Bridlington und die Weisheit der Tupperdose – Englands Ostküste Teil zwei

Die Stadt Bridlington an der Holderness Küste ist ein typisches Beispiel dafür, was den englischen Seebädern zugestoßen ist, als das Reisen in ferne Länder auch in England populär wurde. Einst beliebtes Strandbad für die geschundene Arbeiterklasse aus dem Westen Yorkshires mit steinerner Ufernpromenade und einem berühmten Tanzpalast lockt Bridlington heute niemanden mehr hinterm Ofen hervor. Zügeweise wurden blasse Proletarier seinerzeit ans Meer gekarrt, um sich tagsüber am Strand zu räkeln, prominente Showstars verliehen im abendlichen Unterhaltungsprogramm einen Hauch von Glamour und Weltoffenheit. Von all dem ist heute nicht mehr viel übrig, hungrige Möwen umkreisen die Überbleibsel der einstigen Perle an Yorkshires Ostküste.

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Vom Fischerdorf zum Seebad
Mit der ersten Hoteleröffnung Anfang des 19. Jahrhunderts begann der Aufstieg des kleinen Fischerstädtchens zum beliebten Erholungsresort an der Ostküste. Die Fischerei ist geblieben. Noch heute exportiert Bridlington für mehrere Millionen Pfund im Jahr Schellfisch in die Welt. Von hier aus stechen Hochseeangler in See, spannen Krabbenjäger ihre Netze. Ob Beruf oder Hobby, es wird gefischt, was das Meer so hergibt. Am Hafen reihen sich bunt bemalte Fischkutter aneinander. Gleich daneben eine Werkstatt, in der ältere Modelle in liebevoller Handarbeit einen neuen Anstrich verpasst bekommen. Bei all der Fischerei ist es kein Wunder, dass die Seevögel hier zu den agressivsten Zeitgenossen gehören. Schilder warnen eindringlich vor der bösen Brut, die gierig über Imbissportionen kreist und nach allem hackt, was verzehrbar riecht.

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Behaarte Beine auf dem Teller
Zum Glück ist der Meeresfrüchteimbiss, an dem wir uns ein paar Snacks gönnen wollen, überdacht. Ich probiere ein paar Schrimps, kann mich aber nicht so recht an das wurmartige Äußere gewöhnen und bin nach wenigen Happn abgefrühstückt. Aber auch so vergeht mir der Appetit gewaltig, als ich sehe, was meine englische Familie da in aller Seelenruhe verspeist. Während mein Engländer, der sich nichts aus glibbrigen Tieren macht, in der Ferne an der Reeling lungert, bekomme ich einen Eindruck, wie sich ein Vegetarier fühlen muss, umgeben von knochenspuckenden Fleischfressern. Der Vater zutscht mit Hochgenuss eine essiggetränkte Muschel nach der anderen in seinen Schlund. Frau Mama pult unterdessen das Fleisch aus einer Krabbe. Wie selbstverständlich schichtet sie dabei die dickbehaarten Beine beiseite. Mir wird schlecht. Nicht nur, dass das arme Geschöpf bei lebendigem Leibe totgekocht wurde, es hat sich noch nicht mal die Beine rasieren können. Und da haben wir sie wieder, die Schattenseite der englischen Küche, die Vorliebe für magenverdrehende Speisen.

Das Nahrungsangebot hier in Bridlington ist klar meeresbetont: Meerestiere für die Skrupellosen und Fish and Chips für den Rest. Und das sieht man auch. Die Uferpromenade ist proppenvoll und das wäre sie auch, wenn statt hundert Engländern nur zwei dort sitzen würden, denn die sind so gut genährt, dass das Auge kaum noch freien Meerblick erhaschen kann. Und zwar ausnahmslos!

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Vergnügen für die schmale Börse
Mir scheint als sei das Klientel hier etwas speziell. Ich erblicke unverhältmäßig viele ältere, gehandicapte, pöbelnde oder übergewichtige Menschen. Ein genauerer Blick auf die Häuserfassaden und die zahlreichen Billigläden macht mir klar, die Stadt verfällt. Der einstige Kurort, ein letztes Paradies für die soziale Unterschicht. Ich kann mir nicht helfen, aber ich fühle mich hier nicht sehr wohl. Die Stadt ist ein furchtbarer Rummelplatz, mit Krimskramstischen vollgemölt, von abgewetzter Lebensqualität.

Und doch winkt hier das schnelle Vergnügen zum kleinen Preis. Meine englische Familie will mich ein wenig ärgern und plant hinter meinem Rücken ein Attentat. Eine Fahrt mit dem Speedboot. Mit 300 Kilometern pro Stunde durch die Wellen brechen, einmal Frisur ruiniert für schlappe 2 Pfund.

