Brief an Merkel: Union besteht auf Vorratsdatenspeicherung

05.11.2011 – In einem Brief an Angela Merkel, Horst Seehofer und Philipp Rösler haben deutsche Unionspolitiker an die Bundesregierung appelliert, die Vorratsdatenspeicherung schnell neu zu regeln.

Brief an Merkel: Union besteht auf VorratsdatenspeicherungDas Bundesverfassungsgericht hatte die anlasslose Speicherung von Kommunikations- und Verkehrsdaten im März 2010 verboten. Befürworter begründen ihre Forderung für eine Neuregelung mit einer gravierenden Schutzlücke der inneren Sicherheit.

Die Vorratsdatenspeicherung bilde die Voraussetzung für die Aufklärung von Straftaten und sei im Interesse der Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern unverzichtbar. Außerdem drohen Deutschland bei Nichtumsetzung hohe Strafzahlungen an die EU.

Für die Gegner der Vorratsdatenspeicherung schränkt die anlasslose Datenspeicherung die Bürgerrechte unverhältnismäßig stark ein. Außerdem bringe sie im Hinblick auf die Aufklärungsquote nichts und sei von Straftätern zudem leicht zu umgehen.

Brief an Merkel: Union besteht auf Vorratsdatenspeicherung

Geschichte der Vorratsdatenspeicherung

Seit dem 3. Mai 2006 gilt in der Europäischen Union die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG). Sie verpflichtet die Mitgliedsstaaten zu einheitlichen Regelungen in Bezug auf die Speicherung von Kommunikations- und Verkehrsdaten und wurde am 14. Dezember 2005 mit den Stimmen von Christdemokraten und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament beschlossen. Zwischen der ersten Vorstellung des Entwurfes und der abschließenden Lesung lagen nur drei Monate. Kritiker bemängeln bei diesem bisher schnellsten Gesetzgebungsverfahren in der Geschichte der EU die fehlende Debattiermöglichkeit.

Am 9. November 2007 beschloss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Union und der SPD das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Nach Zustimmung durch den Bundesrat (30. November 2007) und Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten Horst Köhler (26. Dezember 2007) trat das Gesetz am 1. Januar 2008 in Kraft.

Am 2. März 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und die entsprechenden Vorschriften für nichtig.

Seit dem Urteil ist innerhalb der Regierungskoalition eine Debatte über die Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung entbrannt. Während die Union auf einer Wiedereinführung unter geringfügigen Änderungen besteht, lehnt die FDP die verdachtslose Speicherung der Kommunikations- und Verkehrsdaten aller Bürger ab. Als Alternative schlägt sie das sogenannte „Quick Freeze Verfahren“ vor, bei dem entsprechende Daten, ausschließlich im Verdachtsfall, für kurze Zeit gespeichert werden.

Die Union befürwortet die Vorratsdatenspeicherung uneingeschränkt. Die SPD ist grundsätzlich für die anlasslose Speicherung von Kommunikations- und Verkehrsdaten, spricht sich jedoch für höhere Hürden und Sicherheitsmaßstäbe aus. Die FDP, die Grünen, DIE LINKE und die PIRATEN lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab.

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Ein Brief an die Bundesregierung

Mit einem Schreiben haben sich deutsche Unionspolitiker an Bundeskanzlerin Merkel, FDP-Chef Rösler und den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer gewandt. Im Namen von Hans-Peter Uhl (CSU), Wolfgang Bosbach (CDU), Günter Krings (CDU) und Manfred Weber (CSU) fordert der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) die kurzfristige Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland.

Die Verfasser sprechen von einer „gravierenden Schutzlücke“ in der inneren Sicherheit, die nicht länger hingenommen werden könne und beklagen, dass durch die fehlende Neuregelung „zahlreiche Straftaten nicht aufgeklärt werden“. Als Beispiele werden die Deliktfelder Kinderpornografie, organisierte Kriminalität und Terrorismus genannt.

Darüber hinaus machen die Innenpolitiker darauf aufmerksam, dass die Bundesregierung vor dem Europäischen Gerichtshof „wegen Nichtumsetzung der Richtlinie verklagt und letztendlich zu Strafzahlungen verurteilt werden“ kann.

In einem Interview mit der ZEIT vom 25. Oktober 2011 hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sein Bedauern über den emotionalen Umgang mit der Vorratsdatenspeicherung ausgedrückt. Er kritisiert, dass der Eindruck erzeugt wird, es „würden von jedem verdachtsunabhängig Daten erhoben“ und beschreibt die geplante Speicherung so:

Im Grunde geht es darum, die Verbindungsdaten, die bei den Anbietern ohnehin etwa zum Zwecke der Abrechnung anfallen, eine Zeitlang zu speichern.“

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Information oder Irreführung?

