Tom Holland ist ein ebenso fesselnder wie frustrierender Schriftsteller. Sein Stil, den ich in den Buchbesprechungen hier schon mehrmals thematisiert habe, ist für deutsche Historiker praktisch Anathema: Fast ausschließlich narrativ anhand von Anekdoten zeichnet er die großen Gemälde. In seinem jüngsten, gerade diesen Monat erst erschienenen Buch, dem ich mit Spannung entgegen fieberte, geht es um nichts weniger als die Geistesgeschichte des Christentums - mit der These, dass das Christentum fundamental für das ist, was wir heute als "westliche Werte" sehen. Ungeheuer fesselnd beschreibt Holland in Sprüngen von Denker zu Denker, wie Aspekte der Theologie und Weltanschauung der jeweiligen Epoche ausgebildet wurde. Beginnend bei Darius und Leonidas geht es zu Pompeius und Augustus, Paulus und den Evangelisten, zu Konstantin und Augustin, zu Origen von Alexandria und dem Konzil von Nicea. Und dann ist erst ein Fünftel des Buchs rum. Jeder Denker wird im Kontext seiner Zeit und den intellektuellen Herausforderungen, denen er sich gegenübersah, vorgestellt. Wir befinden uns für einige Seiten in ihrem Geist, verstehen ihre Sicht. Das führt zu einer fast einzigartigen Leseerfahrung, denn diese vergangenen Zeiten sind uns ungeheuer fremd. Holland schafft es, dass man die Sexualmoral der Griechen und Römer ebenso nachvollziehen kann wie die Position eines mörderischen Inquisitors. Das Buch ist voller kleiner Details, die, einmal vom Leser zusammengesetzt, faszinierende Rädchen im Getriebe darstellen. Von der Herkunft des Kreuzes als Marterinstrument zu der Abneigung gegenüber Homosexualität bis hin zum Bekenntnis zur Vernunft und schließlich des Widerstands gegen den Nationalsozialismus (oder dessen Unterstützung im Kreis der Deutschen Christen), überall erfährt der geneigte Leser kleine Erleuchtungen. Dafür fordert Holland aber auch einiges ab. Die Sprünge in den Narrativen, die, abgesehen von der Nennung der Jahreszahl, praktisch ohne weitere Einordnung erfolgen, setzen zwingend eine solide Grundkenntnis der fraglichen Epoche voraus. Im Falle von "Dominion" bedeutet das nichts weniger als 2500 Jahre Geistesgeschichte. Andernfalls werden die Erleuchtungen ausbleiben und die Rädchen nicht ineinandergreifen. Ohne diese Kenntnisse wird das Aufzeigen der Perspektive dieser historischen Akteure darin enden, dass man kritiklos ihre Perspektive übernimmt - und das wäre in den meisten Fällen desaströs. Das nimmt der Qualität des Buchs nichts, es soll aber ein Wort der Warnung sein. Frustrierend allerdings wird Holland, wenn die Schattenseiten seines einzigartigen Ansatzpunktes offensichtlich werden. Nur in den allerwenigsten Fällen tritt er als Autor in Erscheinung und kommentiert unzweideutig die Irrigkeit einer Ansicht (das passiert vor allem beim Antisemitismus, wo es mehr als angebracht ist). Oft genug verlässt er sich darauf, dass der moderne Leser selbst in der Lage ist, die jeweils handelnden Personen kritisch zu begutachten. Das Handwerkszeug gibt Holland dem Leser dafür nicht: Das muss man schon selbst mitbringen. Sink or swim, gewissermaßen. Für Amateur-Historiker ist das Buch damit quasi eine Garantie, zu völlig falschen Schlüssen zu kommen, weil der Kontext fehlt. Es ist nachgerade gefährlich. Ein weiterer, eklatanter Schwachpunkt von Hollands gewähltem Ansatz ist, dass er letztlich eine Geschichte Großer Männer schreibt, wie sie eigentlich seit den 1960er Jahren (zurecht) außer Mode geraten ist. Mit nur ein oder zwei Ausnahmen sind alle seine handelnden Personen männlich, in ihrer deutlichen Mehrheit zudem der jeweils herrschenden Elite zugehörig. Die Perspektive des breiten Volkes oder von Minderheiten bleibt völlig ausgespart; Menschen kommen nicht vor, allenfalls als Statisten. Es dominieren intellektuelle Titanen. Zudem sorgt die schiere Breite des gewählten Ansatzes in einem insgesamt nicht sonderlich dicken Buch dafür, dass die wilden Sprünge durch die Geschichte vieles und mehr auslassen und drastisch vereinfachen und zuspitzen. Das fällt in Antike und Mittelalter weniger auf, weil über diese Zeiten weniger bekannt ist und sie weiter von uns entfernt sind, wird aber bei jedem Historiker dieser Fakultäten auf Schaudern stoßen. Leuchtend offensichtlich wird diese Schwäche, wenn das Buch in der Moderne und besonders im 20. Jahrhundert ankommt, wo wir von der Tolerierung der Juden Kölns durch Friedrich Wilhelm zu Otto Dix' Weltkriegserfahrungen zum Märtyrertum Horst Wessels springen - alles im Rahmen von vielleicht 40 oder 50 Seiten. Wer hier nicht sattelfest ist, wird durch die Assoziationswirbel davongerissen. Empfohlen sei dieses Werk daher allen, die diese Sattelfestigkeit mitbringen und sich von den Widrigkeiten nicht schrecken lassen. Alle anderen sollten lieber die Finger davon lassen.
