Buchkritik: Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles von John Maynard Keynes - Eines der wichtigsten Bücher aller Zeiten

Von Lyck

Warum brechen immer wieder neue Kriege aus? Einer der wesentlichen Gründe ist sicher, dass wir uns kaum mit der Entstehungsphase von Konflikten beschäftigen. Wir sind fasziniert von Gewalt und Leid, von Explosionen und Geschützdonner, von spritzendem Blut und aufgetürmten Leichen. Die Bilder sind spektakulär, sie rufen starke Gefühle hervor: Angst, Wut, Ekel, Mitleid, Scham- und Schuldgefühle. Wir gruseln uns davor und müssen doch jedes Mal wieder hinsehen.
Verglichen damit ist eine Konferenz, bei der bloß geredet wird, einfach nur langweilig. Niemand wird ermordet, es fließt nicht ein Tropfen Blut, es knallt und raucht nicht. Also warum hinschauen?
Weil bei solchen Anlässen oftmals die Grundlagen für Gewalt und Leid gelegt werden. So war es auch bei der Konferenz von Versailles, die über das Schicksal des im Ersten Weltkrieg besiegten deutschen Volkes entscheiden sollte. Ein Jahr lang, vom 18. Januar 1919 bis zum 21. Januar 1920, wurde debattiert und verhandelt, am Ende stand der Abschluss des Versailler Friedensvertrags – die wohl dümmste und verhängnisvollste Tat der Menschheitsgeschichte. Die Verlierer des Krieges wurden zu einer maßlosen Strafe verurteilt, selbst ihre Kinder und Enkel sollten für Taten büßen, die sie nicht begangen hatten.
Die Summen, um die es ging, waren irrwitzig. Bereits der Friedensvertrag von 1919 sah Leistungen in Höhe von 20 Milliarden Goldmark bis 1921 vor. Während der Boulogner Konferenz (Juni 1920) wurden 269 Milliarden gefordert, auf der Londoner Konferenz (Mai 1921) einigte man sich auf 132 Milliarden Goldmark. Diese Summe entsprach dem Gegenwert von 47.000 Tonnen Gold und musste von einem Land aufgebracht werden, das durch Krieg und Blockade wirtschaftlich ruiniert war. Zum Vergleich: Die USA besaßen im Jahr 2000 eine Reserve von rund 8.000 Tonnen Gold.
Gezahlt werden sollte in 42 Jahresraten. Zum Vergleich: Frankreich musste nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg drei Jahre Reparationen zahlen.
Natürlich lösten diese Forderungen bei den Kriegsverlierern Wut und Empörung aus. Politische Extremisten hatten in Deutschland fortan leichtes Spiel. Besonders die rechtsextremen Parteien DNVP und NSDAP thematisierten ungezählte Male den Schandfrieden von Versailles. 
Munition für Hitler
Verteidiger dieser Politik wenden ein, dass man damals nicht hätte wissen können, wo die Forderungen von Versailles hinführen würden. Falsch, man hätte es wissen können, sogar wissen müssen. Es gab zahlreiche Stimmen, die vor den absehbaren Folgen warnten. Eine dieser Stimmen gehörte dem Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes. Bereits im Dezember 1919 erschien sein Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrags von Versailles und löste großes Aufsehen aus. Keynes wusste, wovon er redete. Als Vertreter des britischen Schatzamtes nahm er selbst an den Friedensverhandlungen teil. Und das merkt man dem Buch auch an. Es ist vollgestopft mit Informationen, die die damalige Wirtschaftslage in Europa betreffen. Für den heutigen Leser ist es deshalb nicht leicht, die Kerninformationen herauszulesen. Zu den wichtigsten gehört eine Zahl: 40 Milliarden Mark. Keynes behauptet, Deutschland könne allerhöchstens diesen Betrag (sofort übertragbares Vermögen, abgetretenes Eigentum und Jahreszahlungen) leisten und begründet diese Schlussfolgerung ausführlich. Falls die Alliierten bei ihren völlig überzogenen Forderungen bleiben sollten, sagt er Inflation, Staatsbankrotte, politischen Extremismus und einen neuen großen Krieg voraus.
In der deutschen Übersetzung des Berenberg Verlags heißt es auf Seite 131 wörtlich: Wenn wir absichtlich auf den Ruin Mitteleuropas ausgehen, dann wird, das wage ich zu prophezeien, die Vergeltung nicht ausbleiben. Nichts kann dann auf längere Zeit einen langen Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelnden Zuckungen der Revolution aufschieben, vor dem die Schrecken des vergangenen Deutschen Krieges verblassen werden und der, gleichgültig, wer der Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird. 
Alternativen: Marshallplan und Europäische Union
Doch Keynes war nicht nur ein Mahner und Warner, er wusste auch Alternativen zu benennen. So schlug er eine internationale Anleihe vor, die den vom Krieg zerstörten Ländern zugutekommen sollte. Damit hätte der Wiederaufbau finanziert und die Wirtschaft angekurbelt werden können. Daneben skizzierte Keynes einen Freihandelsverband unter Aufsicht des Völkerbunds. Seine Mitglieder sollten sich dazu verpflichten, keinerlei Zölle zu erheben und den Handel untereinander zu fördern. Damals lehnten die verantwortlichen Politiker seine Vorschläge ab. Einen Weltkrieg später wurden sie doch noch umgesetzt, unter den Namen Marshallplan und Europäische Union.
  
Eine sehr wichtige Frage drängt sich auf: Warum hat man nicht auf Keynes und all die anderen Kritiker des Versailler Vertrags gehört? Die Antwort findet sich in den heutigen Bestsellerlisten, in den Kinocharts und in den Einschaltquoten der Fernsehsender. Starke Gefühle verkaufen sich gut. Wer marschierende Nazis und brennende Häuser zeigt, bekommt viel Aufmerksamkeit. Leider entsteht dadurch neue Angst und neue Wut, man fordert Waffen gegen das Böse, Geheimdienste sollen Bürger überwachen usw. Kämpfen statt helfen. Die negative Spirale dreht sich weiter.
Eine primitive Kultur
Diese negativen Gefühle aufzulösen ist dagegen sehr viel schwieriger. Menschen wie Keynes wirken meist im Verborgenen, sie bekommen nicht viel Geld für ihre Arbeit, keine Orden und Preise, ihnen werden keine Denkmäler errichtet und man benennt keine Straßen und Plätze nach ihnen. All das ist den Scharfmachern und Kriegstreibern vorbehalten. Die Ergebnisse ihres Wirkens sehen wir jeden Tag in den Nachrichten.
Dennoch lohnt es sich, dieses Buch zu lesen. Keynes zeigt, wie man Kriege verhindern kann. Keiner kann mehr sagen, er hätte es nicht gewusst.
  
Mehr über den Autor dieser Kritik unter www.elkvonlyck.de