Hans-Peter Friedrich gilt als entschiedener Anhänger der Vorratsdatenspeicherung und das ist auch sein gutes Recht. Seine Auffassung kann man ihm dabei ebenso wenig zum Vorwurf machen wie das Bestreben, öffentlich für seinen Standpunkt zu argumentieren.

Brief an Merkel: Union besteht auf VorratsdatenspeicherungWenn er gegenüber der ZEIT allerdings davon spricht, dass es sich bei der Vorratsdatenspeicherung lediglich um die Aufbewahrung von Daten handelt, die bei den Anbietern von Kommunikation ohnehin anfallen, dann entspricht das nicht der Wahrheit.

Gemäß Telekommunikationsgesetz (§ 97, Absatz 3) dürfen Telekommunikationsanbieter nur die Verbindungsdaten speichern, von denen die Rechnungshöhe abhängt. Eingehende Verbindungen, Handy-Standortdaten, E-Mail-Verbindungsdaten oder die beim Internet-Surfen genutzte Kundenkennung (IP-Adresse) dürfen dagegen nicht gespeichert werden. Bei Pauschaltarifen (flatrates) dürfen keinerlei Verbindungsdaten erhoben und aufbewahrt werden, weil dies zur Abrechnung nicht erforderlich ist

Wenn der Minister zusätzlich kritisiert, dass in der Öffentlichkeit der verkehrte Eindruck erzeugt wird, die Vorratsdatenspeicherung würde von jedem verdachtsunabhängige Daten erheben, dann handelt es sich zumindest um eine Irreführung. Was Friedrich hier als unsachliche und emotionale Einschätzung kolportiert, entspricht in Wirklichkeit der tatsächlichen Zielsetzung der Vorratsdatenspeicherung: Die Verkehrs- und Verbindungsdaten aller Bürger sollen ohne Verdacht, richterliche Anordnung oder Ermittlungsverfahren grundsätzlich für sechs Monate gespeichert werden.

Angesichts seiner Äußerungen muss man dem Innenminister eine Fehlinformation der Öffentlichkeit vorwerfen. Ob dies einem mangelnden technischen und rechtlichen Verständnis geschuldet ist oder ob es sich um eine gezielte Irreführung der Bevölkerung handelt, sei dahingestellt.

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Vorratsdatenspeicherung und Aufklärung

Die Verfechter der Vorratsdatenspeicherung halten die verdachtslose Erhebung, Aufbewahrung und Verarbeitung von Verbindungs- und Verkehrsdaten für unverzichtbar, wenn es um die Aufklärung schwerer Straftaten geht. Durch die mittlerweile erfolgte Einführung der Vorratsdatenspeicherung in vielen europäischen Ländern und durch ihre zeitweilige Nutzung in Deutschland (Januar 2008 bis März 2010) steht empirisch belastbares Material zur Verfügung, das eine Einschätzung ihrer Wirksamkeit erlaubt.

Das Max-Planck-Institut hat im Auftrag des Bundesjustizministeriums eine Studie zur Vorratsdatenspeicherung durchgeführt. Hierbei stellte sich heraus, dass behördliche Abfragen von Verbindungsdaten auch ohne die Vorratsdatenspeicherung in 96 Prozent aller Fälle erfolgreich waren.

Das Bundeskriminalamt kommt in einer Untersuchung aus dem Jahre 2010 zu dem Ergebnis, dass den Ermittlungsbehörden in insgesamt 850 Fällen Verbindungsdaten fehlten. In 479 Fällen konnten die zugrunde liegenden Straftaten nicht aufgeklärt werden. In den anderen Fällen war die Aufklärung entweder unvollständig (157 Fälle) oder erfolgte erst zu einem späteren Zeitpunkt (214 Fälle). In Deutschland werden pro Jahr rund sechs Millionen Straftaten begangen. Geht man von insgesamt 636 Fällen aus, die aufgrund fehlender Vorratsdatenspeicherung nicht oder nicht vollständig aufgeklärt werden können, dann entspricht das einem Anteil von 0,01 Prozent. Keiner dieser Fälle wies dabei einen Bezug zum Terrorismus auf, obwohl dessen Bekämpfung immer als hauptsächlicher Grund für die Vorratsdatenspeicherung genannt wird.

