Buch Kritik: David Lagercrantz – Vernichtung: Manichäischer Kampf zweier Schwestern.

Buch Kritik: David Lagercrantz – Vernichtung: Manichäischer Kampf zweier Schwestern.

Die originäre Millenium-Trilogie von Stieg Larsson hat innerhalb der Welt der Krimi-Literatur Anfang 2005 mit Erscheinen des ersten Bandes Verblendung (schwedischer Titel: „Män som hatar kvinnor", frei übersetzt „Männer, die Frauen hassen") einen regelrechten Hype entfacht. Im Jahrestakt erschienen dann auch 2006 und 2007 die weiteren Bände Verdammnis und Vergebung, welche die Romanreihe zu einer Trilogie ausbauten (insgesamt sollten planmäßig 10 Bände erscheinen). Stieg Larsson hat von diesem Erfolg allerdings nichts mehr mitbekommen. Der schwedische Autor erlag am 9. November 2004 einem Herzinfarkt, der vermutlich in Folge eines ungesunden Lebensstil - Larsson rauchte bis zu 60 Selbstgedrehte am Tag und war notorischer Wenigschläfer - aufgetreten ist. Obschon einige Kritiker und auch redaktionelle Weggefährten ihm einen schlampigen und redundanten Schreibstil vorwarfen, wurde die Reihe ein voller Erfolg. Das lag m.E. vor allem an zwei Dingen: Trotz fehlender literarischer Finesse, sorgte der stark gesellschaftskritische und politische Unterbau, der thematisch und motivisch Kapitalismus, Misogynie und Rechtsextremismus in die Handlung einbettete, für eine leidenschaftliche Dringlichkeit. Mit dem Figurenduo um den charismatischen Investigativ Journalisten Mikael Blomkvist und die Asperger-autistische Hackerin Lisbeth Salander kreierte er dann auch zwei popkulturelle Archetypen, die perfekt in die kaputt-sterile Welt des 21. Jahrhunderts hineinpassten: Getrieben. Idealistisch. Zornig. Verwundbar - genau wie die Erzählung selbst. Mit den gelungenen schwedischen Filmadaptionen konnte man die beiden Figuren hervorragend mit dem mittlerweile verstorbenen Mikael Nyqvist und Noomi Rapace besetzen und setzte das Material kongenial um. Auch das US-Remake zu Verblendung von Thriller-Experte David Fincher war wunderbar besetzt und glänzte mit betörend-unterkühlten Bildern - Rooney Mara ringte der Figur Salander das nötige Maß an Verwundbarkeit ab. Es gab zudem mehrere Graphic Novel-Interpretationen, die sich dramaturgisch und künstlerisch allerdings weitgehend an den Filmen orientierten. Kurzum: Die Welt lechzte nach Mikael und Lisbeth.

Und dieses Verlangen wurde bedient, als der schwedische Verlag Norstedts mit dem offiziellen OK der Larsson Erben (Vater Erland und Bruder Joakim) den Schriftsteller David Lagercrantz damit beauftragte, eine Fortsetzung zur Millenium-Reihe zu schreiben. Die wurde dann 2015 unter dem deutschsprachigen Titel Verschwörung (schwedischer Titel: Det som inte dödar oss, Was uns nicht tötet) veröffentlicht, basierte aber bekanntlich nicht auf den Manuskripten, die Larsson hinterlassen hatte. Angesichts der Platzierung in diversen Bestseller-Listen, wurde damit der Startschuss für eine neue Trilogie geliefert. 2017 erschien Verfolgung, 2018 wurde der Lagercrantz-Erstling von Fede Alvarez verfilmt und jetzt haben wir also seit August 2019 den finalen Band vorliegen: Vernichtung. Ein beinahe ebenso endgültiger Titel wie das schwedische Hon som måste dö, das so viel heißt wie „Sie, die sterben muss" - Kann also der abschließende Band eine zwar grundsolide, aber gleichermaßen unglaublich mediokre Trilogie auf befriedigende Weise abschließen? Das gilt es im Rahmen dieser Besprechung herauszufinden.

