Britannien macht dicht

Junge Welt, 22.04.2013
Ex-Empire segelt im Schatten des Euro-Spektakels durch die Krise. Trotz Sozialkahlschlags droht erneut Rezession. Immigranten werden zum Feindbild erhoben

Es wird einsam um David Cameron. Bisher hat sich der konservative britische Premier beständig auf die Anregungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) berufen, um rigide Ausgabenkürzungen und Sozialstaatseinschnitte in Großbritannien zu legitimieren. Seit dem »Sparhaushalt« vom Juni 2010 habe der Premier den »Rückhalt durch den IWF betont«, erinnerte der britische Independent am 16. April. Nun jedoch habe der Fonds dem Regierungschef »seine Unterstützung entzogen«.
IWF-Chefökonom Olivier Blachard erklärte während einer Pressekonferenz am 15. April, Großbritannien müsse seinen Austeritätskurs – der Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen im Gesamtumfang von 130 Milliarden Pfund (152 Milliarden Euro) vorsieht – »anpassen«. Das Vereinigte Königreich sollte angesichts einer anämischen Konjunkturentwicklung verstärkt auf wirtschaftliche Stimulanzen setzen. In einer Art Doppelschlag reduzierte der IWF zugleich die Wachstumsprognosen für die britische Wirtschaft. Demnach soll das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr lediglich um 0,7 Prozent wachsen. Ursprünglich waren die Auguren des Fonds von 1,1 Prozent ausgegangen. Dies sei die schärfste Korrektur einer Wachstumsprognose durch den IWF unter »allen entwickelten Volkswirtschaften binnen der letzten zwei Jahre«, kommentierte die Zeitung The Telegraph. Somit handele es sich bei dieser Intervention um die bislang deutlichste Aufforderung an Cameron, zu einem wirtschaftspolitischen »Plan B« zu wechseln.

Dabei kann sich der Premier glücklich schätzen, daß sein insbesondere zu Lasten der Ärmsten gehender Kurs (siehe jW vom 5. April) Großbritannien nicht bereits jetzt in die dritte Rezession seit Ausbruch der aktuellen Weltwirtschaftskrise geführt hat. Nachdem das BIP im vierten Quartal 2012 um 0,3 Prozent schrumpfte, verzeichnete das statistische Amt in den ersten drei Monaten dieses Jahres ein minimales Wachstum von 0,1 Prozent – also quasi Stagnation. Laut der gängigen Definition befindet sich eine Volkswirtschaft erst dann in einer Rezessionsphase, wenn die Wirtschaftsleistung (BIP) über zwei aufeinanderfolgende Quartale zurückgeht.

Obwohl Cameron sich in einer ersten Stellungnahme gegen einen Kurswechsel aussprach, scheint die Regierung inzwischen dennoch einen »Plan B« in Kraft gesetzt zu haben, der es ermöglichen soll, trotz der austeritätsbedingten Nachfrageeinbrüche (allein die Sozialleistungen für Arbeitslose sollen laut Fiancial Times um 19 Milliarden Pfund jährlich beschnitten werden) eine Rezession zu vermeiden.

Die britischen Konservativen suchen die Lösung der Wirtschaftskrise gerade dort, wo diese ihren Ausgang nahm: auf dem Immobilienmarkt. Laut Branchenschätzungen soll der seit Krisenausbruch stagnierende Bereich in diesem Jahr erstmals wieder deutlich wachsen. Ausgegangen wird von einer Steigerung der Hausverkäufe um fünf Prozent – dies sei der »höchste Wert seit 2007«, bemerkte der Guardian. Im kommenden Jahr könnten die entsprechenden Transaktionen gar um 7,5 Prozent zulegen.

Diese Belebung im Immobilienmarkt, der abermals als eine Konjunkturlokomotive fungieren soll, wird durch etliche Regierungsprogramme befördert. So stellt die Bank of England (britische Notenbank) im Rahmen ihres Programms »Funding for Lending« interessierten Banken billig Geld zur Verfügung, um so den Markt zusätzlich zu stimulieren. Zudem sollen zwölf Milliarden Pfund an Steuergeldern dazu aufgewendet werden, neue Hypotheken im Gesamtvolumen von rund 130 Milliarden Pfund teilweise mit Staatsgarantien abzusichern. Dieser Kurs sei von zahlreichen Ökonomen kritisiert worden, bemerkte der Guardian weiter, da ein »erneutes Aufblasen der Hauspreise« gefährlich wäre angesichts der Hypothekenschulden aus den Boomjahren, unter deren Last noch viele Haushalte stöhnten.

Ein »unausgeglichenes Wachstum ist besser als gar kein Wachstum«, erklärte hingen ein Wirtschaftsanalyst gegenüber dem Blatt und verwies auf die fortgesetzten »Enttäuschungen auf den Exportmärkten«. Tatsächlich erscheint die erneute Hinwendung zum Immobiliensektor angesichts der desaströsen Entwicklung der britischen Leistungs- und Handelsbilanz für die Konservativen alternativlos. Das Leistungsbilanzdefizit des Vereinigten Königreichs entsprach 2012 mit 57,6 Milliarden Pfund rund 3,7 Prozent des britischen BIP. Es war der höchste Wert seit 1989. Maßgeblich verursacht wird das Minus dieser aggregierten Bilanz – die auch als Gradmesser der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft gilt – von der unausgewogenen Entwicklung des Außenhandels (die Handelsbilanz ist ein wichtiger Teil der Leistungsbilanz). Das Land führt mehr ein, als es ans Ausland verkauft. In der Folge schwillt das Handelsbilanzdefizit an. Es belief sich 2011 auf rund 100 Milliarden Pfund.

Das ehemalige Empire und einst erste entwickelte kapitalistische Land der Welt geht weiter den Weg der Deindustrialisierung. Deshalb stellen die unausgewogenen Bilanzen nur Symptome einer tiefen, strukturellen Krise der britischen Wirtschaft dar. Die Industrie insgesamt generierte 2012 noch 14,3 Prozent des BIP (in Deutschland sind es 26,2 Prozent), während das eng gefaßte verarbeitende Gewerbe sogar nur 9,4 Prozent zum Wirtschaftsausstoß beitrug. Auch fand in Großbritannien keine Erholung der Industrieproduktion nach dem Kriseneinbruch 2008 statt. Der saisonbereinigte Industrieproduktionsindex (ohne Baugewerbe) bewegt sich weiterhin knapp 17 Prozent unter dem Vorkrisenniveau.

Cameron scheint indes noch einen »Plan C« in der Schublade zu haben. Man werde verstärkt gegen »illegale Arbeitsmigranten« vorgehen und dafür sorgen, daß das britische Sozialsystem für Ausländer keine »weichen Kissen« mehr zur Verfügung stelle, tönte der Premier bei einer Rede Ende März. Wohnzuschüsse und Gesundheitsversorgung sollen laut Premierminister generell für Migranten beschnitten werden. Seitdem tobt im Lande eine »Ausländerdebatte«. Insbesondere Arbeitsimmigranten aus Osteuropa werden verbal wie eine »Landplage« behandelt, kritisierten jüngst Vertreter der Europäischen Kommission für Menschenrechte.


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