Im Jahr 2007, also vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung, betrug die Aufklärungsquote von Straftaten 55,0 Prozent. Im Jahr 2008, also nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung sank sie leicht auf 54,8 Prozent ab. Ein Zusammenhang zwischen der verdachtslosen Speicherung aller Verbindungs- und Verkehrsdaten und einer höheren Aufklärungsquote ist damit widerlegt.

Auch die Aufklärung der vergleichsweise neuen Internet-Kriminalität konnte von der Vorratsdatenspeicherung nicht profitieren. Die Aufklärungsquote liegt hier ohnehin bei rund 80 Prozent. In den Jahren 2008 und 2009 (mit Vorratsdatenspeicherung) erreichte sie 79,8 Prozent und 75,7 Prozent.

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Terrorismus und organisierte Kriminalität

Zweifellos gehört es zu den Aufgaben des Staates, seine Bürger vor Terrorismus und organisierter Kriminalität zu schützen. Ist die Vorratsdatenspeicherung dazu geeignet, die Vorbereitung schwerer Straftaten oder terroristischer Anschläge frühzeitig zu entdecken oder bereits begangene Straftaten aufzuklären?

Die Antwort lautet nein. Selbst für Menschen ohne jegliche kriminelle Energie ist es sehr einfach, die Überwachungsinstrumente des Staates zu umgehen. So nutzen Kriminelle unregistrierte Prepaid-Handykarten (Ausländische Karten oder ALDI-Talk mit falschem Namen), führen ihre Kommunikation von Internet-Cafés aus, bedienen sich einfacher Technologien zur Verschleierung der IP Adressen ihrer Rechner oder weichen auf andere Kommunikationskanäle, wie die Post oder persönliche Treffen, aus.

Wer sich ernsthaft mit der Planung schwerer Straftaten oder terroristischer Anschläge beschäftigt und genau weiß, welche Speicher- und Kontrollinstrumente Staat und Ermittlungsbehörden einsetzen, der wird akribisch auf den Schutz einer ungestörten Kommunikation achten.

Durch die Vorratsdatenspeicherung häuft der Staat im Ergebnis eine Unmenge privater Daten aller Bürger an und verfehlt dabei das postulierte Ziel. Schwerkriminelle und Terroristen entziehen sich dem staatlichen Zugriff mit Leichtigkeit, während die Privatsphäre und die Freiheit unverdächtiger Menschen einem wirkungslosen Überwachungssystem geopfert wird.

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Der Preis der Freiheit

In Bezug auf mögliche Strafzahlungen an die EU steht ein Betrag in Höhe von jährlich 70 Millionen Euro im Raum. Der „Preis der Freiheit“ beträgt somit pro Bürger und pro Jahr weniger als einen Euro. Verglichen mit den Kosten, die mit der Vorratsdatenspeicherung, der Auswertung und der Verarbeitung der erhobenen Daten einhergehen, nimmt sich diese Strafzahlung ohnehin gering aus.

Brief an Merkel: Union besteht auf VorratsdatenspeicherungPeter Schaar, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, sieht in der geplanten Speicherung sämtlicher Telekommunikations- und Internet-Verbindungsdaten einen „datenschutzrechtlichen Dammbruch“. Im Mai 2008 sagte Schaar in einem Interview mit der Tagesschau:

Eine Sicherheitspolitik, die sich darauf konzentriert, immer mehr Daten anzuhäufen, ist selbst ein Sicherheitsrisiko.“

Wenn sich Deutschland schon den „Luxus“ eines Bundesbeauftragten für den Datenschutz leistet, dann stellt sich die Frage, warum dessen qualifizierte Einschätzung zur Vorratsdatenspeicherung ebenso wenig Beachtung findet, wie die offiziellen Statistiken zur Aufklärung von Straftaten mit und ohne Vorratsdatenspeicherung oder das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010. In der damaligen Urteilsbegründung hieß es unter anderem:

„Hierdurch ist die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.“

Innenminister Hans-Peter Friedrich ist in Deutschland der oberste Hüter der Verfassung. Anstatt Freiheits- und Grundrechte durch Überwachungs- und Kontrollmaßnahme auszuhöhlen, ist es seine gesetzliche Aufgabe, die Verfassung zu schützen und den Bürgerinnen und Bürgern zur Aufrechterhaltung ihrer verbrieften Rechte zu verhelfen.

Weiterführende Informationen:

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) ist ein bundesweiter Zusammenschluss, der sich gegen die ausufernde Überwachung im Allgemeinen und gegen die Vollprotokollierung der Telekommunikation und anderer Verhaltensdaten im Besonderen einsetzt.



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