Zusätzlich zu diesem fantastischen Element gibt es noch eine Reihe weiterer. Die Hauptperson ist ein zwölfjähriges Mädchen, Lyra Belacqua, der standesgemäß eine Prophezeiung vorhersagt, die Geschicke der Welt nachhaltig zu verändern. Das weitere Personal umfasst sprechende, gepanzerte Bären und Hexen.
Aber der Roman weist deutliche Grenzen auf. Die auktoriale Erzählperspektive etwa sorgt für eine große Distanz zu den handelnden Figuren, die zudem sehr auf ihre Plotfunktionen beschränkt und recht eindimensional bleiben. Zudem sind die Dialoge oftmals eher Monolog-Wechsel als echte Gespräche; selten hat man das Gefühl, dass hier echte Menschen reden. Pullman hat außerdem die Neigung, diese Monologe für ausuferende Exposition zu nutzen, was den Lesefluss zusätzlich hemmt.
Ebenfalls den Eindruck trübend sind manche Elemente des world building. So schmeckt der Versuch des Königs der Panzerbären, menschenähnlich zu werden, indem er Parfüm über Haufen von Dung sprühen lässt und der nur durch den tapfer-aggressiven, traditionell maskulinen Bären besiegt werden kann, ebenso befremdlich wie die hervorgehobene Stellung der Sinti und Roma, die sich als wertvolle Verbündete Lyras erweisen - was einen ganz eigenen Unterton bekommt wenn man später feststellt, dass Lyra sich bei ihnen nie wäscht, weil man das dort offensichtlich nicht tut. Derartige Elemente gibt es viele.
Nein, mein Fazit ist, dass das Buch eher mittelmäßig ist. Die Schwächen seines Aufbaus ziehen sich übrigens auch in die HBO-Adaption, die - nicht eben zum Gewinn des Mediums - die Expositions-Monologe oft genug wörtlich übernimmt. Immerhin wurde auf mehr Diversität und auf das Streichen einiger der krassesten Klischees geachtet.
Die Einführung eines neuen Hauptcharakters neben Lyra, der wenig eigene interessante Züge aufweist, hilft der Struktur hier auch nicht übermäßig, ebenso wenig die noch gesteigerte Bedeutung von langen Monologen, in denen erklärt wird, was für tolle Dinge passieren oder früher passiert sind. Über größere Strecken liest sich das weniger als Roman denn als Hintergrundband oder etwas in der Art.
Die Geschichte selbst vermag genug Interesse und Spannung zu erwecken, um mich wenigstens neugierig auf das Finale zu machen, aber ich habe kein Interesse an den Charakteren. Und das ist für jede Geschichte ein echtes Problem. Ob Will Erfolg hat oder nicht, ob Lee Scoresby zurückkommt - mir egal, diese Leute bedeuten mir nichts. Was sie tun oder lassen, wird von der Story diktiert, nicht von ihrem Charakter. Sehr bedauerlich.
Das führt auch zu einer weitgehenden Entkernung der Charaktere selbst. Will ist ein Kämpfer. Lyra ist eine Prophetin. Und so weiter. Das Problem damit ist, dass sie so zu reinen Vehikeln eines erbarmungslos voranschreitenden Plots werden, in dem sie Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen, die zwar in dessen Gesamtkonstrukt passen, aber weitaus mehr ihrer Funktion als ihrer Person geschuldet sind.
Gleiches gilt für den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten. Es bleibt etwa den kompletten Roman unklar, warum ausgerechnet Lord Asriel die Rebellion der Engel und mehrer Dimensionen anführt. Oder warum welche Dimension an der Rebellion teilnimmt (man würde annehmen, dass die Waffen unserer eigenen Welt in einer Steampunksphäre durchaus attraktiv sein sollten...). Oder wie genau Mrs. Coulter die Leute um sich herum täuscht. Jeder Charakter hat übermenschliche Fähigkeiten, die einfach akzeptiert werden müssen. Sie sind durch die Handlung und das Schicksal bestimmt.