FOKUSSIERTER ALS DIE BEIDEN VORGÄNGER

Zunächst einmal eine Klarstellung - Ich bin ziemlich großer Fan der Original-Trilogie, sowohl der Filme- als auch der Bücher. Ich bin mir ihrer Schwächen zwar durchaus bewusst, aber gerade die Bücher fühlten sich, mit Blick auf Larssons Biographie, sehr aufrichtig an. Wenn er also Lisbeth Salander als kämpferisches Tank Girl inszenierte, die dem Patriarchat einen grausamen Kampf angesagt hat, dann fühlte sich das definitiv biographisch verortet an. Wenn die Figur Mikael Blomkvist den dubiosen Machenschaften von Großindustriellen und Wirtschaftslobbyisten auf die Finger schaut, dann fühlte es sich tatsächlich so an, als sei das ein Kommentar Larssons zur Natur des Kapitalismus in westlichen Industriegesellschaften. Seine politische Positionierung als Kommunist und seine Tätigkeit als Begründer des EXPO-Magazins schuf also eine Authentizität beim politischen Subtext.

Die fehlte mir bei den Lagercrantz-Büchern immer ein wenig. Jedes Buch griff jeweils ein aktuelles politisch brisantes Thema auf: Bei Verschwörung war es etwa die NSA-Affäre- aber auch die Risiken von KI-Forschung. Verfolgung dreht sich partiell um das Gefängniswesen in Schweden aber auch um patriarchale Strukturen in muslimisch geprägten Milieus. Vernichtung wiederum greift immer wieder die aktuell nach wie vor präsente Fakenews-Problematik im Kontext von populistischen Bewegungen auf. Da die Figur Mikael nach wie vor als angesehener Journalist eines angesehenen Polit-Magazins unterwegs ist, gehört es offenkundig auf die Checklist, dass es zwangsläufig eine politisch getriebene Nebenhandlung geben. Nur wirkt das bei Lagercrantz eben wesentlich konstruierter als bei Larsson. Dennoch ist Vernichtung fokussierter als seine beiden Vorgänger - denn als Abschluss der zweiten Trilogie ordnet er die Politik dem Figurengespann Mikael und Salander unter, forciert den Showdown von in den Vorgängerbänden angelegten Konflikten und spannt zugleich mehr als zuvor den Bogen zur alten Larsson-Trilogie. Das macht Vernichtung m.E. zum besten Band der Lagercrantz-Fortsetzungen. Wo die beiden Vorgängerbände nämlich mitunter recht dröge geraten sind, und ihre konstruierten Handlungsbögen nicht zu kaschieren vermochten, nimmt Vernichtung gerade im letzten Drittel richtig Fahrt auf.

A TALE OF TWO SISTERS

Vernichtung folgt bezüglich der Handlung einer ähnlichen Struktur wie die beiden Vorgänger - Es werden zwei vermeintlich autonome Handlungsstränge entfaltet, die sich an einem schmalen Punkt überlappen.

Als ein obdachloser Sonderling eines Tages in der Nähe des Stockholmer Mariatorget verstirbt, nimmt davon zunächst einmal niemand so wirklich Notiz. Zwar schien der „Zwerg", der quasi aus dem Nichts in Stockholm auftauchte, für einen typischen Wohnungslosen bemerkenswert erhaben, aber ansonsten wies alles darauf hin, dass er dennoch einer klassischen Alkoholvergiftung erlegen zu sein schien. Nur die Gerichtsmedizinerin Fredrika Nyman scheint bei der Obduktion mehr in dem Leichnam des Mannes zu sehen, dessen vernarbter und ausgezerrter Körper von massiven Anstrengungen gezeichnet ist, die er wohl zeitlebens erfahren hatte. Da der Mann in keiner Datenbank registriert war und lediglich eine Telefonnummer des Millenium-Journalisten Mikael Blomkvist bei sich hatte, beschließt Fredrika diesen in Ermangelung sonstiger Hinterbliebener anzurufen.

