Diesen Monat in Büchern: Eine Geschichte des Kriegs im 20. Jahrhundert, der kolumbianische Austausch, der alliierte Bombenkrieg, der Tod der Expertise, eine Geschichte Weimars, eine Erklärung des Holocaust und Wirtschaftskriege.
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Die parlamentarische Demokratie und die Geschlechterdemokratie.
Gregor Schöllgen - Krieg. 100 Jahre Weltgeschichte
Die Grundidee von Schöllgens Buch ist es, Krieg im 20. Jahrhundert systematisch zu betrachten. Beginnend bei der Russischen Revolution 1917, in der Schöllgen den wahren Beginn des "kurzen 20. Jahrhunderts" sieht, stellt er in verschiedenen Kapiteln Aspekte des Kriegs vor, die er anhand der jeweiligen Konflikte untersucht. Bürgerkriege, politische Konflikte, Vernichtungskrieg, Guerillakrieg - die Menge der Möglichkeiten, mit denen Menschen im Verlauf des 20. Jahrhunderts im Rahmen von Staaten, ethnischen Gruppen, bewaffneten Banden oder Sekten versucht haben, ihre Mitmenschen zu töten, ist praktisch endlos. Leider funktioniert die Herangehensweise für mich nur eingeschränkt. So interessant die grundlegende Kategorisierung ist, so sehr scheitert die Konzeption des Buches darin, dass in dem insgesamt recht beschränkten Platz (das Ding hat keine 300 Seiten) sowohl der jeweilige Krieg skizziert werden als auch die analytische Arbeit geleistet werden muss. Schöllgen tut dies, was man ihm zugute halten muss, auf eine sehr allgemeinverständliche Weise. Wer sich allerdings mit der Thematik bereits näher beschäftigt hat, wird sich über die vielen (notwendigen) Vereinfachungen ärgern und wenig Neues entdecken. Nachdem ich diese Caveats aus dem Weg geräumt habe: Empfehlenswert ist das Buch natürlich für diejenigen, die keine besonders tiefe Kenntnis der Konflikte und ihrer Geschichte haben und daran interessiert sind, statt der üblichen chronologischen Darstellungen und veralteten Schlachtfeldgeschichte, die in der Populärhistorik so beliebt ist, eine kompakte Überblicksdarstellung zu erleben. Es ist quasi ein Werk für Einsteiger. Die haben ihre Berechtigung, aber ich habe mich nicht mehr als die Zielgruppe gesehen.
Charles Mann - 1493. Revisiting the world that Columbus created
Stephan Burgdorff/Christian Habbe - Als Feuer vom Himmel fiel
Tom Nichols - The Death of Expertise
Ursula Büttner - Weimar. Die überforderte Republik
Es war aus gegebenem Anlass mal wieder Zeit, meine Weimar-Kenntnisse aufzufrischen. Ein halbwegs aktuelles Überblickswerk einer deutschen Professorin schien mir da gerade richtig, und Ursula Büttner bietet ein solches. Auf 500 Seiten werden mit unheimlicher Dichte und Kohärenz alle wichtigen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft, Religion, Wirtschaft und Kultur analysiert. Die jeweiligen Kapitel sind präzise, umreißen alle wichtigen Faktoren und sind mit tonnenweise Quellverweisen (200 der über 700 Seiten dieses Wälzers sind Fußnoten!) hinterlegt. Besonders für Lehrkräfte und HistorikerInnen ist außerdem der umfangreiche Statistik-Katalog am Ende interessant; auch der ordentliche Glossar weiß zu punkten. Es liegt der Natur der Sache, dass ein solches Überblickswerk nicht die eine große, knallige These fährt. Zwar bietet die Schlagzeile "die überforderte Republik" für das kaum zehnseitige Fazit einen Roten Faden, aber letztlich läuft das auf die sattsam bekannte Feststellung heraus, dass die Weimarer Republik an zahlreichen unverschuldeten Faktoren zugrunde ging, zu freiheitlich für eine undemokratische Wählerschaft war und zudem am Verhalten ihrer Akteure litt. Der Wert des Buchs - und ich empfehle es uneingeschränkt! - liegt vielmehr darin, die Weimarer Republik in ihrer Gänze zu skizzieren und ein Gesamtverständnis zu entfalten. Natürlich bedeutet die Dichte der Informationen auch, dass ohne wenigstens grundsätzliches Vorwissen und sehr genaue Lektüre viel Wert verloren geht. Zwar gibt Büttner einleitende Sätze zu jedem Thema, aber diese Einordnungen erfordern ein bereits geschultes historisches Denkvermögen. Nicht-Historiker werden sich, so sie die Lektüre solcher Werke nicht bereits gewohnt sind, vermutlich schwer tun. Sollten sie den Aufwand aber investieren, lohnte es sich nichtsdestotrotz.
