Freitag: von Tom Strohschneider
Milliarden an Staatsleistungen sind seit 1919 an die Kirchen geflossen – dem verfassungsmäßigen Ablösungsgebot zum Trotz
Die beiden Sätze, die für Johann-Albrecht Haupt zu den entscheidenden gehören, stehen im Grundgesetz, und doch finden sie sich nicht darin. Nur ein Hinweis: Weit hinten, in Artikel 140, wird auf fünf Artikel der Weimarer Verfassung verwiesen, die „Bestandteil dieses Grundgesetzes“ sind. Einer davon lautet: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“ Doch dieser Auftrag, sagt Haupt, sei bis heute unerfüllt geblieben: „Es hat sich einfach niemand daran gehalten.“
Der Jurist sitzt im Vorstand der Humanistischen Union, einer Bürgerrechtsorganisation, die nun eine Bilanz dieser Unterlassung präsentiert hat. Rund 14 Milliarden Euro sollen die Länder – Bremen und Hamburg aus hanseatischer Tradition ausgenommen – an die katholische und evangelische Kirche seit 1949 gezahlt haben. Begründet wurde dies mit dem Anspruch auf Entschädigung für die Säkularisierung im 19. Jahrhundert, herhalten muss dafür meist der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, mit dem geistlicher Fürstenbesitz entzogen wurde. Haupt dagegen meint, die Milliarden seien nicht nur verfassungswidrig, sondern für die öffentlichen Haushalte auch eine Last ohne hinreichende Begründung. Die Kirchen, schuldenfrei und vermögend, sollten sich selbst finanzieren. Und schließlich, darauf legt Haupt großen Wert, gehe es keineswegs um Geld für Schulen, soziale Dienste oder die Entwicklungshilfe.
Ansgar Hense arbeitet am Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands. Im vergangenen Herbst hat Hense „Hinweise zur aktuellen Lage und Diskussion über die Staatsleistungen“ aufgeschrieben – 24 Seiten voller juristischer Fachbegriffe, historischer Interpretationen und kirchenrechtlicher Überlegungen. Wolle man den Ablösungsauftrag als Verfassungsgebot verstehen, so Hense, „ist damit eine Verpflichtung des Staates adressiert, nicht eine moralische Aufforderung zum Verzicht“. In der Regel enthielten die seit den fünfziger Jahren geschlossenen Staatsverträge mit den Kirchen und die Konkordate zudem Klauseln, die zum Einvernehmen über jede Änderung zwingen. Und schließlich hätten die Kirchen einen Anspruch auf eine Entschädigung, die sich insgesamt „in einem unteren zweistelligen Milliardenbereich bewegen“ könnte.
Gewisse Ängstlichkeit
Das Argument verfängt in der Politik. Angesichts der Kassenlage der Länder wird eine kurzfristige Ablösung, die längerfristig die Etats entlasten würde, so zu einer schier unüberwindlichen Hürde. Nicht zuletzt deshalb begann die Humanistische Union damit, nach der bisher gezahlten Summe zu forschen.
Dies stellte sich als schwieriges Unterfangen heraus – entweder konnten oder wollten Länder und Kirchen keine Auskunft geben. Von einem „unvertretbaren Verwaltungsaufwand“ sprachen die zuständigen Ministerien, was für Carsten Frerk „an Lächerlichkeit grenzt“. Der Autor, dessen Violettbuch Kirchenfinanzen zu den Standardwerken in kirchenkritischen und laizistischen Kreisen gehört, hatte sich schließlich selbst auf die Suche nach den Zahlen gemacht und wurde in den archivierten Haushaltsunterlagen der Länder fündig: „Sie hätten nur schlicht addiert werden müssen.“
Die Anekdote hält man bei der Humanistischen Union durchaus für symptomatisch: Wo nicht Unwille herrsche, offen über das Problem der Staatsleistungen zu reden, bestehe eine „gewisse Ängstlichkeit“ – vor allem in der Politik. Haupt und Frerk hatten Hunderte Abgeordnete angeschrieben, um sie für parlamentarische Hilfe bei der Recherche zu gewinnen. Doch die Reaktionen waren „erstaunlicherweise sehr zurückhaltend“. Erstaunlich deshalb, sagt Haupt, weil es von der FDP bis zu den Grünen, von der SPD bis zur Linkspartei durchaus Befürworter einer Ablösung gibt.
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