentlich komplexeren Migrationsprozessen aus den (ehemaligen) Kolonien konfrontiert. Viele Franzosen (pieds-noirs) und Maghrebiner, v.a. aus Algerien, aber auch Komorer landen per Schiff in Marseille, und die Einwohnerzahl der Stadt steigt zwischen den 1940er und den 1970er Jahren um ein Drittel (von rund 600.000 auf 900.000) — Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit inklusive.

Kurz: Marseille ist bis heute eine sozial und politisch gespaltene Stadt — mit dem Boulevard Canebière als symbolischer Trennlinie zwischen dem ehemals industriellen Norden und dem Richtung Côte d´Azur weisenden bürgerlichen Süden. Die Investitionen in die Umgestaltung der Metropole durch das in den 1990er Jahren lancierte EU-Sanierungsprogramm Euroméditerannée hat vor allem die Küste und das magische Dreieck zwischen Altem Hafen, Industriehafen und Bahnhof Saint-Charles gentrifiziert. Der Norden der Stadt bleibt auch im Kulturhauptstadttrubel marginalisiert. Diese Kontraste spiegeln sich so bis heute in heruntergekommenen Wohntürmen, rassistisch motivierten Anschlägen gegen Schwarzafrikaner oder Roma sowie der Rolle Marseilles als Umschlagplatz für Drogen bzw. illegale Waffentransporte.

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Quellen – weiterführende Links

Buch: Marseille und die Provence. Eine literarische Einladung. Hg. Daniel Winkler. Berlin: Wagenbach, 2013, 140 p.; 978-3-8031-1293-4, 15.90 € (D), 16.40 € (A), 22.90 H) Stutz (CH, ohne Preisbindung)*

Quellen zu den Textabschnitten:
[1] _http://fr.wikipedia.org/wiki/Marseille_ [und] _http://de.wikipedia.org/wiki/Marseille_
[2] Fernand Braudel, La Mediterranee. L’Espace et L’histoire. Les Hommes et L’Heritage (Paris: Ed. Flammarion, 1985, p.); dt.spr. Taschenbuchausgabe udT. Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen. A.d.Franz. von Markus Jakob. Frankfurt/Main: Fischer-TB 4443, 1990, 188 p.; als Einführung besonders 95-117
[3] Süddeutsche Zeitung. Die Zweite Stadt. Eine Serie der Süddeutschen Zeitung. München: Süddeutscher Verlag o.J. [2004], 125 p., Gerd Krönke, Tristesse und Pracht im Hafen der Verbannten: 90-93
[4] _http://www.marseille.fr/sitevdm/versions-etrangeres/german–marseille-entdecken_
[5] _http://www.wagenbach.de/buecher/titel/889-marseille-und-die-provence.html_
[6] dt.sprachige Ausgabe udT. Der Goldtropfen. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1987, 284 p.; letzterschienene Taschenbuchausgabe Frankfurt/Main: Fischer-TB, 1993, 284 p.