Fliegende Autos, sprechende Computersysteme, Mensch-Maschinen…so kommen wohl einige Zukunftsvisionen daher. Doch Jochen Schimmang rückt in seiner Zukunftsutopie Neue Mitte etwas ganz anderes, etwas eher altmodisches in den Vordergrund. Eine Bibliothek nämlich. Und zwar eine ganz klassische Bibliothek, weder mit elektronischen Büchern, noch mit sprechendem Computerpersonal.
Angelegt ist die Handlung in der Umbruchphase des deutschen Staates im Jahr 2030. Nach dem Zusammenbruch der Demokratie hat zunächst eine Militärjunta die Staatsführung übernommen und das Land an den Abgrund geführt. Der Sturz dieser diktatorischen Herrschaft gelang unter Führung einer Internationalen Koalition, welche in der Phase danach zunächst die Führung des Staates übernommen hat bis es zu Wahlen und der Wiedereinführung eines demokratischen Systems kommt.
In dieser Zeit des Umbruchs spielt die Geschichte des vorliegenden Romans. Im heruntergekommenen ehemaligen Machtzentrum der Militärherrscher hat sich mittlerweile ein kleine Gruppe Menschen angesiedelt um dieses Gebiet durch kleine Geschäfte, Restaurants, Kinos, eine Bibliothek und andere Einrichtungen wieder für die Gesellschaft zugänglich zu machen. Stück für Stück wird die teils bedrohliche Kulisse wieder mit Leben und vor allem mit Kultur gefüllt.
Eine zentrale Rolle nimmt dabei der Aufbau einer Bibliothek im ehemaligen Machtzentrum ein. Dort wo bisher Unkultur und Diktatur herrschten wollen nun der Bibliothekar Sander und Ulrich, sein Freund aus Studientagen, einen Ort der Kultur und des Gemeinwohls einrichten. Doch sind sie nicht die einzigen, die dieses scheinbar verbotene Territorium im Herzen der Hauptstadt in Beschlag nehmen und sozusagen rekultivieren. Während die beiden mit stoischer Geduld Bücher zusammensuchen, sortieren und katalogisieren werden andernorts Restaurants, Firmen, ein Retrokino sowie ein Garten eingerichtet. Interessant ist, dass in der Zukunft (des Autors) Dinge in den Mittelpunkt gerückt werden, die schon in dieser Gegenwart den Schein des Vergangenen haben. So legt man Wert auf das gedruckte Wort, einen sauber gepflegten Garten und Kinofilme auf Zelluloid.
Andererseits projizieren die handelnden Personen mehr oder weniger ihre eigenen Lebenserfahrungen auf die Situation. Die meisten von ihnen sind mindestens im mittleren Alter bis hohen und bekommen die einmalige Chance etwas (Größeres) zu gestalten und aufzubauen.
So mäandert die Handlung durch diese Aufbauphase, welche mit der Bibliothekseröffnung ihren Höhepunkt finden soll. Die Personen bilden durch ihre gemeinsamen Anstrengungen schnell eine Gemeinschaft mit durchaus elitärem Anspruch. Jeder neue Bewohner, jede neue Geschäftsidee von Personen außerhalb dieses Kreises wird argwöhnisch manchmal sogar missbilligend betrachtet. Nach und nach bauen damit alle, im Besonderen aber Ulricheine Angst vor dem Ende ihrer selbstbestimmten Isolation auf. Es ist die Angst vor dem Ende ihrer Gemeinschaft und der Ziellosigkeit die daraus folgen wird. Nahezu alle haben sich derart im Projekt der neuen territorialen Mitte engagiert, dass eine Teilnahme an der neuen gesellschaftlichen Mitte für kaum einen möglich scheint. Für viele war das Projekt ein letzter Strohhalm aus einem bisherigen Lebensweg oder schlichtweg die letzte Lebensaufgabe, welche unaufhörlich dem Ende zugeht.
Am Ende des Romans muss man eines feststellen: Es wird eine Utopie aufgebaut und es geht um die Zukunft. Aber es geht weder um Science Fiction noch um eine schöne neue Welt. Jochen Schimmang entwickelt vielmehr eine dunkle Fortsetzung unserer heutigen Gesellschaft. Er entwickelt eine Gesellschaft, welche scheinbar in einem Zeitraum von 20 bis 30 Jahren keinerlei Weiterentwicklung erlebt. Bis auf wenige (technische) Neuerungen beschränkt sich diese Gesellschaft auf die Verwaltung der Gegebenheiten. Genau dieser Fakt muss auch der deutlichste Kritikpunkt an Schimmangs Utopie sein. Zwar ist es verständlich, dass gerade starke politische/kriegerische Auseinandersetzungen eine Gesellschaft bremsen. Allerdings vermittelt diese dargestellte Gesellschaft außer einem Grundpessimismus keinerlei Entwicklung oder gar Innovation. Es findet eine Fixierung auf das Alte, das scheinbar Beständige statt. Selbst der kleinste Ansatz von Fortschritt wird mit befremdlichen Motiven belegt und eine entsprechende Diskussion findet gar nicht erst statt. Natürlich ist es lobenswert die Kultur und die Bewahrung derer als gesellschaftlich relevante Aufgabe zu sehen, aber die reine Restriktion auf das Bewahren ist alles andere als förderlich. Das offene Ende des Romans gibt zumindest die Hoffnung auf weiteren Gestaltungsspielraum des Lesers.
Ein Frage stellt sich allerdings noch: Wäre es erneut möglich, dass sich eine scheinbar weit entwickelte Gesellschaft aufgrund von einem breiten Desinteresse an Politik, den medialen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung und der fortgeschrittenen Technologie von einem Herrscher oder einer herrschenden Klasse verführen lässt? Auch wenn es aus Sicht des Autors in diesem Roman wohl möglich ist, bleibt diese Frage durchaus im Raum stehen. Denn eine derartige Verführung muss nicht unbedingt von politischen Kräften ausgehen…
Alles in allem gibt der Autor mit seinem Roman interessante Perspektiven auf die Entwicklung unserer Gesellschaft und stellt wichtige Fragen in diesem Zusammenhang. Leider kann die Geschichte dramaturgisch nicht überzeugen. Dem Leser werden allzu oft Erzählstränge nur so vor die Nase geschoben, sodass bald die Lust an der Geschichte schwindet. Auch ein derart komplexes Thema könnte man ansprechender formulieren. So bleibt ein fader Beigeschmack mit einer durchaus kritischen Zukunftsperspektive übrig.
Jochen Schimmang
“Neue Mitte”
256 Seiten
Edition Nautilus, 2011
ISBN: 978-3-894-01741-5