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Das erquickend gelbe Speedboot. Im Hintergrund das schläfrige Piratenschiff.

Mit Volldampf über die Nordsee
Was die fiesen Briten nicht ahnen, ich liebe Bootsfahren. Ich bin begeistert. Beschwingt hüpfen wir ins knallgelbe Turbogefährt. Mein Engländer und ich in der ersten Reihe. Mama und Papa in der hintersten. Dann düsen wir los. Der Fahrtwind zerrt an uns, ich sehe meinen Kiefer seitlich am Backboard zerschellen. Immer schön festhalten. Ich habe ein breites Grinsen im Gesicht, genieße die Fahrt unter Volldampf. Wir rasen über die Nordsee als gäbe es kein Morgen, mit lautem Tröten hupt uns der irre Fahrer die Ohrmuscheln taub. Der Wind beißt sich in unseren tränenüberströmten Gesichtern fest. Mein Herz rast und ich frage mich, ob mein Hintermann überhaupt was sehen kann oder ob meine Haare sein Gesicht bedecken. Egal, er kann ja was sagen (hihi). Die Fahrt ist einprägsam, aber kurz. Nach gefühlten 10 Minuten rasen wir schon wieder in die Hafeneinfahrt zurück. Der Kapitän scherzt nochmal anständig über die gebeutelten Frisuren der Damen, aber als ich mich umsehe, sind es die Männer, deren Haare punkig in alle Richtungen ragen. Ich sehe aus, wie vorher, naturgemäß zerzaust. Am liebsten würde ich gleich nochmal eine Runde drehen, diesmal aber am Steuer, versteht sich.

Als wir wieder auf dem Pier stehen, drängt sich noch eine Touristenattraktion ins Auge, ein Piratenschiff, das nun Richtung offenes Meer schunkelt. Doch es ertönt weder Kanonengedonner, noch hangelt sich ein einäugiger Freibeuter am Mast entlang. Die Passagiere wirken gelangweilt, hocken mit hängenden Köpfen auf harten Holzpritschen. Da sollte mal einer so pfiffig sein, das Rumfass anzustechen, denke ich und bin etwas angewidert von so viel Stümperei.

Der Mann mit der Tupperdose
Auf dem Pier ist es überraschend warm, wir hocken uns auf die Mauer und begutachten die Fänge der hereinkommenden Fischer. Dann legt unweit ein größerer Vergnügungsdampfer an, heraus purzeln lautstark jede Menge besoffener Briten, allen voran eine pöbelnde Drohne, die mit allem, was sie hat einen Rollstuhlfahrer bedrängt. Als die bunte Truppe abzieht, taucht aus dem Nichts ein alberner Kojak-Verschnitt auf, Glatze, Sonnenbrille, Bierbauch, Kampfhund an der Leine. Mit geschwollener Brust stolziert der Typ den Pier entlang. Sein T-Shirt gibt mir den Rest. Darauf in großen Lettern: “I want to be adored.” (Ich will bewundert werden.) Also beeindruckt bin ich schon mal, von so viel Selbstverblendung.

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Doch unter all den amüsanten Gestalten, die da im verramschten Bridlington auf- und ab promenieren, entdecke ich einen, der dem kompromittierten Ort seine Würde zurückgibt. Als ich tief durchatmend mit geschlossenen Augen an der Piermauer lehne, dringt ein vertrautes Geräusch an mein Ohr. Ein seltsames Zuschnappen, ein Einrasten, ein klickender Plastikverschluss. Ich drehe mich um und entdecke einen Herrn mittleren Alters, der zufrieden seine leere Tupperdose verschließt und sie in einem grünen Einkaufsbeutel verschwinden lässt. Seine Bewegungen sind gleichmäßig, ausgeruht, friedlich. Er umklammert die grüne Tüte, stellt sie behutsam auf seinen Schoß und zaubert einen kleinen Joghurtbecher hervor. Dazu ein kleines Löffelchen. Ich bin fasziniert von der sanften Art, mit der das Männchen seine Mitbringsel verputzt. Sein Blick ruht dabei still auf der See. Nichts und niemand scheint ihn zu interessieren. Es scheint sein Tag zu sein, sein Ort, sein kleines Glück, da auf den sonnigen Steinen zu sitzen, mit seinem grünen Beutel, dem seligen Ausdruck auf seinem Gesicht.

Ich sehe ihn später noch einmal, wie er die Straße entlangschlendert, immer noch ganz mit sich allein, genügsam, den grünen Beutel fest im Griff. Ich bleibe stehen und blicke ihm etwas wehmütig nach. Der Mann mit dem grünen Beutel hat mir, ohne es zu wissen, ein wunderbares Geschenk gemacht. Dank ihm begreife ich jetzt, wie schön es ist, an einem Ort wirklich zu Hause zu sein.



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