Brief an Claudio Magris zu seinem großen Roman "Blindlings", den jeder lesen sollte!

Von Schlesak
Endlich wieder etwas anderes, endlich LITERATUR und nicht immer wieder der Stress mit der Securitate und allen Plattheiten und "Beziehungshöllen".
Lieber Claudio Magris,
über Triest und unsere schöne freundschaftliche Begegnung, Ihre Einleitung, Ihre einfühlsam-wissende Moderation, das Gelungene des gemeinsamen Lese-Abends in Triest, das Runde dann durch den Abendessen- und Gesprächs-Abschluss zusammen mit Paola und Alexandra, - alles, habe ich wieder Ihnen zu verdanken: Auch sonst freilich mein literarisches Ankommen in Italien, mit dem „Auschwitzapotheker“ vor allem, und der Vorbereitung von „Transsylwahnien“!
Jetzt aber ist Ihr Roman „Blindlings“ da (Hanser 2007, dtv 2009), auch in mir, in meiner Schreib-Biografie, und verändert diese wieder. Das Buch hat in mir wie ein Stil- Erkenntnisblitz eingeschlagen, und ich bewundere Ihre Intuition, dass Sie mir das Buch unbedingt mitgeben wollten! Es gehört zu mir! Ja genau in diese schmerzhafte Kerbe des historischen Wahnsinns schlägt es rein. Und ich will es auch schnell sagen: Es fällt auf einen so fruchtbaren wartenden Boden, wo die „Rote Hölle“ nun nach dem „Apotheker“ wuchs. Doch gibt es noch eine ganz ungewöhnliche Faszination, einen bisher so nie gesehenen Rahmen
von „Transkommunikation“ und „Reinkarnation“!! (Sie haben ja mein Buch dazu).- Dieses alles verbindet sich und führt, davon bin ich überzeugt: zum vielleicht wichtigsten europäischen (zeitgeschichtlichen) Roman! Zu einer bisher (von mir jedenfalls) nirgends gelesenen absolut notwendigen Stilalchemie heute!
. Es greift auch einem noch ausstehenden, aber so wichtigen neuen Paradigma vor, und sollte als Vorbild einer neuen Geschichtsbetrachtung dienen, die freilich nur von der Literatur (vorgreifend) eingelöst werden kann. Und das haben Sie getan, und sonst in Europa noch niemand.
In Amerika vielleicht Thomas Pynchon, doch bei weitem nicht so überzeugend und auch so eingeschmolzen alles Not Wendige, auch die neue Physik, also LESBAR und überzeugend bei Ihnen!
Von der großen Schönheit vieler Szenen, die mir Glücksgefühle der Berührung beschert haben, so die Meeres- und Walfischszenen, überhaupt das Meer und die Schiffe, die Sturmschilderungen, das ist so STARK, dass es vielleicht nur ein Mensch vom Meere schreiben konnte, oder die Szenen der Hexenverbrennung, überhaupt von den filmischen Schnitten durch alle Epochen, ganz zu schweigen!
Triest! „Blindlings,“ ein neuer aber ganz anderer Joyce oder Conrad. Und durch die Furchtbarkeit tragischer Schicksale entdecke ich auch Parallelen zu Virgil Gheorghiu „25 Uhr“, doch das ist ein viel schwächeres Buch.
Und das alles in einem einzigen Gedankenstrom fast eines Kollektivbewusstseins! Der dichteste Ort des Alls: der menschliche Kopf, hier fast Prototyp oder Phänotyp! Und doch abenteuerlich und spannend. Das ist großartig in diesem Zusammenfinden, und dieses nur, weil da ein geborener Erzähler am Werk ist, einer, der auch „theoretisch“ „Bescheid weiß“ und alles kennt, es aber „vergisst“ und im Erzählen ankommt! Im durchdachten Erzählen und Jetzt des LEBENs aller Zeiten! Kein Zufall, dass die Literatur von Wissenden, auch im Theoretischen und Poietischen Beschlagenen, wie Sie und Eco, erneuert wird, neu gefasst und erfasst wird, als Avantgarde eines kommenden Stils, der ein kommendes Paradigma widerspiegelt Nur, Sie sind im Stil radikaler und wegweisender, doch von der Lesergemeinde, wohl auch von den Kritikern noch nicht erkannt und fassbar. Der Stil ist absolut revolutionär, und setzt neue Maßstäbe, ist so ungewohnt, dass man zuerst einen Schlag erhält, sich das Bewusstsein, die Lese- und Literaturgewohnheit, auch die eines Schreibers wie mir, sich umstellen muss, neu stellen muss!
Aber so geht es; Blindlings ist im Verhältnis zu seiner Bedeutung viel zu wenig bekannt. Und ich schließe mich ein, fühle mich verantwortlich, dass ich „Blindlings“ nicht selbst entdeckt habe!
Die Kollegin Herta Müller erhält für ihre Stilrüschen und ihren „Widerstand“ im längst Vergangenen, den Nobelpreis und nicht Sie. Doch es ist ja noch nicht aller Tage Abend!
Ich möchte so gerne etwas dazu beitragen! Doch meine Kräfte sind schwach. Ich kann vorerst in der großen Presse nur so etwas wie eine Rezension als eine Art „Aufruf“ anbieten, wohl nicht mehr. Höchstens Krüger hilft mit. Leider ist auch das Buch als Taschenbuch schon älter. Und das Original sogar 5 Jahre alt.
Doch eigentlich sollte das überhaupt nicht wichtig sein!
Ich bin nun wohl einer der ersten Autoren, der in Ihnen das Vorbild sieht, und mein nächstes Buch nun ganz in diesem Zeichen angefangen habe.
Indem ich parallel zur „Roten Hölle“, das ja wie der „Apotheker“ in gleicher Struktur auch eine Art Dokumentarroman sein sollte, nun dieses neue Buch über die Securitate und die rote Hölle hinaus schreiben will. Dabei möchte ich den Folterfaden und Gefängnisfaden durch die Qual der Geschichte ziehen, eben auch als „Gedankenstrom“ eines Einzelnen, einer durch das Erlittene zerstörten Seele in der Heilanstalt. Jedoch nun mit Szenen in all den vielen Jahren zum Thema, auch zu Auschwitz, entstandenen und noch unveröffentlichten Texten, so dass mein neues Buch, ich nenne es vorerst „ANGST“, wieder eine Collage zum Thema wird, freilich im Stil völlig verändert!
Lieber Claudio Magris, meinen ganz großen freundschaftlichen Dank für dieses Buch
Und die vielen so wunderbaren Anregungen, die ich durch Sie erhalten habe!
Ganz herzlich
Immer Ihr Dieter Schlesak