Buchkritik: Carrie (Stephen King), 1973

Erstellt am 11. Februar 2013 von Noface @Ghost__Bob

Inhalt

Als Dreijährige ließ Carrie einen Steinregen auf ihr Haus niederhageln; in der Gegenwart, mit nunmehr sechzehn Jahren, wird sie in der High School von ihren Mitschülern schikaniert und ist die Zielscheibe etlicher Streiche und Scherze. Äußerlich ist sie ein Mauerblümchen par excellence, dabei will sie doch nur ein Leben wie jedes andere Mädchen führen und in der Ballnacht hübsch in ihrem Kleid aussehen. Doch Mutter und Mitschüler sind damit nicht einverstanden.

Reflexion und Kritik

Grundsätzlich klingt eine solche Synopsis nach einer typischen American-Teenage-Loser-Story, doch der heute weltbekannte Schriftsteller Stephen King stattet seinen ersten Erfolgsroman immer wieder mit markanten Details und Wendungen aus, die das Weglegen des Buches schlicht unmöglich machen. Er weckt und spielt mit unseren ursprünglichen Emotionen, – Wut, Hass, Angst, Mitleid -, und zehrt seinen Horror nicht aus seinen überdeutlich vorhandenen fantastischen Elementen, sondern aus der beinahe animalischen Grausamkeit, die hier das soziale Interagieren darstellt. CARRIE ist eine fragmentarisch angeordnete Bestandsaufnahme einer Tragödie, wie es sie in ähnlicher, möglicherweise etwas abgeschwächter Form schon unzählige Male im Alltagsleben beinahe jedes andersartigen Jugendlichen gab.

Bereits früh erfahren wir die Wurzel aller Schrecklichkeiten: Die eigene Mutter. Sie selbst ist aufgrund ihrer religiös intendierten unterdrückten Sexualität ein vollkommen zerstörtes Geschöpf der geisteskranken Hoffnungslosigkeit, für welches sogar das Autreten der ersten Menstruationsblutung eine schwerwiegende Sünde darstellt. Denn Fleisch und Blut sind die Boten des Verderbens. Anfangs noch zu simpel und plakativ wirkend, offenbart sich dem Leser im Laufe des Buches das psychologische Ausmaß ihrer seelischen Störung, welches sich spätestens gegen Ende als die einzig logische Konsequenz materialisiert. Dieser religiöse Wahn ist letztlich Schuld an Carries leidvollem Dasein; er symbolisiert das reaktionäre Ursprüngliche in einer Welt des gesellschaftlichen und sozialen Wandels. Er krallt sich mit seinen eingefallenen Händen an ihr fest, verschlingt sie und ihre Persönlichkeit, bis die Sechzehnjährige von der erbarmungslosen Realität eingeholt und anschließend zermalmt wird.

Mit einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen für seine Haupt-Charaktere beweist King sein großes figürliches Feinspitzengefühl. Oft werden in Klammern intime, unkontrolliert-assoziativ geschriebene Gedankenfetzen der jeweiligen Erzählperspektiven eingestreut, die es möglich machen, uns gänzlich in die jeweilige Person hineinzufühlen und all ihre Handlungen nachzuvollziehen. Dies geschieht manchmal zwar noch etwas oberflächlich, doch ein gewisses Talent in diesem Bereich sei ihm definitiv nicht abgesprochen. Fiktive (pseudo-)wissenschaftlich geschriebene Fach-Artikel sorgen derweil für eine zumeist intelligent inszenierte Abwechslung, sorgen sie somit dafür, den Roman authentischer wirken und dem Publikum dadurch Fakten und zukünftige Handlungen wissen zu lassen, die zum dort gegenwärtigen Zeitpunkt noch keiner der Beteiligten absehen kann. Hiermit wird der Leser zeitweise auf eine höhere, retrospektiv-allwissende Ebene gehievt, ohne die Hauptgeschichte jedoch emotional vor ihm zu verschließen; es tritt gar der gegenteilige Effekt ein: Erst hierdurch wird ihm die volle Tragweite des Super-GAUs bewusst. Gleichzeitig subjekt- und objektiver Beobachter, dazu getrieben, ein absolutes Urteil zu fällen.

Anno 1973 legte Stephen King mit CARRIE den (finanziellen) Grundstein für sein späteres literarisches Schaffen, und auch wenn einige Vergleiche mitunter noch etwas holprig gewählt anmuten, so ist das sprachliche Talent des heutigen “Master[s] of Horror” von ganz deutlicher Präsenz. Bereits in seiner Anfangsphase gelingt es ihm, düstere Symboliken mit einer fesselnden Geschichte zu verbinden und den Leser in einem Strudel des Grauens zu verschlingen, dem man sich nicht entziehen kann.

Daneben offenbart sich schon in diesem Frühwerk die oft feministisch geprägte Weltsicht Kings, welche er auch in späteren Romanen wie SIE, DOLORES oder DAS SPIEL immer wieder aufgreifen wird: Carries telekinetische Kraft eigentlich Metapher für die Stärke der weltweiten Frauenbewegung; trotz des von ihr dadurch verursachten Leids die einzig mögliche Erlösung und Reaktion ihrer Qualen. Mit Blut beginnt es und mit Blut endet es. Denn Blut ist dicker als Wasser.

6,0/10