Mikael wiederum ist auf der Suche nach seiner alten Weggefährtin Lisbeth, die zwischenzeitlich unbekannt verzogen ist und jegliche Kontaktanfragen von seiner Seite ignoriert. Lisbeth befindet sich just zu diesem Zeitpunkt in Moskau, wo sie den Dämonen ihrer Vergangenheit hinterherjagt und konkret die Ermordung ihrer Zwillingsschwester Camilla plant, die bekanntlich in die Fußstapfen des kriminellen und übergriffigen gemeinsamen Vaters Zalatschenko getreten ist und dessen GRU-Verbindungen- und Ressourcen nutzt, um unerbittlich Jagd auf Lisbeth zu machen.

Die Geschichten überschneiden sich ab dem Zeitpunkt, als sich herausstellt, dass der Obdachlose ein nepalesischer Sherpa mit einer seltenen DNA-Struktur war, die das Zurechtkommen in hohen Lagen möglich macht, und sich von zentraler Bedeutung für eine verhängnisvolle Mount Everest-Expedition entpuppt hatte, an welcher Verteidigungsminister Johannes Forsell und eine Reihe weiterer wichtiger Persönlichkeiten teilgenommen haben, die aber desaströs mit mehreren Toten geendet ist.

Forsell wiederum ist das Opfer einer russischen Desinformationskampagne, die tatsächlich gewissermaßen auch GRU-Organe mit involviert und die ihn beinahe an den Rand des Verderbens bringt. Inmitten dieser Irrungen und Wirrungen zielen Camilla und ihre Schergen auf Lisbeths naheste Bezugspersonen ab, sodass Mikael unmittelbar zur zentralen Zielscheibe wird. Der manichäische Kampf der zwei Schwestern kulminiert schließlich in einem brachialen Showdown.

VON HÖLZERNER EROTIK UND COLD WAR-NARRATIVEN

Während der Handlungsstrang um den identitätslosen Sherpa anfangs schwer in die Gänge kommt, zieht der Roman spätestens ab der Hälfte in Sachen Tempo und Intensität deutlich an. Es werden gleichermaßen extrem viele Dinge verarbeitet, die zu aktuellen medialen Tropen gehören. Fakenews, Handelskriege, Desinformationskampagnen, russische Einflussnahme - Vernichtung bedient ganz klar ein Narrativ, das den erweiterten Kalten Krieg als globalpolitische Realität begreift. Das sorgt als Rahmen zwar für genügend Suspense, wirkt aber stellenweise ungelenk bis unbeholfen.

Es ist aber schön, dass Lagercrantz den Bogen zurückspannt und einige klassische Charaktere wiederbelebt - Die SÄPO-Ermittlerriege um Bublanski und Sonia Modig etwa bekommt ein wenig mehr Raum als in den Bänden zuvor, der planlos-chauvinistische Hans Faste wird zumindest als kleiner Side Gag erwähnt - und auch die von Lagercrantz mit Verschwörung eingeführten Spiders - also Camilla und ihre linke und rechte Hand Jurij Bogdanov und Ivan Galinov bekommen im Finale nochmal ausreichend Präsenz. Durch den Spagat zwischen alter und neuer Trilogie fühlt sich Vernichtung mehr nach literarischem Erbe an, als nach einem gewöhnlichen Thriller, der einfach nur die kultigen Figuren irgendwie verwurstet.

Zwar fehlt zum Schluss ein wenig die nötige Konsequenz, aber dennoch ist der Band in seiner düsteren und definitiven Ausrichtung spürbar kompromissloser als die eher laschen Lagercrantz-Vorgänger.

Das gilt hingegen nicht für alle Elemente des Romans: Waren sexuelle Handlungen bei Larsson noch relativ explizit, gleichen sie jetzt eher einem weichgezeichneten Rosamunde Pilcher-Roman, in dem sich die Begehrenden nach einem intensiven Disput plötzlich leidenschaftlich an die Wand drücken und mit brennenden Küssen übersähen. Und wenn dann Mikaels konservative Liebschaft Cathrin mal wieder ihre Pflanzen nicht gießen konnte, weil sie zu viele Nächte bei Mikael verbracht hat, dann kann man angesichts dieser latent sexistischen, vor allem aber schrecklich flachen Charakterisierung nur schlicht den Kopf schütteln. Auch die bislang recht stark gezeichnete Millenium-Chefredakteurin Erika verkommt hier zur weinerlichen Pomeranze, die sich um ihre „große Liebe" Mikael sorgt. Zweifelsohne war Mikael schon bei Larsson der superpotente Superheld, gleichermaßen abgebrüht und sensibel, dem die Frauenwelt zu Füßen lag, aber der Ideengeber hat es noch ein wenig raffinierter hingekriegt, zu kaschieren, dass dieser Aspekt einer reinen Männerfantasie entwachsen ist.