Heiko Reichelt, Gerald Wenge - Klassenfahrten, Exkursionen, Wandertage
Der kanadische Journalist Adam Gopnik ist ein liberaler Zentrist, und er ist es mit Stolz. Angesichts des Linksdrifts der demokratischen Partei und vieler sozialdemokratischer Parteien Europas und der Herausforderung durch den verbreiteten Rechtspopulismus verfasst er hier eine brennende Verteidigungsrede des Liberalismus. Der Titel zeigt bereits seine Hauptthese deutlich: Der Liberalismus arbeitet mit "tausend kleinen Klugheiten". Es ist der inkrementelle, diskutierte Wandel, der Gopnik wichtig ist. Er teilt das liberale Kerncredo dafür in zwei große Teile. Der erste ist seine "theory of change", in der er sich für einen Prozess der kleinen, stetigen Schritte ausspricht. Ausprobieren, evaluieren, verbessern, ad infinitum, das ist sein Credo. Das bedeutet zwar, dass der Wandel langsam kommt. Aber Gopnik hat ein liberales Grundmisstrauen gegenüber dem großen Wurf, genauso übrigens wie gegenüber der Verweigerungshaltung von Konservativen. Der zweite Teil ist seine Betonung der Notwendigkeit von Toleranz und Diskurs. Gopnik beschreibt die permanente Debatte auch mit den Gegnern des Liberalismus als absoluten Kernbestandteil einer liberalen Gesellschaft, scheut sich aber auch nicht, eine klare Trennlinie zu ziehen. Dort, wo Gegner des Liberalismus nicht bereit sind, die Existenz einer pluralen, liberalen Gesellschaft anzuerkennen und gegebenenfalls eine Niederlage zu akzeptieren, hat der Liberalismus keinen Grund, selbst Toleranz auszuüben. Das Buch wird durch philosophische Verteidigungen des Liberalismus gegenüber Kritik von rechts und links sowie eine Einführung in die Ideengeschichte des Liberalismus' abgerundet. Es ist kein ausufernd langes Werk, und all jenen, die verstehen wollen wie Liberale ticken, sei es schwer ans Herz gelegt. Ich habe mich jedenfalls in viel von Gopniks Werk wiedergefunden.
Jesper Juul - Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist
Michael Lewis - The Fifth Risk // Michael Lewis - Erhöhtes Risiko
Michael Lewis, der Autor des legendären Finanzkrisenaufarbeitungsbuchs "The Big Short", beschäftigt sich in "The Fifth Risk" (deutscher Titel: "Erhöhtes Risiko") mit dem Managment von existenziellen Risiken. Dazu interviewte er zahlreiche Amtsträger aus den verschiedenen US-Ministerien, vor allem dem Department of Energy, dem Department of Agriculture und dem National Weather Service. Er lässt sich von kompetenten und engagierten Experten ihres jeweiligen Feldes schildern, welche existenziellen Risiken von der jeweiligen Behörde verwaltet und gegebenenfalls verhindert werden.
Währenddessen befasst sich das Department of Agriculture unter anderem mit Nahrungsmittelsicherheit, kümmert sich aber auch darum, dass Wildgänse nicht ständig Flugzeuge zur Notlandung auf dem Hudson zwingen. Der National Weather Service dagegen hat in den letzten zehn Jahren seine Vorhersagen sowohl des schnöden Wetters als auch Naturkatastrophen wie Hurrikane und Tornados entscheidend verbessert.
Was hat das mit Trump zu tun?
Die Trump-Leute kamen nicht einmal zu den Briefings. Posten wurden nicht besetzt. Trump kümmerte sich nicht um irgendetwas, und was noch schlimmer ist, auch niemand anderes in seinem Umfeld. Zentrales Wissen verließ die Ministerien und wurde durch nichts ersetzt. Betrachtet man die Risiken, die Lewis beschreibt, und die Verantwortung, die damit einhergeht, grenzt es an ein Wunder, dass nicht noch mehr passiert ist. Das schiere Ausmaß der Inkompetenz der Trump-Leute ist atemberaubend. Aber das ist Thema für einen ganz eigenen Artikel und sprengt den Rahmen dieser Besprechung.
Michael Lewis ist sicherlich einer der besten journalistischen Geschichtenerzähler unserer Tage. Neben seinem Buch "The Fifth Risk" veröffentlichte er außerdem den Podcast "Against the Rules". In diesem befasst er sich mit dem Niedergang der Rolle des Schiedsrichters, ob in Sport, Paarbeziehungen, Schule, Wirtschaft oder Politik. Man sollte die Augen offen halten, wann sein nächstes Buch erscheint.