Viele Menschen schwören mittlerweile darauf einen Film oder ein Buch in der jeweiligen in Originalsprache zu genießen. Meist weil sie die Sprache jeweils so genau wie möglich aufnehmen wollen, ohne den Mittler der Übersetzung.
Die Rolle eines Übersetzers steht auch formal in Peter Manseaus Roman „Die Bibliothek der unerfüllten Träume“ zur Diskussion.In der Hauptsache wird die Geschichte des jüdischen Dichters Itsik Malpesch dargestellt. Erzählt wird sie von seinem (fiktiven) Übersetzer, der Malpeschs Geschichte aus dem Jiddischen ins Englische übersetzt. Im Buch wechseln sich die Passagen ab. Je nach Kapitel erzählt entweder der Übersetzter einen Teil seines Eigenen oder einen Teil von Malpeschs Leben.
Doch der Bericht über die Kindheit/Jugend des Dichters in Russland sowie die Emigration in die USA sind eigentlich nicht mehr als der Träger von etwas anderem, von etwas tieferem. Eigentlich versucht Manseau in seinem Roman die Bedeutung und den Einfluss der Sprache im Kontext zur eigenen Identität zu zeigen.
Besonders im ersten Teil des Buches nimmt dieses Thema viel Raum ein. So wächst der junge Itsik Malpesch in relativ guten Verhältnissen in Russland auf. Die Familie genießt, trotz ihrer jüdischen Verwurzelung, Respekt und Ansehen sowohl unter den russischen als auch unter den jüdischen Einwohnern. Ein Fakt der zu Beginn des 20. Jahrhunderts offenbar noch nicht selbstverständlich war.
Doch durch das Fehlverhalten von Itsik ändert dieser allerdings das Familienschicksal und damit sein eigenes schlagartig. Er muss Stadt & Familie verlassen und bricht zu einer quasi unendlichen Reise auf. Gepäck hat er nahezu keines bei sich, außer etwas sehr wichtigem. Er hat seine Sprache, das Jiddische, bei sich.
Schon vor seiner „Flucht“ hat er sich zunehmend für Bücher, Geschichten und die Sprache begeistern können. Damit gerüstet macht er sich nicht nur auf den Weg, sondern fängt auch an eigene Verse und Gedichte nieder zu schreiben.
Manseau nutz gerade in diesem Teil der Geschichte die Präsenz von Sprache um in ihr eine Art Heimatbegriff zu definieren. Die Sprache wird zum Zufluchtsort in der Ferne, in den vor allem Erinnerungen, aber auch Identifikation und Zusammengehörigkeit hinein projiziert werden. Das Ganze spitzt sich in dem Roman mehr und mehr zu, bis schließlich zwischenmenschliche Beziehungen für den Protagonisten an Wichtigkeit verlieren und rein die Sprache und deren Schönheit den Lebensmittelpunkt bestimmen. Gleichzeitig kommt der Sprache auch eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung zu. Sie bestimmt gerade im Milieu der Migranten die soziale Stellung und die Aufstiegsmöglichkeiten.
Die, für Malpesch „alte Sprache“ öffnet ihm zwar zunächst einige Türen und ermöglicht ihm Fuß zu fassen, aber um dauerhaft gesellschaftlich akzeptiert zu werden muss er sich weiterentwickeln, neues lernen und bereit sein auf seine „alte“ Sprache ein Stück weit zu verzichten. Denn das Buch ist derart angelegt, dass sich jene, die sich in einer neuen Umgebung bewehren / durchsetzen wollen sich sprachlich wie auch geistig weiterentwickeln müssen. Mit dieser Realität hatte Itsik Malpesch lange zu kämpfen und hat sich lang an seine Vergangenheit und vor allem die Sprache geklammert.
Noch einmal deutlich manifestiert sich das als er seinen Übersetzer kennen lernt, in dem er mit ihm versuch die sogenannte „Bibliothek der unerfüllten Träume“ zu retten. Eine Sammlung von Büchern, die Migranten gleich nach ihrer Ankunft abgegeben haben um sich von deren „Ballast“ zu befreien und frei für den Start in ein „neues“ Leben zu sein…Malpesch konnte einen solchen Schritt nie tun…
Rein technisch gesehen ist das Buch sehr flüssig geschrieben und die Geschichte hält gerade im letzten Teil einiges an Dynamik und Dramatik bereit. Im Lauf der Geschichte wird der Anteil von Kapiteln mit Malpeschs Geschichte deutlich höher und der seines Übersetzers entsprechend geringer. Mit dem zunehmenden Verlauf wird die Geschichte allerdings auch zunehmend abgedroschener. Während am Anfang noch der interessante Zugang zur Sprache als Verwurzelung der eigenen Identität verfolgt wird, driftet die Geschichte ab circa der Hälfte der Seiten in Klischees und teilweise bekannte Situationen ab. Das Ganze wird mehr und mehr zu einem gefühlsschwangeren Unterhaltungskitsch, der weit weg von einer tieferen Orientierung ist.
Leider hinterlässt das Buch dadurch einen abgedroschenen, langweiligen Eindruck und kann die durchaus positiven Gedankenfetzen zur Sprache und ihrer Bedeutung nicht voll entwickeln. Das Buch bleibt ein Versuch, der im Ansatz stecken bleibt weshalb ich es nicht uneingeschränkt empfehlen möchte.