Dadurch liest sich der Roman allzu häufig wie eine Inhaltsangabe, die zufällig Dialoge enthält. Echte Spannung oder Empathie kommen nicht auf. Angesichts des Fokus' des Romans ist das auch nicht ganz so dramatisch, wie man denken könnte; Pullman benutzt das Romanformat letztlich vor allem als Vehikel, um diverse Ideen über das Bewusstsein, die Natur Gottes und des Universums und des menschlichen Schicksals unterzubringen. "His Dark Materials" ist daher eher dem Science-Fiction-Genre verbunden, das allzu oft an einer ähnlichen Problematik krankt (man denke nur an "Dune"...), als der traditionell eher charakter- und geschichtenverbundenen Fantasy.
Ein Höhepunkt des Romans ist Lyras und Wills Besuch im Land der Toten; hier kommen genuin Spannung, Empathie und Interesse auf, hier scheint das Werk am meisten zu sagen zu haben, die aufregendsten Ideen zu entwerfen. Leider kann der Rest des Werks mit diesem Höhepunkt nicht mithalten. Letztlich bleibt die Lektüre damit eine eher frustrierende Erfahrung.
Pointiert müsste man feststellen, dass das möglicherweise auch für die Moderne selbst gilt. Das Bild, das Marr vom Edward'schen England vor dem Ersten Weltkrieg zeichnet, spricht jedenfalls deutlich dafür, auch wenn der Autor selbst dies gar nicht so zu sehen scheint (wie so viele britische Historiker ist Marr wesentlich zu vernarrt in die Idee des jolly-good- Englishman, der ein good sport ist). Das England dieser Tage hinkt im Lebensstandard weit hinter Kontinentaleuropa zurück. Was ich so faszinierend wie erschreckend fand ist, wie wenig dies den Zeitgenossen bewusst gewesen ist - und wie es kurz vor dem Ersten Weltkrieg bekannt wird, dessen Energie dann die Grundlagen des britischen welfare state legt; ein Erbe, das dank des Wechsels zu konservativen Regierungen ab 1919 erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingelöst werden würde.
Eher problematisch bei der Lektüre sind die typischen Schlagseiten britischer Geschichtsschreibung. Auch Marr kann sich einer Verklärung des britischen Nationalcharakters, in dem selbst die Ärmsten am abend fröhlich Lieder im Pub singen und im Zweifel für Königreich und Vaterland einstehen auf der einen Seite genauso wenig entziehen wie auf der anderen Seite der Betrachtung Winston Churchills als einer Art Halbgott. Stets werden wir auf dem Laufenden gehalten, was Churchill gerade tut, während gleichzeitig angenommen wird, dass wir mit dessen Biographie so grundlegend vertraut sind, dass Anspielungen darauf ausreichen. Es ist eine sehr merkwürdige Melange an Präkonzepten, die Marr seinem Publikum an dieser Stelle abverlangt.
Der schnoddrige Konservatismus Marrs wird unerträglich, wenn es an die frühen 1930er Jahre geht. Nicht nur ergeht er sich endlos in widerlichem Klatsch über Aristokratenfamilien - ein pädophiler Serienvergewaltiger-Lord wird als "busy fellow" ironisiert -, er framed auch noch alles durch deren Sichtweise, die er offensichtlich teilt. Gewerkschaftler sind in dieser Darstellung gefährlicher als Edward Mosley, für den er unendlich mehr Sympathie aufbringt als für die hungernden Massen, hat der Faschist doch, wie wir erfahren, eine Tochter Lord Curzons geheiratet, und der saß immerhin im House of Lords. Diese typisch britische Oberlippen-Arroganz ist umso schlimmer, als dass Marr recht hat, wenn er uns überheblich wissen lässt, dass die stabile britische Gesellschaft anders als Deutschland nicht dem Faschismus verfiel. Man sollte allerdings nicht glauben, dass das wegen der Leute so war, die Marr so vergöttert, was selbst dem Autor klar ist: Er verweist nicht ohne inneres Schaudern darauf, dass ein deutscher Sieg 1940 auf genug potenzielle Pétains oder Quislings hätte zurückgreifen können, die sich aus der britischen Aristokratie rekrutierten.