Ein weiterer Punkt, der zwar im Sinne des Fanservices eingebettet worden ist, mir aber nicht so recht gefallen wollte, ist Lisbeths kleine Affäre mit der deutschen Geo-Redakteurin Paulina. Paulina hat einen gewalttätigen wohlhabenden Ehemann und bricht erst durch ihre Romanze mit der verwegenen Lisbeth aus ihrem Kokon aus. Lisbeth revanchiert sich mit einer brutalen Attacke auf den übergriffigen Ehemann, in dem sie ihm bei lebendigem Leibe das Hemd anbügelt. Hier wollte man ganz klar an das Motiv des self-empowerten Racheengels anknüpfen, die ihrem Betreuer und Peiniger Nils Bjurman damals die Worte „Ich bin ein sadistisches Schwein und ein Vergewaltiger" eintätowiert hat. Wo Larsson diesen Akt aber als Zäsur in Lisbeths Charakterentwicklung markiert hatte, wirkt es bei Lagercrantz wie eine eher plumpe Reminiszenz, der die Handlung in keiner Weise voranbringt.

Atmosphärisch und stimmungsmäßig erreicht Lagercrantz zwar zu keinem Zeitpunkt die aufwühlende Stimmung der originalen Trilogie, aber der Showdown zum Schluss zwischen Camillas Schergen, die Mikael entführt haben, und einer knallharten Lisbeth fühlt sich sehr brachial, organisch und befriedigend an.

Sprachlich ist das Ding solide geraten - Das schnelle Pacing und die Montage wirkt naturgemäß sehr filmisch. Die Dialoge sind manchmal zwar recht flach geraten, aber dann wieder knackig genug, um drüber hinwegzusehen. Die Wortwahl ist zeitgemäß und umgangssprachlich, manches Mal, sobald es etwa um die Hacking-Prozesse geht, verliert sie sich aber im bedeutungsschwangeren Techno Babble. Und es gibt etliche Passagen, wo man bemüht bad-ass klingen will, die Nutzung der Anglizismen aber schlicht zur Lächerlichkeit verkommt. Da kommen dann sinngemäß so grausame Konstruktionen wie etwa „sie fühlte sich fucked up" ... einfach nein. Bei den betroffenen Passagen fragte ich mich, ob das Ganze im Schwedischen auch so ekelhaft klingt. Abgesehen von diesen seltenen Ausfällen liest sich der Roman aber flüssig und angenehm.

Fazit:

Vernichtung ist ein solider und befriedigender Abschluss der Millenium-Reihe, der durch mehr Intensität und höheres Tempo in der zweiten Hälfte mehr Unterhaltungswert bietet als die beiden eher mediokren Vorgänger. Durch den Umstand, dass das Duo Mikael und Lisbeth wieder stärker im gemeinsam geteilten Fokus steht, die alten SÄPO-Leute wie Bublanski und Sonia Modig ihre kleinen denkwürdigen Auftritte haben, und die Action kompromissloser wirkt, kommt signifikant mehr Millenium-Feeling auf als bei Verschwörung und vor allem Verfolgung, die eher dröge Angelegenheiten waren und wie mittelmäßige Stand-Alone-Thriller daherkamen. Zwar kommt Lagercrantz auch hier zu keinem Zeitpunkt an den dringlichen Vibe der Ur-Trilogie von Larsson heran, aber Vernichtung bereitet dennoch Spaß, wenn man von vereinzelten sprachlichen Grobheiten und flachen Charakterisierungsansätzen einiger Nebenfiguren absieht und ist ganz klar der beste Band der Lagercrantz-Bücher. Tatsächlich könnte ich mir zu Vernichtung auch wieder eine halbwegs vielversprechende Verfilmung vorstellen.

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