Peter Hayes - Warum? Eine Geschichte des Holocaust (Peter Hayes - Why? Explaining the Holocaust)
Der Holocaust gehört zu den Themen der historischen Forschung, von denen man glaubt, dass es Neues eigentlich nicht mehr gibt. Er ist das am besten erforschte Einzelereignis in der Geschichte. Umso auffälliger ist, wie viele Mythen und Falschwahrnehmungen über den "Zivilisationsbruch" (das geflügelte Wort Dan Diners) im Umlauf sind. Der amerikanische Holocaust-Forscher Peter Hayes hat es auf sich genommen, einerseits den aktuellen Stand der Forschung wiederzugeben, andererseits aber gegen diese Mythen anzugehen.
Er hat das Buch daher in acht Fragen aufgeteilt, die immer wieder gestellt werden - wenngleich oft ungern und schamhaft, weil sie häufig gerade von Leuten genutzt werden, die eher revisionistische Absichten verfolgen. Hier kann gleich Entwarnung gegeben werden: Hayes ist ein seriöser Forscher, und seine Antworten sind ebenso leicht verständlich wie wichtig und erschütternd.
Die Fragen sind im Einzelnen: Warum die Juden? Warum die Deutschen? Warum die Eskalation? Warum ging der Mord so schnell? Warum wehrten sich die Juden nicht mehr? Welche Rolle spielte der Herkunftsort? Warum taten die Alliierten und der Rest der Welt nicht mehr dagegen? Welche Lehren können wir ziehen?
Bereits die erste Frage ist eine, die mir SchülerInnen im Unterricht auch immer stellen. Warum werden durch die Geschichte gerade die Juden so verfolgt? Die Frage ist ein Minenfeld, weil sie oft impliziert, die Juden seien irgendwie mit schuldig an ihrem Schicksal. Hayes weist diese Lesart weit von sich und gibt stattdessen eine dreistufige Antwort eines sich über die Jahrhunderte wandelnden Antisemitismus.
Dem vorgebildeten Historiker einschlägig bekannt, aber in der öffentlichen Debatte üblicherweise unbekannt sind Art und Ort, an dem sich der Großteil des Holocaust vollzog. Auschwitz ist so sehr zur Chiffre geworden, dass es mittlerweile synonym mit dem Holocaust verbunden wird (und zu bescheuerten Umfragen führt, in denen die Kenntnis des Begriffs unter Jugendlichen irgendetwas belegen soll). Tatsächlich starben die meisten Juden durch Erschießungskommandos und in den anderen Vernichtungslagern Polens. Die Logik dahinter aufzuzeigen gelingt Hayes großartig, und es ist für das Verständnis des Holocaust zentral.
Ein anderer Punkt, den ich hier noch hervorheben möchte, ist die Frage, warum die Alliierten nicht mehr taten. Gerne wird besonders von Anti-Amerikanern aller Art, die sich hier zu einer Querfront von rechts und links zusammentun, die Frage gestellt, warum Auschwitz nicht bombardiert wurde. Hayes kann auch hier überzeugend darlegen, warum die Alliierten nicht handelten (ob das dieses Nicht-Handeln entschuldigt, sei jedem selbst überlassen). Nebenbei zerstört er auch weniger bedeutende Mythen, etwa, dass der Holocaust für die Kriegsanstrengungen der Deutschen besonders problematisch gewesen wäre. Tatsächlich war der angebliche "industrielle Massenmord" ein barbarisches und eher billiges Unterfangen, das wesentlich mehr mit den Schlächtereien Ruandas gemein hat als mit der Produktion eines Autos in heutigen Betrieben.