Auch andere Schattenseiten werden bei ihm eher als Hofklatsch oder unterhaltsame Anekdoten präsentiert. Dass etwa die Daily Mail bereits in den 1920er Jahren rechtsradikale Politik macht und das Parlament maßgeblich beeinflusst, empfindet er als vernachlässigbar; umso strenger geht er dafür mit den streikenden Gewerkschaftlern ins Gericht. Ebenso misst er Ghandis Auftreten in der britischen High Society (ohne passende Kleidung, how shocking) mehr Bedeutung bei als der grausamen kolonialen Politik, deren Realitäten allenfalls in Nebensätzen ihren Niederschlag finden.
Das Buch endet dann, wie könnte es auch anders sein, in "Britain's finest hour", dem Zweiten Weltkrieg. Hier wird erneut eine große Schwäche von Marrs Ansatz deutlich. Es ist nicht, dass er nicht über die oft wiederholten Narrative hinaussehen könnte, die Legenden britischer Geschichtsschreibung. Er räumt diesen Legenden nur einen unironischen, breiten Raum ein - nur um danach in zwei Nebensätzen festzustellen, dass das alles natürlich eigentlich so nicht war. Nur diese Nebensätze gehen im Rauschen der glorreichen Britannia-Geschichtsschreibung allzu oft unter. Ein distanzierterer, nüchternerer Blick wäre ebenso angeraten gewesen wie eine verringerte Konzentration auf die Großen Männer der Geschichte und stattdessen eine genauere Betrachtung der strukturellen Dynamiken, die diese Akteure meist bestimmten.
Die Besonderheit des Romans liegt in seinen Protagonisten: Der rationale Wissenschaftler Erso wäre eher in Star Trek zuhause, während Krennic ein karrieristischer Militärbürokrat ist. Normalerweise ist Star Wars ja eher im Science-Fantasy-Genre zuhause, mit mystischen Jedi-Rittern und dergleichen. Hier geht es deutlich mehr um Politik und Forschung. Gleichzeitig reden wir natürlich immer noch von Star Wars, also einem Universum, das, konsequent zu Ende gedacht, nur sehr eingeschränkt viel Sinn macht. Jede politische Geschichte in einem solchen Universum muss also sehr schnell an ihre Grenzen kommen.
Und so ist es auch hier. Wenngleich der Roman durchaus interessant ist und einige wertvolle Perspektiven auf die Geschehnisse der Originalfilme eröffnet, bleibt alles etwas unterentwickelt. In was man nur als eine abgelutschte Science-Fiction-Klischeemarotte beschreiben kann wird die Brillanz Ersos vor allem dadurch deutlich, dass er praktisch magische Kräfte im Verständnis der Mathematik hat, die sich vor allem im wilden Beschreiben von Wänden mit wirren Formeln ausdrücken, die außer dem brillanten Wissenschaftler niemand lesen kann. Gleichzeitig erfahren wir, wie anziehend und gutaussehend er ist; wir wollen ja schließlich keinen Hauptcharakter, der nicht gleichzeitig auch als Actionheld doublen könnte. Der Versuch, seiner Frau Lyra mehr Personalität als im Film zu geben und sie als eine Art Star-Wars-Version von Indiana Jones aufzubauen misslingt kläglich und endet in diversen Gender-Klischees, sobald sie (wiederholt...) Leben und Karriere abwechselnd für ihren Mann und ihr Kind Jyn opfert.
Auch Krennic bleibt als Charakter leider vor allem eine verpasste Chance. Er macht keine Entwicklung durch und ist zu Beginn des Romands genauso ehrgeizig, intrigant und bereit über Leichen zu gehen wie am Ende, nur dass er als Imperialer eine coolere Uniform hat. So bleibt der Roman eher im Bereich des world building interessant und um der Rogue-One-Geschichte mehr Kontext zu geben (was, spannend genug, oftmals die Originalgeschichte verbessert). Die Charaktere bleiben leider durch ihre jeweiligen Schauspieler Mendelson und Mikkelsen definierter als durch den kompletten Roman.