Antonio Tabucchi, der große italienische Dichter (1943 - 2012) mit einer großen Liebe zu Portugal, ist verstorben und im offenen Sarg in seinem eigenen Bibliothekszimmer in Lissabon aufgebahrt. Verwandte und Freunde nehmen Abschied. Zuletzt tritt seine achtjährige Enkeltochter, ganz in Weiß gekleidet, an den Sarg heran - sie ist die einzige, die den Verstorbenen auf Augenhöhe betrachten kann. Dann tritt sie einen Schritt zurück und sagt mit glasklarer Stimme: "Mein Opa war ein freier Mensch." Diese Szene schildert Andrea Bajani (geb. 1975 in Rom) in seinem Trauerbuch für den älteren Freund Tabucchi.
Erst vier Jahre vorher hatten sich die beiden Schriftsteller so unterschiedlichen Alters kennengelernt und Freundschaft geschlossen. Sie hatten einander Geschichten geschenkt (nicht nur selbst geschriebene, auch z. B. Zusammenfassungen der aktuellen Lektüre) und einander Rat gegeben, auch in ganz praktischen Dingen: Einmal rät der Ältere dem Jüngeren, im Stehen zu schreiben, der Rücken würde es ihm später danken; als sie sich in Tabucchis Wohnung nach einem geeigneten Möbelstück umgucken, stellen sie fest, dass für den hochgewachsenen Bajani nur der Kühlschrank in Frage käme - genau das Richtige, meint Tabucchi, der Brummton würde Gesellschaft leisten, und der legendäre Hunger des jungen Freundes sei dann auch rasch zu stillen. Dies Beispiel zeigt den feinen Humor, den Tabucchi auch gehabt haben muss, bis ins hohe Alter, allen Verstimmungen und Leiden zum Trotz.
"Erkennst du mich?" - warum der seltsame Titel ? (Das Fragezeichen habe ich hinzugefügt.) „Erkennst du mich, Luft, du,“, fragt Rilke in den „Sonetten an Orpheus“, „voll noch einst meiniger Orte?“ Wer stirbt, fällt aus der Zeit heraus, Orte aber bleiben - Orte der Erinnerung, Orte, an denen er oder sie noch gekannt wird. Solche Orte der Erinnerung können auch einzelne Menschen sein - das ist offenbar Bajanis Schicksalsaufgabe: für Antonio Tabucchi ein Ort der Erinnerung zu sein.
Das ganze Trauer- und Erinnerungsbuch ist in Anredeform geschrieben: Bajani spricht mit dem Verstorbenen und erzählt ihm sprunghaft von seinen Erinnerungen - ein Gespräch ohne Antwort. „Dir am Telefon Geschichten zu erzählen“, schreibt Bajani, „das war in diesen letzten Monaten deines Lebens für mich, als könnte ich dir etwas zurückgeben.“ Vorher war es meist so gewesen, dass der Ältere ihm Geschichten erzählte. Einmal erzählt Bajani auf Wunsch Tabucchis seinen neuen Roman, von dem noch nicht ein einziges Wort geschrieben war.
Das Telefon läutet im menschenleeren Haus, als alle bereits zur Beerdigung aufgebrochen sind. Niemand hebt ab. Ein letzter Anruf Tabucchis? Bajani empfindet es so. Denn Tabucchi hat ihn oft angerufen, vorzugsweise spät in der Nacht, als er bereits schwer erkrankt war. Ab und zu schreibt er auch eine SMS, manchmal rätselhaft knapp: „Jedenfalls gibt es im Leben noch andere Optionen, wenn auch nur wenige“ …
Nur wenige Tage vor dessen Tod kann Bajani seinen älteren Freund noch im Krankenhaus besuchen (obwohl seine Frau einen strikten Abschirmauftrag hatte, hatte sie einen Weg gefunden, Bajani per SMS zu signalisieren, dass es an der Zeit für einen letzten Besuch sei). „... Und danach“, berichtet Bajani im Gespräch mit dem Verstorbenen, „wolltest du nur noch mich reden lassen und dich aufs Zuhören verlegen. Erzähl mir, was du willst, über Literatur, die Welt. Literatur vor allem. Wir haben sechs Monate aufzuholen. Und so habe ich dann drei Stunden lang geredet, und du hast mit geschlossenen Augen und der Atemmaske über dem Mund dagelegen und genickt und die Augen nur aufgemacht, wenn dir eine Stelle nicht ganz klar war ...“
„Erkennst du mich“ ist eine ungewöhnliche, eigenständige Form des Trauerbuches, die mich sehr berührt hat. Ohne jede Larmoyanz schreibt Andrea Bajani in einer einfachen, manchmal bildreichen Sprache.
„Es wird immer später“ hatte Antonio Tabucchi einen Briefroman genannt, der mehr als 10 Jahre vorher erschienen war. Es wird immer später, aber - so möchte ich hinzufügen - es ist nie zu spät, einem anderen Menschen einen Ort der Erinnerung zu schenken.
Andrea Bajani: Erkennst du mich. Aus dem Italien. von Pieke Biermann. Deutsche Erstausgabe. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014. 176 Seiten. 9,90 EUR.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; das Bild gibt das Titelbild des Verlages wieder.