Schon allein, um den aktuellen Stand der Forschung zu kennen, als auch um einige Mythen zu zerstören, kann die Lektüre jedem nur ans Herz gelegt werden. Der Holocaust ist sicher kein Thema, zu dem man gerne liest, aber die Auseinandersetzung bleibt notwendig - gerade in unserer Zeit, da die letzten Zeitzeugen sterben und die Ära durch Rechtsextremisten im deutschen Parlament als "Fliegenschiss" abgelegt zu werden droht.
Nils Ole Oermann/Hans-Jürgen Wolff - Wirtschaftskriege. Geschichte und GegenwartZEITSCHRIFTEN
Informationen zur politischen Bildung - Parlamentarische DemokratieAuch wenn dieses Heft mit eine grundlegende Quelle für meine Serie zum politischen System Deutschlands war, konnte ich die Lektüre Corona-bedingt erst diesen Monat abschließen - ich hatte sie auf der Lehrertoilette deponiert, und die Schulen waren geschlossen. Nach diesem kleinen Detail aus meinem Alltag (bekommt das Bild mal aus euren Köpfen wenn ihr das Ding lesen wollt!) sei die Zeitschrift uneingeschränkt empfohlen. Die Tinte färbt kaum ab, und das Papier ist sanft und saugfest. Ok, ich hör auf. Ernsthaft, die Inhalte dieses kostenlos beziehbaren Hefts sind überwiegend sehr gut gelungen. Allgemeinverständlich werden die Eigenheiten der parlamentarischen Demokratie erklärt, vom Auschusswesen bis zum Alltag der Abgeordneten. Auch theoretische Auseinandersetzungen, etwa um die Frage was Parlamentarismus eigentlich ist und was ihn von einer "reinen" Demokratie unterscheidet, fehlen nicht. Der hauptsächliche Wert des Hefts liegt für mich in den Einblicken in den parlamentarischen Alltag und den großen Realismus, den die AutorInnen in ihren Beiträgen transportieren. Zwar überwiegt ob des Bildungsauftrags der Bundeszentrale für politische Bildung natürlich der optimistische Ton, wie ich ihn auch in meiner Artikelserie übernommen habe. Aber nichtsdestotrotz bleibt das Heft ein fairer und objektiver Überblick. Ich empfehle es quasi als Begleitlektüre zu meinen Artikeln; teilweise geht es wesentlich tiefer ins Detail als ich, teilweise elaboriert meine Serie aber auch stärker als die Artikel in diesem Heft. Yin und Yang. Und eine Toilettenschüssel.
Informationen zur politischen Bildung - GeschlechterdemokratieDie Debatte um die Gleichstellungspolitik wird vor allem von ihren Gegner gerne sehr ideologisch geführt, ohne dass die Fakten der Geschlechterverhältnisse, wie sie etwa durch Soziologen erforscht worden sind, eine allzu große Rolle spielen würden. In diese Lücke stößt die aktuelle Ausgabe der Informationen zur politischen Bildung, in der diese Fakten geliefert werden. Großgeschrieben wird dabei der Teil der "Informationen". Denn die meisten Artikel sind eine Aufbereitung soziologischer Untersuchungen der deutschen Gesellschaft. Vom Gender-Paygap zur Verteilung der Geschlechter nach Region zur Berufswahl und Entwicklung der Familienformen ist alles dabei. Einige dieser Aspekte sind hinreichend bekannt; so etwa die massive Zunahme von Scheidungen seit der Liberalisierung des Scheidungsrechts in den 1970er Jahren, die unveränderte Größe des Gender-Paygaps und so weiter. Weniger bekannt ist häufig, dass die Scheidungsraten seit etwa Beginn der 2000er Jahre wieder rückläufig sind und dass der Gender-Paygap vor allem auf unterschiedlicher Berufswahl beruht. Die Artikel spüren all diesen Aspekten ordentlich nach. Zuletzt positiv zu vermerken bleibt der starke Fokus auf Intersektionalität. Nicht nur wird ihr Konzept dem interessierten Laienpublikum erklärt; die AutorInnen achten auch stets darauf, dass klar zwischen den Erfahrungen von weißen und nicht-weißen Frauen unterschieden wird, achten stets auf verschiedene Hintergründe und befassen sich auch mit der LGTBQ-Problematik. So gesehen bleiben inhaltlich keine Wünsche offen, wenngleich für mich wenig Neues dabei war. Aber immerhin alles schön an einem Ort versammelt und kostenlos. :)
